Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung – Deutscher Vernichtungskrieg in der Ukraine 1941-43 und russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt

Beim Ukraine-Diskurs hierzulande bleiben die kollektiven historischen Erfahrungen der Ukraine oft unberücksichtigt. Hier Schlaglichter zum deutschen Vernichtungskrieg mir Münsterbezügen:

Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung – Deutscher Vernichtungskrieg in der Ukraine 1941-43 und russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt

Winfried Nachtwei (11.04.2022), Vorstandsmitglied von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“

Die breite Widerstandskraft der ukrainische Streitkräfte und Bevölkerung gegen die russischen Angreifer hat hierzulande viele sehr überrascht, auch Militärexperten.

Die Ablehnung von deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine wird oft mit „historischer Verantwortung“ begründet.

Pazifistische Teile von Friedensbewegung fordern unter der Losung „Die Waffen nieder!“ die ukrainische Bevölkerung zu ausschließlich zivilem Widerstand auf.

Beim deutschen Diskurs zum Ukrainekrieg fällt das geringe bis fehlende Verständnis für die kollektiven historischen Erfahrungen der ukrainischen Bevölkerung auf.

Wem ist schon bewusst, dass die ukrainische Nationalbewegung  eine lange, ins 19. Jahrhundert reichende  Tradition hat.

Wem im Westen ist der Holodomor bekannt, der Anfang der 1930er Jahre durch die stalinistische Zwangskollektivierung befeuerten Hungersnot, der rund vier Millionen Menschen zum Opfer fielen?

Und jahrzehntelang war der deutsche Vernichtungskrieg und Holocaust in der Ukraine zwischen 1941 und 1944 im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und ihre Bürger regelrecht „unsichtbar“.

Vernichtungskrieg in der Ukraine

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion mit 81 Infanterie-Divisionen, 17 Panzer- und 15 mot. Divisionen, 9 Polizei- und Sicherungsdivisionen, mit 3.350 Panzern und über 2.000 Flugzeugen, insgesamt 3.050.000 deutsche Soldaten (mit verbündeten Armeen sogar vier Millionen). Es war die größte Angriffsstreitmacht der Weltgeschichte.

Die Heeresgruppe Süd (998.000 Soldaten, 962 Panzer, 969 Flugzeuge) griff südlich der Pripjet-Sümpfe den Großraum der heutigen Ukraine mit den strategischen Zielen Dnjepr, Kiew, Donezbecken an. Zur HG Süd gehörten die 6., 17. und 11. Armee sowie der Panzergruppe 1 (u.a. mit der im Wehrkreis VI aufgestellten 16. Panzerdivision aus Münster/Westfalen).

Den Fronttruppen der Wehrmacht folgten unmittelbar die Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD: Die Einsatzgruppe C mit den Sonderkommandos 4a, 4b und den Einsatzkommandos 5 und 6 (insgesamt rund 700 Mann) der Heeresgruppe Süd in der nördlichen und mittleren Ukraine, die Einsatzgruppe D (10a, 10b, 11, a, 11b, 12, insgesamt rund 600) der 11. Armee der Heeresgruppe Süd in die südliche Ukraine.

Kriegsstationen der 16. Panzer-Division:

– Am 24. Juni 1941 überschritt die 16. Panzer-Division die sowjetische Grenze bei Sokal-Krystinopol am Bug.

Uman-Kessel, August 1941, 15 sowjetische Divisionen vernichtet, 100.000 Gefangene.

Eroberung von Nikolajew am Schwarzen Meer, 16./17. August 1941,  durch die 16. Panzer-Division

Kesselschlacht bei Kiew, September 1941: „Das XI. Korps trieb die Russen von Südwesten her der 16. Pz.Div. vor die Rohre. (…) Die Kompanien umgingen keine Ortschaften mehr; sie säuberten Dorf für Dorf.“ Nach der Schließung des Kessels am 24. 9.: „Insgesamt wurden 51 russische Divisionen vernichtet, 665.000 Gefangene eingebracht.“ (Wolfgang Werthen,: Geschichte der 16. Panzer-Division 1939-1945, Bad Nauheim (Podzun) 1958, S. 65 ff.)

