„Nie wieder – nie mehr allein“ (Interview-Auszug)

Perspektiven auf den Vernichtungskrieg. Interview zum 80. Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht in die Sowjetunion


Das Interview mit Winfried Nachtwei erschien im Mitgliedermagazin von „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ Nr. 108, S. 14 ff., (Auszug)

Nachtwei: „(…) Bei mir ist aus diesen Erfahrungen das Motto entstanden: bei der Erinnerungsarbeit immer die  „die Leiden der anderen“ mit in den Blick nehmen.“

Und was ergibt sich daraus mit Blick auf die heutige Friedens- und Sicherheitspolitik?

Nachtwei: „Die zentrale Lehre ist in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eine andere als bei uns. In Deutschland ist das allgemeine „Nie wieder!“ als Losung vorherrschend, was auch völlig richtig ist. Für unsere östlichen Nachbarn ist ein drittes „Nie wieder“ elementar:  „Nie mehr wehrlos und allein sein!“ Das hat natürlich politische Konsequenzen.

Wie tatsächlichen Friedensbedrohungen und drohender Massengewalt begegnet werden kann,  spielt  im deutschen Diskurs noch immer eine verhältnismäßig geringe Rolle. Ich sehe das vor allem bei dem Grundsatz der sogenannten Schutzverantwortung gegenüber schwersten Menschenrechtsverbrechen wie Völkermord. In den vergangenen Jahren  habe ich die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland und seine Verbündeten in Fragen der operativen Verhinderung von Massengewalt  wenig Handlungsfähigkeit entwickelt haben.“

 Wir haben es international derzeit mit vielen Krisenherden zu tun, in denen die Zivilbevölkerung massiv betroffen ist oder sogar gezielt ins Visier genommen wird. Gibt es Wege, dagegen präventiv vorzugehen?

Nachtwei: „Ja. Als Erstes muss man an Schätze erinnern, die wir seit 1945 haben! Mit den Vereinten Nationen und der europäischen Integration wurden  ein Normensystem und Handlungsrahmen geschaffen. Die UN-Charta verfolgt dabei eine Doppelstrategie: die internationalen Beziehungen gemeinsam  konstruktiv gestalten  und gemeinsam gegen Störer des Friedens vorgehen.

Außerdem sollten wir uns die 1930er Jahre anschauen. Die meisten Länder waren durch den Ersten Weltkrieg traumatisiert und wollten unter keinen Umständen einen weiteren Krieg. Das galt auch für die Westmächte. Leider ging das einher mit einem Wunschdenken gegenüber Hitler-Deutschland, dessen eigentlich offenkundiges Bedrohungspotential von vielen Regierungen ignoriert wurde.  Daher sind realistische Bedrohungs- und Chancen-analysen friedens- und sicherheitspolitisch elementar.

Ein zweiter Befund aus den 1930er Jahren ist die Vernachlässigung des Gemeinsamen. Ein Bewusstsein für eine gemeinsame, kollektive Sicherheit gab es damals in den Köpfen  viel zu wenig. Das ist heute anders. Das Bewusstsein ist häufig da, aber in der Praxis schwierig umzusetzen. Immer noch passiert es zu oft, dass die Staatengemeinschaft von Gewalteska-lationen überrascht wird, obwohl die Richtung absehbar war.

Dass Krisenprävention und -früherkennung gelingen kann, haben wir vor genau 20 Jahren in Mazedonien gesehen. Ich habe damals selbst mitbekommen, wie die Staatengemeinschaft früh und erfolgreich politischen Druck ausgeübt und einen  drohenden Bürgerkrieg verhindert hat. Aber wer erinnert sich noch daran? Prävention bleibt häufig unsichtbar. (…)“

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