Offener Brief an Afghanistan-Veteranen

Nach 20 Jahren Rückkehr der Taliban an die Macht – War alles umsonst und sinnlos? Persönliches Schreiben von Winfried Nachtwei

Liebe Afghanistan-Veteranen, liebe Afghanistan-Praktiker:innen von Auswärtigem Amt, Bundeswehr, Entwicklungszusammenarbeit und Polizei,

erlauben Sie, dass ich Sie anspreche. Als Mitglied des Bundestages und des Verteidigungs-ausschusses von 1994 bis 2009 war ich an den 20 ersten Mandatsentscheidungen zum Afghanistaneinsatz beteiligt. Seitdem bin ich dem militärischen wie zivilen Einsatz, den dorthin entsandten Frauen und Männern und dem Land ganz besonders verbunden. Wie der internationale Einsatz endete und die Taliban wieder die Macht ergreifen konnten, schmerzt mich zutiefst und ist der härteste Tiefschlag, den ich bisher bei meinem politischen Engagement erlebt habe.

Ende Juni verließen die letzten Bundeswehrsoldaten von Resolute Support Camp Marmal und Afghanistan, bis Ende August auch die letzten zivilen Mitarbeiter:innen. Veranlasst durch zwei US-Präsidenten musste der Einsatz nach fast 20 Jahren bedingungslos und überhastet regelrecht abgebrochen werden – ohne dass der Gesamtauftrag von Stabilisierung und mehr Sicherheit erfüllt war, im Gegenteil.

Nach einem Juni, der der blutigste Monat seit 2002 war, gewannen die Taliban in den ersten Julitagen die Kontrolle über immer mehr Distrikte, besonders schnell im Nordosten. Nach heftigen Kämpfen eroberten sie am 8. August die Provinzhauptstädte Kunduz, Taloqan und Sar-i-Pul, am 11. August den Flughafen von Kunduz und das Hauptquartier des 217. Pamir Corps. Am selben Tag zogen sich die afghanischen Sicherheitskräfte aus den Zentren der Provinzen Badakhshan und Baghlan zurück. Für viele von Ihnen sind das alles vertraute Namen. Am 14. August fiel Mazar-i Sharif. Neun Tage nach Einnahme der ersten Provinzstadt rückten die Taliban ohne jede Gegenwehr in die Hauptstadt Kabul ein. Die afghanische Regierung und Sicherheitskräfte waren kollabiert. Auch wenn die internationalen Truppen rechtzeitig und wohlbehalten in ihre Heimat zurückkehrten – die NATO als das stärkste Militärbündnis der Welt erlebte mit der – vor allem westlichen – Staatengemeinschaft das Scheitern ihres größten, teuersten und opferreichsten Kriseneinsatzes.

Fast 20 Jahre waren Frauen und Männer der Bundeswehr, der Auswärtigen Amtes, der Entwicklungszusammenarbeit, der Polizei in Afghanistan im Einsatz, haben Entbehrungen, Strapazen, Risiken für Leib und Leben auf sich genommen. Viele haben Kameradschaft wie nie erlebt, haben gekämpft, wurden verwundet, haben Kameraden verloren. Im Auftrag von Bundesregierung und Parlament sollten Sie dazu beitragen, ein Land zu stabilisieren, sicherer zu machen und aufzubauen, das bis 2001 Rückzugsraum für internationale Terrorgruppen und durch 23 Kriegsjahre zerrüttet war. Das machte eigentlich Sinn. Und völlig richtig war der Vorsatz in der deutschen politischen wie militärischen Führung wie bei etlichen anderen Verbündeten, ja nicht Besatzer werden zu wollen und die afghanische Übergangsregierung auf dem schwierigen Weg zu mehr Sicherheit und Frieden zu unterstützen, sie nicht zu bevormunden.