Schlacht am Asowschen Meer, September/Oktober 1941, 100.000 Gefangene.

– Schlacht um Rostow, November 1941, erstmaliger Rückzug auf breiter Front.

Mius-Stellung: Kompanien der Division umfassen durchschnittlich noch 40 Mann, 50% der Gefechtsfahrzeuge ausgefallen. Das Regiment 64 hatte seit 22.6. 1.662 Ausfälle, 406 Tote, 1.232 Verwundete, 34 Vermisste.

Charkow-Kessel, Mai 1942,: allein 31.500 Gefangene durch die 16. Panzer-Division, eigene Verluste 700 Mann, insgesamt 240.000 Gefangene. Die Division gehört jetzt zur 6. Armee.

Kämpfe am Großen Donbogen; Juli 1942, Panzerschlacht von Kalatsch: 8.300 sowjetische Gefangene, 275 Panzer zerstört. Von 13.000 Soldaten der sowjetischen 181. Schützendivision können nur 105 über den Don entkommen. „1.000 Panzer waren der Division seit dem 22. VI. 41 zum Opfer gefallen.“ (Werthen 1958, S. 104)

„Bis zum Februar 1942 waren von den etwa 3,3 Millionen sowjetische Soldaten, die bis dahin  in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, rund zwei Millionen gestorben – verhungert, erfroren, von Seuchen hingerafft und erschossen.“ (Reinhard Rürup (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin 1991, S. 108) Von den insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg starben bis 1945 über drei Millionen.

Sommeroffensive 1942, Vorstoß nach Stalingrad: Überquerung des Don, 23. August als erste Wehrmachtdivision an der Wolga (nördlich Stalingrad). Schon Mitte November lagen die Leichen von über 4.000 Soldaten der Division auf dem Divisionsfriedhof an der Bahnstrecke Nord-Stalingrad – Frolow. 128 Divisionsangehörige kehrten nach Jahren der Gefangenschaft wieder in die Heimat zurück.

„Holocaust durch Kugeln“ in der Ukraine

(Quelle: Boris Zabarko – Margret Müller – Werner Müller (Hrg.), Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse von Überlebenden, Berlin 2019)

„Bis zur Perestroika war das Thema Holocaust in der Sowjetunion ein Tabu. Auf allen Mahnmalen aus jener Zeit war immer nur zu lesen, dass dort friedliche Sowjetbürger von den Faschisten ermordet wurden, ohne Hinweise darauf, dass es sich um Juden handelte.“ (S. 24)

Das Militär hatte die kleinen motorisierten Tötungseinheiten der Einsatzgruppen mit Quartier, Treibstoff, Lebensmittel, und ggfs. Funkverbindungen zu versorgen. Die Kommandos operierten im Frontgebiet in „einzigartiger Partnerschaft mit der Wehrmacht“. (S. 58)

„Vor dem Einmarsch in die Sowjetunion hatten alle Einsatzgruppen die Weisung erhalten, unauffällig großangelegte Ausschreitungen der Bevölkerung gegen Juden zu „inspirieren“.  (…) In den ersten zwei Wochen des Feldzuges kam es in der Westukraine nahezu  flächendeckend zu antijüdischen Pogromen mit brutalsten Massenmorden. (…) Eine Schlüsselrolle spielten hierbei die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die von ihr aufgestellten Milizen. (…)“ (S. 58)

„Um möglichst viele Städte möglichst rasch zu erreichen, folgten die Einsatzgruppen den vorrückenden Truppenverbänden auf den Fersen und riegelten die großen jüdischen Wohngebiete ab, ehe den Opfern überhaupt bewusst wurde, welche Gefahr ihnen drohte. Bei der Einnahme von Shitomir fuhren z.B. unmittelbar hinter den ersten Panzern drei Wagen des Einsatzkommandos 4a und rückten in die Stadt ein.“

