Waffenlieferungen an die angegriffene Ukraine: Überlebenshilfe

Stellungnahme von Winfried Nachtwei zum Kurswechsel der Bundesregierung vor der Sondersitzung des Bundestages am 27.02.2022 für Annalena Baerbock, Robert Habeck und die Spitzen der der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen

Seit den 1980er Jahren arbeite ich zu Kriegsverhütung, Abrüstung, (vor allem ziviler) Krisenprävention und Krisenbewältigung, aber auch zum deutschen Vernichtungskrieg und der Vorkriegsgeschichte. Vor diesem Hintergrund stelle ich fest:

Die Bundesregierung hat am dritten Kriegstag einen Kurswechsel beschlossen.

Ab sofort erhält die Ukraine aus Bundeswehrbeständen 1.000 Panzerabwehrwaffen, 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“. Freigegeben wird der Export von 400 Panzerfäusten aus den Niederlanden und Artilleriegeschützen (aus NVA-Altbeständen) aus Estland.

Die Lieferung der o.g. Waffen an die Ukraine steht in Übereinstimmung mit der UN-Charta und den Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung, die ausdrücklich den Fall des Artikels 51 der VN-Charta (Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff) von dem Verbot der Lieferung von Kriegswaffen in Spannungs- und Konfliktgebiete ausnimmt.  Sie ist angesichts des von Präsident Putin befohlenen Angriffskrieges gegen die Ukraine und des eklatanten Bruchs von Völkerrecht und europäischer Friedensordnung auch dringend geboten.

Wer betont, „wir stehen unverbrüchlich an eurer Seite“, kann nicht länger den Angegriffenen dringende Mittel der Selbstverteidigung verweigern.

Die jetzt zugesagten Waffenkategorien sind bedeutsam für die Verteidigungsfähigkeit der unterlegenen Angegriffenen. Sie sind Überlebenshilfe gegenüber einem Aggressor, der sich nicht einmal an das humanitäre Völkerrecht (Kriegsvölkerrecht) hält.

Zu Recht heißt es, der Angriff auf die Ukraine betreffe Europa und die Staatengemeinschaft insgesamt. Unser eminentes gemeinsames Sicherheitsinteresse ist es, diesen andauernden Völkerrechtsbruch mit aller Kraft zu stoppen und zum Frieden zurückzukehren.

Gegenüber den Vorwochen hat sich herausgestellt: Die Kriegsentschlossenheit des russischen Präsidenten, seine Dialogverachtung und seine tatsächlichen Kriegsziele wurden unterschätzt, nicht zuletzt von deutscher Politik und Öffentlichkeit. Richtig war dennoch, neben Geschlossenheit und Sanktionsandrohungen bis zuletzt auf Diplomatie zu setzen. Inzwischen hat sich die Lage grundlegend geändert.

Die Einwirkungsmöglichkeiten der Staatengemeinschaft sind mehrfach eingeschränkt:

  • Der UN-Sicherheitsrat als zentraler Ort der internationalen Friedenssicherung ist durch das Veto Russlands blockiert. Ein ersatzweises Tätigwerden der UN-Generalversammlung wird angestrebt, soll die internationale Isolation des Angreifers voranbringen, wird aber den Kriegsverlauf nicht schnell beeinflussen können.
  • Ein völkerrechtlich möglicher, unmittelbarer militärischer Beistand würde zu einer direkten Konfrontation der beiden größten Atommächte führen – mit dem Extremrisiko eines Weltenbrandes.
  • Auch harte Wirtschafts- und Finanzsanktionen werden nicht kurzfristig, bestenfalls mittelfristig, vielleicht erst langfristig wirken.

Die legale ukrainische Regierung, ihre Streitkräfte und Abertausende Bürger:innen nehmen seit Tagen ihr laut UN-Charta „naturgegebenes Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ wahr. Wo sie sich unter großen Opfern – auch stellvertretend für die Staatengemeinschaft – gegen den Völkerrechtsbruch zur Wehr setzen und versuchen ihn zu stoppen, haben sie im Geiste von gemeinsamer Sicherheit einen moralischen Anspruch auf so viel Beistand wie eben möglich. Wo direkter militärischer Beistand nicht möglich ist (anders sind die Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Hackergruppen), muss zumindest materiell die Selbstverteidigung unterstützt werden.

Dies auch jetzt noch zu verweigern und es bei 5.000 Helmen zu belassen, wäre eine Hohn und Unterlassung möglicher Hilfeleistung. Es hieße, Angegriffene im Stich zu lassen. Zu Recht würde das bei Verbündeten großes Misstrauen gegenüber der Verlässlichkeit und Bündnisfähigkeit des wirtschaftlich stärksten europäischen Landes hervorrufen. Es wäre ein Beleg dafür, dass die historische Schlüsselerfahrung der europäischen Nachbarn „Nie mehr wehrlos, nie mehr allein“ bei den Nachkommen der deutschen Europazerstörer nicht angekommen ist.

