Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und zivile Krisenprävention

Beim Politikfeld zivile Krisenprävention & Friedensförderung lag seit 20 Jahren der Fokus auf innerstaatlichen Gewaltkonflikten. Seit dem 24. Februar wütet in Europa ein zwischenstaatlicher Krieg, wie die allermeisten ihn auf unserer Stabilitätsinsel nicht mehr für möglich gehalten hätten.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und zivile Krisenprävention

Winfried Nachtwei (21.03.2022)

Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und ihre Eigenstaatlichkeit, seine systematisch gegen Zivilbevölkerung gerichteten Kriegführung und die Androhung eines Atomwaffeneinsatzes erschüttern die europäische und weltweite Friedens- und Sicherheitsordnung in einem seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht bekannten Maße. Als eine Veto- und Atommacht führt Russland einen Angriffskrieg gegen einen großen Nachbarn und kann zugleich Maßnahmen der UN-Friedenssicherung blockieren sowie internationalen Beistand für die sich Verteidigenden und die bombardierte Zivilbevölkerung behindern.

Vorherige intensive Spitzendiplomatie stieß an ihre Grenzen.

Der 77-jährige zwischenstaatliche Frieden in Europa ist zerbrochen, die Stabilitätsinsel Europa erschüttert und bedroht. Eskalationen des Krieges erscheinen wahrscheinlich, eine Ausweitung von Kriegshandlung auf andere Länder ist keineswegs auszuschließen.

Auftrag Kriegsverhütung + Friedensförderung: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Balkankriegen der 1990er Jahre wuchs in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik das Politikfeld der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung. Abgeleitet aus dem Friedensauftrag des Grundgesetzes und der VN-Charta erklärte die Bundesregierung 2017 in ihren Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“:

„Deutschland bekennt sich zu der besonderen Verantwortung, die ihm aus seiner Geschichte erwächst. Die Vermeidung von Krieg und Gewalt in den internationalen Beziehungen, das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für bedrohte Minderheiten sowie für die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung gehören zur deutschen Staatsraison.“ (S. 47)

Anschließend werden die im Weißbuch 2016 formulierten strategischen Interessen Deutschlands zitiert:

– „Schutz der Bürgerinnen und Bürger und die Bewahrung der Souveränität und territorialen Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten. (…) Schutz und Verteidigung unserer offenen Gesellschaften gegen Bedrohungen wie Terrorismus, hybride Gefahren und menschenverachtende Ideologien. (…)

– Aufrechterhaltung und Mitgestaltung einer regelbasierten Ordnung. Dies beinhaltet in erster Linie die Achtung und Durchsetzung des Völkerrechts. (…)

 Verlässlichkeit innerhalb der kollektiven Sicherheitssysteme auf Ebene der VN, der EU, der OSZE und der NATO. (…) Auf der Grundlage gemeinsamer werte steht Deutschland zur Solidarität zwischen Bündnispartnern und wird diesen bei der Bewältigung von Herausforderungen zur Seite stehen. (…)“ (S. 48 f.)

Danach widmen sich die Leitlinien aber der Seite von Friedens- und Sicherheitspolitik, die auch im Fokus des Politikfeldes zivile Krisenprävention und seiner vielen zivilgesell-schaftlichen Akteure seit mehr als 20 Jahren steht: Fragile Staatlichkeit, innerstaatliche, ggfs. internationalisierte Konflikte:

Zwischenstaatliche Konflikte im Sinne einer direkten Konfrontation zwischen souveränen Staaten sind seltener geworden. Stattdessen spielen sich gewalttätige Auseinandersetzungen heute zumeist innerhalb der Grenzen eines Staates ab und sind von Kämpfen nichtstaatliche bewaffneter Gruppierungen gegeneinander und gegen die Regierung geprägt.“ (Leitlinien S. 23)

Die Möglichkeit zwischenstaatlicher Konflikte und Kriege geriet dabei vielfach in Vergessenheit. Die russische Annexion der Krim und der verdeckte Krieg in der Ostukraine seit 2014 wurden relativ wenig wahr- und ernstgenommen. Relativ viel Verständnis gab es in Teilen der deutschen Gesellschaft, der friedenspolitischen Community und verbliebenen Friedensbewegung für eine russische Politik, die angesichts ihrer „berechtigten Sicherheitsinteressen“ angeblich nur auf die NATO-Osterweiterung reagiert habe. Hellsichtige Warner blieben Rufer in der Wüste.