Orte der größten Massenerschießungen auf dem Gebiet der Ukraine (Auswahl) (Reichskommissariat Ukraine, Distrikt Galizien, Transnistrien, Ostukraine unter dt. Militärverwaltung; von 26 Oblasten mit ihren Gebietshauptstädten und rund 100 Bezirken, insgesamt weit mehr als 600 Orte der Vernichtung)

1941, 5.Juli, Gebietshauptstadt Lemberg (Lwiw): Erschießung von etwa 2.000 männlichen Juden in einem Waldgebiet außerhalb der Stadt durch die Einsatzkommandos 5 und 6. Am 25.-27. Juli ermordeten pro-deutsch-ukrainische Nationalisten etwa 2.000 bis 3.000 Juden (Petljura-Pogrom). Bei der Umsiedlung von 80.000 Juden in das Ghetto der Stadt im Dezember Ermordung von 5.000 alten und kranken Menschen. Ab 19. März Deportation von etwa 15.000 Juden in das Vernichtungslager Belzec, im August von weiteren 40.000 Juden nach Belzec. Nach der Umwandlung des Ghettos im Januar 1943 in ein sog. „Judenlager“ Erschießung von 15.000 bis 20.000 Juden in den Sandgruben Piaski.

Im September 1941 war auf einem Fabrikgelände das sog. Janowskalager errichtet worden. Im Mai 1943 wurden 2.000 Gefangene ermordet, um Platz für die Deportierten des „Judenlagers“ zu schaffen. Insgesamt dürften im Janowskalager 35.000-40.000 Juden ermordet worden sein.

Im Gebiet (Oblast) Lemberg lebten zur Zeit des deutschen Überfalls etwa 260.000 Juden.

Die direkt am Bug liegende Stadt Sokal wurde am 22. Juni von Truppen der Panzergruppe 1 (darin der 16. Panzer-Division), besetzt. Die Hälfte der Einwohnerschaft waren Juden. „Schon am 22. Juni wählten Offiziere der ersten deutschen Truppen , die nach Sokal kamen, unter den Juden elf Personen aus, misshandelten sie und erschossen sie anschließend an der Wand der römisch-katholischen Kirche. Dies waren die ersten Opfer der Shoah in der Ukraine. In 12 Städten des Gebiets wurden Ghettos errichtet.“ (S. 73)

Während der deutschen Besatzung in der Zeit von 1941 bis 1944 wurden im Gebiet Lemberg insgesamt 215.000 einheimische Juden ermordet. Ungefähr 117.000 Juden wurden in die Vernichtungslager, hauptsächlich Belzec, deportiert und dort ermordet.“ (S. 73).

1941, 9. Juli Beginn der Judenerschießungen im Gebiet (Oblast) Shitomir: im Juli 3.000, im August 10.000, im September ungefähr 27.000, im Oktober 5.500 und im November 3.000. Von 1941-1944 wurden insgesamt 55.000 Juden aus 135 Städten, Siedlungen und Dörfern erschossen.  5.000 Juden erschossen. In der Gebietshauptstadt Shitomir wurden im Juli und August etwa 2.000 Juden durch das Sonderkommando 4a unter SS-Standartenführer Paul Blobel ermordet, laut anderen Quellen 5.000.  Am 19. September erschoss das Sonderkommando 4a im Bogun Wald außerhalb der Stadt 3.145 Juden, (S. 282)

(Bis Januar 1942 ermordete das Sonderkommando 4a unter Blobel ca. 60.000 Menschen. Ab Juni 1942 führte Blobel die „Sonderaktion 1005“, mit der sämtliche Spuren der Massenmorde der Einsatzgruppen restlos beseitigt werden sollten. Vgl. Andrej Angrick, „Aktion 1005“, Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942-1945, Göttingen 2018; zur Ukraine S. 341 ff.) )