Teile der traditionellen Friedensbewegung (so auf einer Kundgebung von DFG-VK, Pax Christi u.a. in Münster am 26. Februar) verurteilen nur kurz den russischen Angriff als Völkerrechtsbruch, sprechen dann aber schnell von den russischen Sicherheitsinteressen, die die NATO übergangen hätte, und verlieren kein Wort zu den Bedrohungserfahrungen und Sicherheitsinteressen der Anrainer Russlands. Kein Wort in der Regel von den Zielen des russischen Präsidenten, keine weitere „Farbenrevolution“ zuzulassen, jeden weiteren demokratischen Aufbruch zu ersticken, das verlorene Imperium wiederherzustellen und das verachtete demokratische Europa zu schwächen. Waffenexporte in die Ukraine seien weiter verwerflich, die Vorne-Stationierung von NATO-Truppen in den östlichen Mitgliedsstaaten ein Beitrag zur Eskalation. Die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) verteilte bei dieser Kundgebung Flugblätter mit der Erklärung ihres Parteivorstandes, in denen die NATO für die Eskalation verantwortlich gemacht und behauptet wurde, die Regierung der Ukraine führe seit acht Jahren Krieg gegen die Menschen im Donbass. Gefordert wurde der Abzug der Bundeswehr aus allen Ländern östlich der Bundesrepublik, der Stopp der Sanktionspolitik, raus aus der NATO, keine Unterstützung des „nationalistischen ukrainischen Regimes“.

Ein Blick in die Geschichte und ihre „Lehrern“

Der Grundsatz der deutschen Rüstungsexportrichtlinien in den letzten zwei Jahrzehnten, keine Waffen in Spannungs- und Krisengebiete zu exportieren, wurde in der politischen Praxis oftmals gebrochen, war angesichts der vorherrschenden innerstaatlichen Gewaltkonflikte und Kriege nichtsdestoweniger völlig berechtigt und notwendig. Kein Öl ins Feuer!

Allerdings gab es Ausnahmen, die auch von der Grünen Fraktion ausdrücklich mitgetragen wurden: Zurzeit der rot-grünen Koalition wurden 2004 zwanzig unbewaffnete gepanzerte Fuchs-Mannschaftstransportern in den Irak geliefert (für die irakischen Polizei- und Objektschutzkräfte). In anderen Konfliktländern erhielten UN-Missionen geschützte Fahrzeuge aus Deutschland. Israel erhielt richtigerweise Patriot-Luftabwehrraketen (Die Lieferung moderner U-Boote war wg. ihrer Nuklearfähigkeit zwischen SPD und Grünen strittig und deshalb bis 2005 blockiert).

Aus der Geschichte des deutschen Angriffskrieges gegen die europäischen Nachbarn lässt sich eine generelle Absage an Rüstungsexporte in Krisenregionen keineswegs ableiten, im Gegenteil: Am 18. Februar 1941 verabschiedete der US-Kongress das Leih- und Pachtgesetz (Lend-Lease Act, offiziell An Act to Promote the Defense of the United States). Es ermöglichte den Vereinigten Staaten, kriegswichtiges Material wie Waffen, Munition, Fahrzeuge, Treibstoffe, Nahrungsmittel, Flugzeuge etc. an die gegen die Achsenmächte Deutschland, Italien, Japan kämpfenden Staaten zu liefern.

Großbritannien, die UdSSR, China und viele andere Staaten erhielten aufgrund des Leih- und Pachtgesetzes Güter in einem Gesamtwert von knapp 50 Milliarden US-Dollar. Ohne diese gigantischen Rüstungslieferungen wären die anderen Alliierten wohl kaum in der Lage gewesen, sich gegenüber der stärksten Angriffsstreitmacht der Weltgeschichte durchzusetzen und Europa und Deutschland vom Naziterror zu befreien.

UN-Charta Artikel 51

aus Kapitel VII – Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen

Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung von 2000

„(…)

7. Die Lieferung von Kriegswaffen und kriegswaffennahen sonstigen Rüstungsgütern wird nicht genehmigt in Länder,
– die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche
droht,
– in denen ein Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen droht oder bestehende Spannungen und Konflikte durch den Export ausgelöst, aufrechterhalten oder verschärft würden.

Lieferungen an Länder, die sich in bewaffneten äußeren Konflikten befinden oder bei denen eine Gefahr für den Ausbruch solcher Konflikte besteht, scheiden deshalb grundsätzlich aus, sofern nicht ein Fall des Artikels 51 der VN-Charta vorliegt.“

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