Böses Erwachen: Der Angriffskrieg seit dem 24. Februar brachte ein böses Erwachen. Der Völkerrechtsbruch (VN-Charta, Schlussakte von Helsinki, Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte) war unzweifelhaft. Ebenso eindeutig war jetzt das Völkerrecht der nationalen Selbstverteidigung (Art. 51 VN-Charta), die erste Ausnahme vom internationalen Gewaltverbot, das die Ukraine jetzt für sich in Anspruch nahm.

Angesichts dieser Eindeutigkeiten und der Rückkehr von Aggressionskrieg, Selbstvertei-digung, Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung in die europäische Gegenwart kamen eingefahrene Wahrnehmungsmuster und Weltbilder ins Schleudern, manche Illusionen zerplatzten:

– Das Bild, in Europa seien wir von Freunden und Partnern umgeben, ist nicht zerstört, hat aber einen tiefen Riss bekommen. Die Vorstellung, Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung seien in Europa kurz- und mittelfristig nicht mehr aktuell, dominierte über viele Jahre auch auf den Ebenen Bundesregierung und Bundestag, auch bei mir.

– Verstörend ist die Tatsache, dass die Ukraine durch ihren vollständigen Verzicht auf die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen 1994 (und die nicht realisierten Sicherheits-garantien von USA, Großbritannien und Russland) schutzlos und angreifbar wurde und dass dem Angegriffenen nicht militärisch beigestanden werden kann, weil der Angreifer über Atomwaffen verfügt. Mit anderen Worten. Die einseitige vollständige nukleare Abrüstung trug erheblich dazu bei, dass Krieg gegen die Ukraine möglich wurde. Und für NATO-Skeptiker und –Gegner müsste die Erkenntnis sehr irritierend sein, dass Polen und die baltischen Staaten ohne ihre NATO-Mitgliedschaft höchstwahrscheinlich in Putins Visier gewesen wären.

– Die Vorstellung von „Wandel durch Handel, Verflechtung und Annäherung“, die zu anderen Zeiten wirksam sein kann, ist gegenüber Putin-Russland zerschellt.

– In nicht unerheblichen Teilen der friedenspolitischen Community und ZKB-„Verwandt-schaft“ war nach meiner Beobachtung eine Denkweise verbreitet, wo das Risiko von mächtigen Aggressoren, die auf militärische Lösungen im Sinne ihrer Interessen setzen und Frieden durch  Dialog verachten, praktisch ignoriert wurde (außer im Hinblick auf Washington). Manche zivilgesellschaftlichen Friedensakteure erweckten den Eindruck, als lasse sich Frieden ausschließlich mit zivilen Mitteln und zivilem Widerstand sichern und wiedererstellen. (So besonders deutlich bei der Kampagne und dem Konzept von  „Sicherheit neu denken“ aus der Evangelischen Landeskirche Baden)

– Oft geht diese Denkweise einher mit einer pauschalen Markierung von Militärausgaben als Aufrüstung und Militarisierung, als friedensgefährdend, gar Kriegstreiberei. Durchweg außer Acht gelassen wird dabei, welche enorme Abrüstung es seit den 1990er Jahren in Deutschland (Reduzierung um 4.700 Kampfpanzer auf 300) und bei anderen europäischen Verbündeten gegeben hat. Zur Zeit der Kanzlerschaft von Willy Brandt und seiner neuen Ostpolitik lag der deutsche Wehretat bei bei 3,6-4% des BIP.

– Inzwischen haben deutsche und europäische Politik  es mit einer extremen Häufung von Großkrisen zu tun, von denen Deutschland und Europa jeweils sehr dicht betroffen sind: (a) Ukrainekrieg mit Eskalationsmöglichkeiten, gigantische Flüchtlingszahlen und verschärfte globale Nahrungsmittelkrise, (b) die seit zwei Jahren andauernde Pandemie mit erheblichen Begleitschäden, (c) vor sieben Monate das strategische Scheitern in Afghanistan und weltweit größte humanitäre Katastrophe, (d) Mali/Westafrika, (e) Klimakrise, (f) Artensterben. Für die mediale Wahrnehmung und Bevölkerung ist das eine ständige Überforderung. Politik hat da keine Vertagungsmöglichkeiten und muss das Krisen-Multitasking schaffen.