1941, August  in Kamenez-Podolski 23.600 Juden erschossen durch ein Kommando des Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russland Süd Friedrich Jeckeln unter Mithilfe des Polizeibataillons 320 (erstes Blutbad solchen Ausmaßes)

  1. September in Berditschew 18.600 Juden erschossen durch das Polizeiregiment Süd, Reservepolizeibataillon 45 und die Stabskompanie Friedrich Jeckelns

19./20. September in der Gebietshauptstadt Winniza 15.000 Juden durch eine Einheit des EK 6 zusammen mit den Polizeibataillonen 45 und 314 erschossen. „Am 16. April 1942 wurde in Winniza die letzte große „Aktion“ durchgeführt. (…) 5.000 Alte, Frauen und Kinder wurden (…) zu Fuß oder per Lastwagen zu der Gärtnerei gebracht, auf deren Gelände (…) sieben Monate zuvor bereits 10.000 Menschen ermordet worden waren. (…):

 „In der Anlage klaffte eine große Grube; ein mit Brettern ausgelegter Pfad und ein lächelnder deutsche Offizier , der den Damen sine stützende Hand bot, sollten den Abstieg zum Bodengrund erleichtern. Am Grubenrand saß ein Ukrainer mit seinem Maschinengewehr, rauchte eine Zigarette und ließ die Beine baumeln. In drei Meter Abstand von dieser langgestreckten großen Todesgrube hatten die Deutschen noch eine kleinere, quadratische Grube von vielleicht vier Metern Seitenlänge angelegt. Bei jedem Schub von Opfern, den sie zur großen Grube trieben, verlangten sie die Herausgabe der Kinder. Sie übernahmen die Kleinen, zerrten den Müttern die Babys aus den Armen, stießen, schlugen und brüllten die jammernden Mütter an – und erschlugen oder erschossen dann die Kinder  an der kleinen Grube, während sie mit den Erwachsenen in der großen Grube eine „Sardinenpackung“ machten. (…) So stellten die Deutschen sicher, dass die kleinen Juden, die sonst von ihren Müttern nicht selten mit dem eigenen Leib vor den Kugeln geschützt wurden, tatsächlich tot waren, bevor man die Gruben mit Erde abdeckte. In gleicher Absicht hatten Männer des Einsatzkommandos an jenem Morgen auch das Entbindungsheim von Winniza aufgesucht. Jüdische Mütter, die gerade erst ihr Baby bekommen hatten und noch in den Wehen lagen, wurden in einen Wald geschleppt und erschossen. Die Neugeborenen packten die Männer wie unerwünschten Katzennachwuchs in zwei Jutesäcke und warfen sie aus dem zweiten Stock aus dem Fenster.“ (S. 331 f.)

Im Gebiet (Oblast) Winniza wurden im Juli 850 Juden erschossen, im Juli 3.000 und im September 19.000. Insgesamt betrug die Zahl der jüdischen Todesopfer im Gebiet Winniza 1941 35.020, 1942 stieg die Zahl der ermordeten Juden um 90.000, und 1943 noch einmal um 4.400. (S. 329 ff.)

21.-23. September in Nikolajew (ukr. Mykolajiw) 7.000 Juden erschossen durch das Sonderkommando 11a (Nikolajew wurde am 16. August von der 16. Panzer-Division besetzt, am  17./18.  August rückte das Sonderkommando 11a ein; im Gebiet (Oblast) Nikolajew wurden von Juni bis Dezember 1941 insgesamt 31.100 Juden ermordet, 1942 weitere 8.700.