In Ihren Einsätzen haben Sie Erfolge, Fortschritte, ja Dankbarkeit erlebt, die Soldaten vor allem in den ersten Jahren und nach den großen Anstrengungen von 2010/11, aber auch fürchterliche Anschläge, Rückschläge, Enttäuschungen. Viele Bilder und Erinnerungen tragen Sie in sich, schöne und schlimme, die sich oft eingebrannt haben. Ich erinnere mich lebhaft an die vielen hoffnungsvollen Begegnungen mit im besten Sinne starken Menschen, an die faszinierende Landschaft, an die vielen Warn-Berichte, die seit 2006 verpufften, an die endlos vielen bad news von Anschlägen, an die vielen Trauerfeiern für gefallene Soldaten,

Jetzt sind alle internationalen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Die Dauerforderung der Parteien ganz links und rechts im Bundestag ist in Erfüllung gegangen. Zu wessen Nutzen?

Jetzt sind die Taliban, die in ihrem Krieg gegen Regierungskräfte und internationale Truppen zahllose Zivilpersonen ermordet hatten, wieder an der Macht. Das ist ein historisches Scheitern und zum Verzweifeln, vor allem für viele Menschen in Afghanistan, insbesondere den weiblichen Teil der Bevölkerung. Das ist ein Tiefschlag und zutiefst verstörend für alle Afghanistan-Rückkehrer und –Veteranen. Ganz besonders für diejenigen, die dort verwundet wurden, für hinterbliebene Angehörige und Kameraden. Das deprimiert, macht wütend, reißt Wunden auf. Etliche Einsatz-Praktiker:innen erinnern sich mit Zorn daran, wie oft warnende Berichte zur Lageentwicklung in Berlin ungehört verhallten.

Verschärft wird der Schmerz über die große Niederlage durch die Art des internationalen Abzuges: Denn im Stich gelassen wurden sehenden Auges

  • bisherige verbündete Soldaten und Polizisten, die ohne zentrale internationale Unter-stützungen gegenüber den Taliban nicht überlebensfähig waren,
  • Ortskräfte, ohne die die Internationalen taub, stumm und nicht handlungsfähig gewesen wären, die verlässlich und oft gute Kameraden gewesen waren,
  • Partner und Menschen, die das Versprechen des Westens von Menschenrechten und Demokratie geglaubt und darauf gesetzt hätten.

Für zivile und insbesondere militärische Einsatzkräfte wie für kollektive Sicherheit und Bündnisse ist Verlässlichkeit ein fundamentaler Grundwert. Ohne ihn gibt es keinen Zusammenhalt, keine Kameradschaft, keinen Einsatzwillen, keine sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit. Mit dem multinationalen Im-Stich-Lassen wurde dieser Grundwert ins Mark getroffen. Die Folgen für die internationale Sicherheit wie für die Einsatzmotivation am Boden ist noch gar nicht absehbar

Umso wichtiger war im Chaos um den Kabuler Flughafen, dass auf die Evakuierungstruppe der Bundeswehr und ihre AA- und Polizeikollegen vor Ort voll Verlass war.

War aller Einsatz, alle Anstrengung umsonst und sinnlos?

Nach nicht nur meiner Erfahrung lag das große Scheitern ausdrücklich nicht am „Bodenpersonal“ der entsandten Soldaten, Entwicklungsexperten, Diplomaten und Polizisten. Sehr vielen deutschen Einsatzkräften bin ich bei 20 Afghanistanbesuchen und in Deutschland begegnet. Ich habe sie hochschätzen gelernt.

Sie haben im Rahmen des grundsätzlich legitimen und sinnvollen, wenn auch zu wenig klaren Gesamtauftrages ihre Aufträge mit Herzblut und Mut, viel fachlicher und interkultureller Kompetenz erfüllt. Das machte Sinn, Menschen Hoffnungen und ermöglichte Fortschritte. Für diese Leistungen verdienen die Afghanistan-Rückkehrer:innen Interesse, Anerkennung und Dank!

