Kommentar: Zum Aufruf „Die Waffen nieder“

Der Aufruf wurde unter anderem in der taz vom 02.03.2022 veröffentlicht.

„(1) Die Verurteilung des russischen Angriffs ist eine scharfe Worthülse. Kein Wort zu den lügenhaften Begründungen (Genozid im Donbass, ‚Entnazufizierung der Marionetten-regierung in Kiew‘), zur Aberkennung des nationalen Existenzrechts der Ukraine, zu den imperialen Absichten gegenüber den ehemaligen Mitgliedsstaaten des Sowjetblocks.

(2) Der Aufruf sieht beim Westen eine wesentliche Mitverantwortung für die Eskalation. Dass auf westlicher Seite gegenüber Russland erhebliche Fehler gemacht wurden, ist nicht zu bestreiten. Zugleich ist es völlig verkürzt, hier nur von berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands zu sprechen und die historischen Bedrohungserfahrungen und Sicherheitsinteressen der baltischen Staaten und Polens völlig außer Acht zu lassen. Estland, Lettland, Litauen, die 1940 und 1944 von der Sowjetunion besetzt und unterdrückt wurden und seit etlichen Jahren hybrid attackiert werden. Polen, das seit 1772 mehrfach von seinen großen Nachbarn geteilt wurde, zuletzt 1939 im Hitler-Stalin-Pakt

Und wenn nur von berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands die Rede ist: Ist damit etwa auch das treibende Machtinteresse Putins gemeint, seit der Orange Revolution in der Ukraine (ab 2004) jeden weiteren demokratischen Aufbruch in und um Russland herum zu ersticken? Oder sein ausdrückliches. imperiale Interesse, die “größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Putin 2005), den Zusammenbruch der Sowjetunion, unter russischen Vorzeichen wieder rückgängig zu machen?

Das völlig richtige Ansinnen, sich in die Sichtweise „der anderen“ zu versetzen und sie so besser zu verstehen, wird hier nur eindimensional praktiziert. De facto signalisiert es überaus großes Verständnis für einen Autokraten, der Menschenrechte, liberale Demokratie und das demokratische Europa verachtet und zurück zum Imperium will.

Das Narrativ von der angeblichen Zusage westlicher Vertreter 1990/91, es gebe keine NATO-Erweiterung nach Osten, ist verbreitet, aber sehr umstritten – und im Widerspruch zum Grundsatz der freien Bündniswahl, das 1997 in der NATO-Russland-Grundakte vertraglich fixiert wurde.

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(3) Die Forderung an die Ukraine, den militärischen Widerstand aufzugeben, ist konsequent pazifistisch. Wo sich jetzt Ukrainer unbewaffnet russischen Panzern und Soldaten entgegenstellen, ist das bewundernswert mutig. Dies aber generell von einem Volk und Staat zu fordern, ignoriert die Schutzpflicht eines Staates gegenüber seinen Bürger:innen und das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ gemäß Artikel 51 VN-Charta. Es ignoriert die traumatische Schlüsselerfahrung der von Nazideutschland überfallenen Völker, nach verheerenden Angriffs- und Verteidigungskriegen nie mehr wehrlos und nie mehr allein sein zu wollen. In der Ukraine hat die Kriegsgeneration in schlimmster Weise erfahren, was alles folgen kann, wenn man gegenüber einem zu allem entschlossenen Angreifer wehrlos ist. Den Menschen in der Ukraine zu empfehlen, als generelle Alternative „zivilen Widerstand gemäß dem Konzept der Sozialen Verteidigung“ anzukündigen (ihn nicht nur als Option unter bestimmten Bedingungen zu praktizieren und zu unterstützen), ist angesichts der harten Repression in Russland und Belarus völlig realitätsfern und besserwisserisch.

Mit einer solchen Grundeinstellung hätte es eine Befreiung Europas vom Naziterror nie gegeben.

(4) Frieden und Sicherheit lassen sich nur gemeinsam bewahren, sichern und wiederher-stellen. Ein Dreh- und Angelpunkt gemeinsamer staatlicher Friedenssicherung ist die (grundsätzliche) gegenseitige Beistandsverpflichtung, wenn Frieden und Sicherheit bedroht sind und soweit dies leistbar und verantwortbar ist. Diese fundamentale Regel der gemeinsamen internationalen Friedenssicherung prägt die VN-Charta. Wenn im Fall eines bewaffneten Angriffs direkter militärischer Beistand nicht möglich ist (wie jetzt gegenüber einer Atommacht), dann besteht zumindest die moralische Pflicht, die Überfallenen so zu unterstützen, dass sie sich selbst verteidigen können. Alles andere wäre unterlassene Überlebenshilfe.

Wenn die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Dritten Reiches weiterhin den Nachkommen der ukrainischen Überfallenen und Ermordeten und den Nachkommen der ukrainischen Befreier diese Überlebenshilfe verweigert hätte, wäre das ein absolutes moralisches Versagen gewesen. Die Verbündeten hätten dann zu Recht der Bündnisverlässlichkeit Deutschlands insgesamt misstraut. Mit anderen Worten: Mit der Kursänderung vom 3. Kriegstag sind wir knapp an „unserm München“ vorbeigeschrammt.

Wie gesagt: In der Friedens- und Sicherheitspolitik ist es elementar, sich in die Perspektive der anderen zu versetzen. Wenn man sich mal nicht in die Perspektive des Angreifers, sondern die seiner Opfer versetzt, dann drängt sich der Eindruck auf, dass der Aufruf aus deren Sicht sicher nicht als Solidaritätsbotschaft, sondern als verharmlosend, apologetisch und entmutigend empfunden wird.

Unter den Unterzeichner:innen des Aufrufs sind einige, die ich über viele Jahre als praktizierende und glaubwürdige Pazifistinnen und Pazifisten sehr schätzen gelernt habe. Die russische Kriegführung hält sich, wie in Tschetschenien, wie in Syrien, mit der Bombardierung von Wohnvierteln und ziviler Infrastruktur systematisch nicht an das humanitäre Völkerrecht.

Bedenkt bitte, ob Ihr Euren Aufruf so noch aufrechterhalten könnt.“

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