24./25. September in Cherson 5.000 Juden durch das Sonderkommando 11a erschossen mit Unterstützung des Sonderkommandos 10a und Soldaten der 72. Infanteriedivision

29./30. September in in Kiew (Kyjiw) Babi Jar, 33.771 Juden erschossen durch das Sonderkommando 4a, unterstützt durch das dem HSSPF Friedrich Jeckeln unterstehende Polizeibataillon 303 und einheimische Kräfte (größte Massenerschießung auf dem Territorium der Sowjetunion). (Jeckeln, 1940/41 HSSPF West in Düsseldorf, war neben Blobel der eigentliche Initiator des Massakers. Als HSSPF Russland Nord und Ostland war er der verantwortliche Planer und Organisator der Liquidierung des Rigaer Ghettos, bei der am 30. November und 8. Dezember 1941 insgesamt über 27.000 Menschen ermordet wurden – um Platz zu schaffen für die angekündigten Deportationszüge aus dem Reich.

  1. Oktober in Uman durch das Polizeibataillon 304 5.400 jüdische Zivilisten und 400 jüdische Kriegsgefangene erschossen, laut anderen Quellen 6.000 oder 9.000.
  2. Oktober in Dnjepropetrowsk 10.000 Juden erschossen durch Angehörige der Stabskompanie von Friedrich Jeckeln und des Polizeibataillon 314

14./15. Oktober in Kriwoj Rog bis zu 5.000 Juden und 800 Kriegsgefangene durch Einheiten der SS und des Polizeiregiments Süd

Oktober in Lubny 1.800 Juden erschossen von   Sonderkommando 4a(ab 14. September 16. PzDiv in Lubny)

  1. Oktober in Stanislau mehr als 10.000 Juden erschossen durch Trupps der Sicherheitspolizei, des Reserve-Polizeibataillons 133 und der ortskundigen ukrainischen Miliz
  2. Oktober 1941 bis März 1942 in der Gebietshauptstadt Odessa (Transnistrien/ Rumänien) bis zu 25.000 Juden durch rumänisches Militär, unterstützt von Gendarmerie und Polizei, erschossen. Am 22. Oktober 1941 wurde das Hauptquartier des rumänischen Militärs in die Luft gesprengt. Am Folgetag wurden etwa 19,000 Juden zu einem Platz am Hafen gebracht und erschossen, am nächsten Tag weitere 25.000, die in neun große Speicher gepfercht, erschossen und verbrannt wurden. (S. 768)

20./21. Oktober in Mariupol 8.000 Juden erschossen durch SD (S. 1008)

23./24. Oktober in Tschernigow (ukr. Tschernihiw) 260 Juden durch ein Teilkommando des Sonderkommando 4a erschossen. 1941 wurden im Gebiet Tschernigow insgesamt 2.150 Juden ermordet, 1942 weitere 1.500. (S, 961)

  1. November in Proskurow (seit 1954 Chmelnyzkyj) etwa 5.300 Juden erschossen durch das Einsatzkommando 6 und weitere 2.500; am 30. November etwa 6.000 Juden durch SD und lokale und deutsche Polizeieinheiten

05./06. November in Rowno 15.000 Juden erschossen durch Ordnungspolizei und das Außenkommando Rowno des Einsatzkommandos 5

  1. Dezember ff. in Charkow (Charkiw), Schlucht von Drobyzkyi Jar etwa 16.000 Juden erschossen durch das Sonderkommando 4a unter Paul Blobel mit Unterstützung des Polizeibataillons 314.

Pogrome „Juden wurden bei Pogromen, die ukrainische Kollaborateure und Antisemiten verübten, bestialisch ermordet. Diesen Pogromen (…) fielen 25.000 bis 30.000 Juden in der Westukraine zum Opfer. Die wurden im Dnjestr und im Südlichen Bug ertränkt, in Häusern, Synagogen, Baracken und Schweineställen verbrannt, in Steinbrüchen oder Alabastergruben eingemauert, lebendig in die Kohleschächte des Donbass und in Brunnen geworfen. Sie starben qualvoll an Hunger, Kälte, Krankheiten, Quälereien und der alle Kräfte übersteigenden Zwangsarbeit in den Ghettos.“ (S. 29 f.)