NIE WIEDER – Härtetest: Oberstes Ziel von Krisenprävention und Friedensförderung ist, zum Schutz vor Massengewalt, zur Gewalt- und Kriegsverhinderung, also auch der Beendigung von Kriegsgewalt, und zur friedlichen Konfliktbearbeitung beizutragen, operativ und strukturell.

Mir ist bewusst, dass im laufenden bewaffneten Konflikt die Wirkungsmöglichkeiten von – insbesondere nur ziviler – Konfliktbearbeitung sehr eingeschränkt sind. Aber es gibt welche.

Die Träger und Praktiker der zivilen Krisenprävention können auf folgenden Feldern Beiträge leisten:

Genaueres Hinsehen bei den historischen Kontexten und Kollektiverfahrungen, mehr Verständnis für die Angegriffenen und ihren Selbstbehauptungswillen. Wenn hierzulande von „berechtigten Sicherheitsinteressen“ die Rede ist, dann fast nur in Bezug auf Russland, fast nie in Bezug auf die Staaten zwischen Russland und Deutschland, ihre Teilungs- und Okkupationserfahrungen. Das „Nie wieder!“ wird gerade in diesen Ländern weiter buchstabiert: „Nie wieder wehrlos, nie wieder allein!“

Viel zu wenig ist in Deutschland bewusst, wie ab Juni 1941 die deutsche Wehrmacht mit den Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD in der westlichen Sowjetunion wüteten. Allein in der Ukraine fielen dem deutschen Vernichtungskrieg acht Millionen Menschen, darunter fünf Millionen Zivilisten und 1,5 Millionen jüdische Menschen zum Opfer,  ein Viertel der Bevölkerung. Bei Kiew gerieten über 600.000 Sowjetsoldaten in deutsche Gefangenschaft, in der binnen fünf Monaten weit mehr als die Hälfte starb. Mehr als eine Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Am 24.10.1941 meldete die Ortskommandantur der Wehrmacht in Mariupol, der SD habe 8.000 Juden exekutiert – eines von zahllosen Massakern in der Ukraine.

Die Nachkommen der deutschen Kriegsgeneration stehen gegenüber der überfallenen Ukraine in ganz besonderer Unterstützungspflicht.

Das Völkerrecht vollständig ernstnehmen: Das Recht der nationalen Selbstverteidigung ist eine zentrale Voraussetzung, damit das internationale Gewaltverbot überhaupt akzeptiert werden kann. Das Verständnis von gemeinsamer und kollektiver Sicherheit hat die grundsätzliche Beistandsverpflichtung gegenüber Friedensstörern als notwendige Voraussetzung. Brüchen des Völkerrechts nicht entgegenzutreten, zersetzt das Völkerrecht. Positionen, die prinzipiell ausschließlich nichtmilitärische Reaktionen von der Bundesregierung fordern, sprengen den Rahmen der VN-Charta und votieren de facto auch für die Abschaffung des Art. 87a Grundgesetz (Aufstellung von Streitkräften zur Verteidigung). Nach dieser Denkweise wäre auch die Befreiung Europas und Deutschlands 1945 vom Naziterror illegitim und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen.

Schutz der Zivilbevölkerung vor Massengewalt: Wenn Staaten nicht in der Lage oder Willens sind, ihre Bevölkerung vor Massengewalt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, steht die Staatengemeinschaft in einer Schutzverantwortung (responsibility to protect). In den Leitlinien „Krisen verhindern“ der Bundesregierung heißt es, „das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen (…) gehören zur deutschen Staatsraison“. Wo die russischen Angreifer systematisch Wohngebiete und zivile Infrastruktur bombardieren, also massenhaft Kriegsverbrechen begehen, steht die Schutzverantwortung auf der Tagesordnung. Durch die Blockade des Sicherheitsrates und die Drohung mit einer Extremeskalation kann das Putin-Regime aber eine Umsetzung der Schutzverantwortung verhindern.