Sie, Ihre Angehörigen, Bekannten, die Gesellschaft insgesamt können stolz auf Ihre Einsatzleistungen sein.

Dass es nicht gereicht hat, dass zentrale strategische Ziele wie nachhaltige Terrorbekämpfung, sichereres Umfeld, verlässliche Staatlichkeit verfehlt wurden, lag an identifizierbaren Gründen – an innerafghanischen, an destruktiven Nachbarn, an Großfehlern der (westlichen) Staatengemeinschaft.

Jenseits Ihrer Einflussmöglichkeiten lag(en)

  • der oft krasse Mangel an Landeskenntnis und Konfliktverständnis bei vielen Führenden des Einsatzes, die Selbstüberschätzung überlegener Militärmacht und die Unterschätzung der Stärken der Taliban,
  • der Vorrang von Bündnisloyalitäten und innenpolitischer Opportunitäten vor Wirkungs-orientierung,
  • der Mangel an gemeinsamer Strategie, strategischer Geduld und Koordination zwischen zahllosen Akteuren,
  • der immer wieder zutage tretende strategische Dissens und Zielkonflikte zwischen „War on Terror“ und Staatsaufbau, die Bevorzugung
  • die enorme Unterschätzung von Friedenskonsolidierung in einem so fragmentierten Land,
  • verbreitete Machbarkeitsillusionen und Schönrednerei, die notorische Verweigerung von Wirkungsuntersuchungen,
  • die verspätete Aufnahme von Verhandlungen usw. usw.

Nach meinen langjährigen Beobachtungen sehe ich den Knackpunkt des gescheiterten Gesamteinsatzes, des Einsatzes im Großen in einem kollektiven politischen Führungsversagen in vielen Hauptstädten, angefangen in Washington, Kabul und Islamabad, mehr oder weniger hingenommen oder mitgetragen in Berlin und anderen Hauptstädten, auch wenn man sich hier beim Einsatz um mehr Bevölkerungsnähe bemühte.

Angesichts der enormen Häufung von Krisen und Konflikten seit mehr als zehn Jahren verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass Politik und Staatenwelt in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit mit einer so komplexen Herausforderung wie Terrorbekämpfung und Staatsaufbau in einem so komplexen Land wie Afghanistan strukturell überfordert war.

Sie, die Afghanistan-Veteranen und Einsatz-Praktiker:innen leisteten ihren Einsatz im Rahmen des völkerrechtlich und demokratisch legitimierten, grundsätzlich richtigen Gesamtauftrages der Abwehr terroristischer Bedrohungen und der Konsolidierung eines kriegszerrütteten Landes. Das war grundlegend verschieden z.B. von einem Einsatz im Irakkrieg 2003, an dem sich Deutschland nicht beteiligte.

Hätte Deutschland den am 11. September 2001 terroristisch angegriffenen USA nicht praktische Solidarität beweisen sollen? Hätte man Al Qaida und Afghanistan als Rückzugsraum terroristischer Netzwerke in Ruhe lassen und Afghanistan nach 23 Kriegsjahren beim Aufbau sich selbst überlassen sollen?

Der Sinn Ihres Einsatzes wird dadurch überschattet, aber nicht geschmälert, dass bei der Umsetzung des Gesamtauftrages gravierende Fehler vor allem auf höchsten Ebenen gemacht, zentrale strategische Ziele verfehlt wurden und darüber der Gesamteinsatz scheiterte.

Ob Ihr Einsatz Sinn gemacht hat, hängt entscheidend davon ab, was und wie Sie zur Erfüllung Ihres konkreten Auftrages beigetragen haben, dass sich Ihre Kameraden und Vorgesetzten auf Sie verlassen konnten, dass Sie mit der afghanischen Bevölkerung anständig umgegangen sind. (Im Mai 2007 fragte ich in einer Koranschule in Kunduz Koranschüler, wie sie die deutschen Soldaten fänden. „Die verhalten sich anständig“ war die Antwort.)