Phasen der Vernichtung der Juden in den besetzten ukrainischen Gebieten:

– 22. Juni bis Winter 1941/42: Erschießung von über 509.000 Juden im Reichskommissariat Ukraine. Die erste Tötungswelle lief nach einem standardisierten Verfahren: Die Erschießungsstätten befanden sich  außerhalb der Städte an tiefen Panzergräben, Granattrichtern oder ausgehobenen Massengräbern.

– Die zweite Tötungswelle im Jahr 1942 wurde durch die Errichtung von Ghettos vorbereitet. „Die Vernichtung er Ghettos verlief in aller Offenheit und mit brutalster Rücksichtslosigkeit. Niemand besaß eine Überlebenschance.“. (S. 61) Insgesamt wurden 1942 auf dem Gebiet der Ukraine 770.000 Juden ermordet, davon 362.700 im Reichskommissariat Ukraine.

– Anfang 1943 bis Oktober 1944 wurden weitere 150.000 jüdische Menschen erschossen.

Insgesamt fielen dem deutschen Vernichtungskrieg in der Ukraine acht Millionen Menschen zum Opfer, ein Vierteil der Bevölkerung, davon fünf Millionen Zivilisten, 1,6 Millionen jüdische Menschen.

„Hitler wollte nicht nur die Juden auslöschen; er wollte auch Polen und die Sowjetunion als Staaten vernichten, ihre Führungsschichten liquidieren und viele Millionen Slawen (Russen, Ukrainer, Weißrussen, Polen) umbringen. Wäre der Krieg gegen die UdSSR wie geplant verlaufen, so wären 30 Millionen vertrieben, ermordet, assimiliert oder versklavt worden. Obwohl diese Pläne nie verwirklicht wurden, waren sie der gedankliche Rahmen  für die deutsche Besatzungspolitik im Osten. Während des Krieges ermordeten die Deutschen ebenso viele Nichtjuden wie Juden, vor allem durch das Verhungernlassen sowjetischer Kriegsgefangener (über drei Millionen), und der Einwohner belagerter Städte (über eine Million) oder durch die Erschießung von Zivilisten bei „Vergeltungsmaßnahmen“ (fast eine Million, vor allem Weißrussen und Polen).“ (Timothy Snyder, Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, S. 11)

Kommentar

Der Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, der Einsatzgruppen und Polizeibataillone repräsentierte eine völkermörderische Energie und Professionalität, die jeden zivilen Widerstand liquidierte und die nur militärisch gestoppt werden konnte.

Für die erfolgreichen Gegenoffensiven der Roten Armee ab Stalingrad waren die Waffenlieferungen aus den USA (für 11-12 Mrd. US-$ nach dem Leih und Pacht Gesetz vom Februar 1941, darunter Zehntausende Transporter für die „Stalinorgel“, mehr als 8.000 Kampfflugzeuge) von zentraler Bedeutung. (https://www.welt.de/kultur/article3618336/US-Militaerhilfe-Stalins-amerikanische-Laster.html )

Wer zur Kenntnis nimmt und an sich heranlässt, was der Ukraine unter stalinistischer Herrschaft und deutscher Besatzung an Menschheitsverbrechen angetan wurde,

– wird verstehen, warum die ukrainischen Nachkriegsgenerationen nie mehr wehrlos sein wollen und sich gegen einen Aggressor so sehr zur Wehr setzen – erst recht gegenüber einem Putin-Regime, das immer deutlicher einen Vernichtungsfeldzug gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und Nation führt;

– kann als Nachkomme der deutschen Kriegsgeneration den Nachkommen der Überfallenen am allerwenigsten Hilfe zur nationalen Selbstverteidigung verweigern.

Die Streitkräfte und Menschen der Ukraine nehmen ihr „naturgegebenes Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ (Art. 51 UN-Charta) wahr und setzen sich gegen den russischen Völkerrechtsbruch, gegen systematische Kriegsverbrechen und grundsätzlich gegen den Extremismus des „Rechts des Stärkeren“ zur Wehr. Im Geiste von gemeinsamer Sicherheit haben sie einen grundsätzlichen sicherheitspolitischen Anspruch auf so viel internationalen Beistand wie eben möglich. Der Ukraine diese Verteidigungs- und Überlebenshilfe zu leisten, ist ein zwingendes Gebot deutscher historischer Verantwortung.