Geschlossene politische Unterstützung der Sanktionen und anderen indirekten Beistandsmaß-nahmen: Überlebens- und Verteidigungshilfe für die bombardierten, beschossenen und belagerten Menschen in der Ukraine und ihren in seine Existenz bedrohten Staat. Das so entschlossen und umfassend wie möglich – und dabei nicht verantwortbare Eskalationsrisiken vermeiden. Mögliche Eskalationsszenarien (hybride Großangriffe, Beschuss von NATO-Territorium, Einsatz von ABC-Waffen in der Ukraine, AKW-Treffer) müssen regierungsintern auf dem Schirm sein.

Stabilisierung gefährdeter anderer Konfliktgebiete: Georgien, Moldawien, Baltikum gelten als durch Putins Expansionismus besonders gefährdet. Diese Länder brauchen internationale politische wie gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Unterstützung. Wachsamkeit geboten ist auch auf dem westlichen Balkan und in anderen Konfliktregionen, wo russische Einflussnahme destabilisieren kann.

Die enorm engagierte ukrainische Zivilgesellschaft unterstützen: Die vielfältigen Initiativen aus der ukrainischen Zivilgesellschaft zum Überleben im Krieg, zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, von zivilem Widerstand und zur konstruktiven Bearbeitung von Konflikten sind elementare Beiträge zur längerfristigen Befriedung der Situation. (vgl. Presseerklärung des Konsortium Ziviler Friedensdienst „Ukrainische ZFD-Partnerorganisationen weiter aktiv“,     , https://www.agiamondo.de/detail/ukrainische-zfd-partnerorganisationen-weiter-aktiv/ )

Informationsraum: Massiv sind die russischen Desinformationskampagnen, die abgewehrt und gekontert werden müssen, ohne dabei in umgekehrte Propaganda zu verfallen.

Grenz- und lagerüberschreitende Brücken: Kultureller und wissenschaftlicher Austausch mit Russland ist vielfach ausgesetzt, Städtepartnerschaften sind unter Druck, auch die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge („Versöhnung über den Gräbern“). Trotzdem ist es enorm wichtig, zivilgesellschaftliche Brücken aufrecht zu erhalten, die sowieso schon große Entfremdung, zum Teil Verfeindung nicht weiter anwachsen zu lassen.

Dazu gehört Engagement gegen jede Stigmatisierung russischsprachiger Menschen in Deutschland.

Verteidigungsfähigkeit: Die überraschende Ankündigung des Sondervermögens Bundeswehr von 100 Mrd. Euro und eines alljährlichen Verteidigungsetats von über 2% des BIP durch Bundeskanzler Scholz am vierten Kriegstag wirkte international als Zeicen deutscher Entschlossenheit und bestimmte viele nachfolgende Diskussionen. Unberücksichtigt blieb dabei oft, dass die angekündigte starke Erhöhung der deutschen Militärausgaben kaum bis keine Wirkungen auf den Kriegsverlauf der nächsten Wochen und Monate haben wird. Vorsicht also, sich wieder einmal schnell in einen selbstbezogenen Diskurs festzubeißen.

Selbstverständlich lässt sich über die Größenordnung des Sondervermögens streiten. Damit der Streit aber sicherheitspolitisch konstruktiv verläuft und nicht in Reflexen steckenbleibt, sind wesentliche Schlüsselfragen zu klären:

– zur Akzeptanz des verfassungsrechtlichen Verteidigungsauftrages,

– zum Stand der realen Einsatzbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr,

– zum für die Wiederherstellung von Verteidigungsfähigkeit notwendigen Ausrüstungsbedarf,

– zum bisher dysfunktionalen Beschaffungswesen der Bundeswehr.

Wenn von den acht Brigaden des Heeres zzt. keine vollausgestattet ist und Einsatzfähigkeit nur über einen monatelangen Prozess der Ausrüstungs-„Fernleihe“ erreicht werden kann, dann ist ein erheblicher Anschaffungsbedarf unbestreitbar. (Die Vollaussstattung einer Brigade kostet rund 3,5 Mrd. Euro.)