So kennen wir das doch auch aus dem Arbeits- und Privatleben allgemein, wo ausschlaggebend ist, wie wir an unserem Platz mit unseren Möglichkeiten eine sinnvolle Aufgabe erfüllen, wie wir uns gemeinsam mit Kollegen, Kameraden, Angehörigen anstrengen. Und das macht nicht erst dann Sinn, wenn es auch mit unserem Betrieb, unserer Schule, Stadt, dem ganzen Land voran geht. Und bei vielen Aufgaben, gar beim Handeln ins Ungewisse gibt es ganz und gar keine Erfolgsgarantie.

Völlig ungewiss ist zzt. ob die Taliban die Zeit ganz zurückdrehen oder ob was von den gesellschaftlichen Öffnungen und Fortschritten der letzten 20 Jahre bleibt.

Wo der Afghanistaneinsatz so immense Summen gekostet und Abertausende Opfer gefordert hat, wo jetzt die Leistungen so vieler Menschen zunichte gemacht und Hoffnungen zerstört wurden, da ist es das Allermindeste, jetzt bestmöglich zu LERNEN:

  • indem die Afghanistan-Veteranen und Praktiker:innen mit ihren Erfahrungen hörbar zu Wort kommen und Gesellschaft wie Politik sich nach Jahren des freundlichen Desinteresses für diese Erfahrungen interessieren, sie nicht weiter allein lassen;
  • indem die deutschen militärischen wie zivilen Beiträge zum multinationalen Afghanistaneinsatz unabhängig sowie ressort- und akteursübergreifend auf ihre Wirksamkeit und (auch ungewollten) Wirkungen analysiert werden.

Eine solche selbstkritische Evaluation darf nicht auf Verfahren, Projekte und Programme beschränkt bleiben, sondern muss insbesondere auch die politisch-strategische Ebene ab 2001 mit in den Blick nehmen. Denn dort wurden die Aufträge formuliert, die Fähigkeiten und Ressourcen bereitgestellt, die Einsätze kontrolliert und nachgesteuert. Bevor es dabei zu dem beliebten Karussell der Schuldzuweisungen kommt, wäre es angebracht, wenn alle Akteure von Afghanistanpolitik und –einsatz in Deutschland auch mal vor der eigenen Tür kehren würden. Wichtige Startfehler geschahen zur Zeit „meiner“ rot-grünen Koalition.

Eine solche Einsatzauswertung muss in Empfehlungen für eine wirksamere Einsatzpolitik münden – in Verantwortung für die Menschen eines Einsatzlandes, für die entsandten Frauen und Männer, für die internationale gemeinsame Sicherheit und für die Steuerzahler.

Massenweise sind in Afghanistan in den letzten Wochen Hoffnungen erloschen und Ängste gewachsen. Aber immer noch gibt es Hoffnungsinseln vom Afghanischen Frauenverein, vom Freundeskreis Afghanistan, von der Kinderhilfe Afghanistan u.a. Diese sind in der örtlichen Bevölkerung voll verankert, leisten seit vielen Jahren Phantastisches, arbeiten auch jetzt noch. Solche Hoffnungsinseln dürfen jetzt nicht auch noch im Stich gelassen werden. Sie dürfen nicht vertrocknen! (Die Adressen sind schnell im Internet zu finden)

Ihnen wünsche ich genügend Menschen auf der Arbeit und im Privaten, mit denen Sie über Ihre Afghanistan-Erfahrungen und –Erschütterungen gut sprechen können. Und mögen Sie die Kraft behalten, sich trotz alledem weiter für Mitmenschen, für mehr menschliche Sicherheit und Frieden einzusetzen.

 

Mit kräftigem Dank und in herzlicher Verbundenheit

Ihr

Mitglied im Beirat Innere Führung/AG „Einsatzrückkehrer“, im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, im Vorstand von „Lachen helfen“, im Team der Villigster Afghanistan-Tagung

 

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