Umfassender Sicherheitsbegriff: Völlig verfehlt wäre, wenn die Wiederherstellung von Verteidigungsfähigkeit in eine fast nur noch militärische Sicherheitspolitik münden würde. Das über die letzten Jahrzehnte entwickelte Verständnis von umfassender Sicherheit, also einschließlich Resilienz, Cyber-, Energie und menschliche Sicherheit und Krisenprävention, muss weiteentwickelt und mit ausgewogenen Kapazitäten und Fähigkeiten unterlegt werden. Gerade deshalb kündigt der aktuelle Koalitionsvertrag die Erarbeitung „ziviler Planziele“ für Krisenprävention und Friedensförderung an. Wenn jetzt der Etat des BMZ für 2022 um 1,6 Mrd. Euro gekürzt werden soll, dann läuft das der Ankündigung, Fähigkeiten zur internationalen Verantwortung umfassend zu stärken, diametral zuwider. Der Ansatz des Comprehensive Approach, des vernetzten Handelns für gemeinsame operative Ziele ist nicht überholt, im Gegenteil.

Selbstbesinnung: (a) Krisenfrüherkennung: Die Großkrisen der letzten Jahre kamen – trotz vorhandener Warnungen – „überraschend“: der Großangriff vom 24. Februar, der Absturz Afghanistans, die Flutkatastrophe, die Pandemie. Was war mit den Strukturen der Krisenfrühwarnung, die inzwischen aufgebaut wurden, was mit Strategischer Vorausschau? In seinem Aufsatz „Zukunftsforschung Osteuropa“ legte Andreas Heinemann-Grüder dar (Osteuropa 1-2/2020), wie sehr in Deutschland die Osteuropaforschung nach Ende des Ost-West-Konfliktes abgewickelt worden war. Schon die Ukraine-Krise 2014 war für die deutsche Osteuropa-Experten völlig überraschend gekommen.

Ich beobachte seit vielen Jahren in der Breite de Politik eine große Verdrängungsbereitschaft gegenüber Worst-Case-Szenarien, die wohl in der engeren Fach-Community bekannt sind und geübt werden – und da dann aber auch hängenbleiben.

(b) Bewegung für Frieden in der Ukraine: Die Hunderttausenden Demonstranten in Deutschland gegen Putins Angriffskrieg waren ein großes Zeichen der Solidarität mit der angegriffenen Ukraine. Dieses gesellschaftliche Engagement ist auch ein wichtiger Rückenwind für die solidarische Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge.

Bei einem Teil der aufrufenden Organisationen fiel aber auf, dass nach einer deutlichen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges die Verkündigung traditioneller Gewissheiten im Vordergrund stand und nicht selten der Eindruck entstand, als sei die NATO mit- bis hauptverantwortlich für den Krieg, als ließe sich der Krieg ohne Beistand für die Ukrainer und allein durch Verhandlungen lösen, als sei jetzt die Aufstockung des deutschen Militäretats die Hauptgefahr. Vergessen gemacht wird dabei meistens, dass viele dieser Gruppen jahrelang die Putin`sche Politik verharmlost und Kriegswarnungen als „Kriegshysterie“ abgetan hatten.

Bei einzelnen praktizierend-pazifistischen Gruppen sehe ich die Gefahr, dass sie mit der Art mancher Stellungnahmen (Äquidistanz gegenüber Angreifern und Angegriffenen, Aufruf zu ausschließlich zivilem Widerstand) die kollektiven Okkupationserfahrungen in der Ukraine verkennen und ihr wichtiges Anliegen, der Gewaltfreiheit Gehör zu verschaffen, eher beschädigen. Die Menschen im besetzten Cherson, die gegen die russischen Soldaten demonstrierten, sind bewundernswert mutig. Sie können vielleicht auch bei einzelnen Soldaten Zweifel wecken. Aber sie erleben mit den Eingekesselten von Mariupol und anderswo die völlige Wirkungslosigkeit von Gewaltfreiheit gegenüber Distanzbeschuss durch Raketen, Marschflugköper, Bomben und Granaten und gegenüber einer entfesselten Soldateska.

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