(Der Grundsatz der deutschen Rüstungsexportrichtlinien, keine Waffen in Krisengebiete zu exportieren, war in den letzten Jahrzehnten angesichts der vorherrschenden innerstaatlichen Gewaltkonflikte völlig richtig, wirkten sie da doch durchweg als Öl ins Feuer. Jetzt geht es um die Verteidigung des Völkerrechts gegen seine Zerstörer.)

Diese Verteidigungshilfe zu verweigern, wie es viele Friedensgruppen fordern, wäre eine Absage an den Geist des Völkerrechts, auf die Spitze getriebene Appeasement-Politik – und geschichtsvergessen. Vor genau 77 Jahren trug übrigens die 1. Ukrainische Front der Roten Armee unter höchsten Opfern (78.000 Gefallene) zur Einnahme Berlins und damit zur Befreiung Europas vom Naziterror bei. Vergessen?

Bei mehreren Kundgebungen von DFG-VK. der Linken u.a. erlebte ich in den letzten Wochen, wie richtige Antikriegshaltung so formuliert wurde („jeder Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit“), dass auch alle alliierten Befreier von 1945 als Verbrecher gelten mussten. Das ist unsäglich.

Münster, die Stadt des Westfälischen Friedens, hat eine langjährige und vielfältige Erinnerungskultur. 2021-23 jährt sich die Beteiligung der 16. Panzer-Division aus Münster am deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und insbesondere auf dem Territorium der Ukraine zum 80. Mal. Ihre Geschichte ist bis heute ein verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte. ( vgl. http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1187 )

Weitere Beiträge

– Aus europäischer Geschichte gelernt? Nie wieder? Nie mehr wehrlos, nie mehr allein! Anmerkungen zum russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, 03.03.2022, https://domainhafen.org/2022/02/06/dies-ist-ein-test/

Kommentar zum Aufruf „Die Waffen nieder!“, 06.03. 2022, https://domainhafen.org/2022/03/06/kommentar-zum-aufruf-die-Waffen-nieder/

Waffenlieferungen an die Ukraine: Überlebenshilfe, 26.02.2022, Stellungnahme vor der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar, https://domainhafen.org/2022/02/27/waffenlieferungen-an-die-angegriffene-ukraine-ueberlebenshilfe/

Rede bei der Kundgebung „Für Frieden und gegen die russische Aggression in der Ukraine“ am 25.02.2022 vor dem Historischen Rathaus in Münster, https://domainhafen.org/2022/02/25/166/

– Nie wieder – nie mehr allein! Perspektiven auf den Vernichtungskrieg. Interview zum 80. Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht in die Sowjetunion, Zeitschrift „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ Juni 2021,  http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=107&aid=1700

– Spurensuche und Erinnerungsarbeit zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im Baltikum, Belarus, Ukraine, Russland: Stationen seit 1988, Mai 2021, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=107&aid=1692

Orte der sowjetischen Okkupation Lettlands (KGB-Haus, Bahnhof Tornakalns, Okkupationsmuseum über die drei Okkupationen 1940, 1941, 1944-1991, Museum der lettischen Volksfront), August 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1489

– Reisebericht: Als Wahlbeobachter in Odessa: Der neue Mauerfall in der Ukraine,  Januar 2005, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1274

Putin-Freundschaft macht Grüne ratlos, taz 11.9.2004, https://taz.de/Putin-Freundschaft-macht-Gruene-ratlos/!700524/

Kurzbericht Besuch in Georgien und Abchasien, Juni 2004, http://nachtwei.de/berichte/georgien001.htm

Brief an den Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland zu Tschetschenien, 23.12.1994

– Verbreitung des Offenen Briefes russischer Menschenrechtsorganisationen an ausländische Menschenrechtsorganisationen zu Tschetschenien, 23.12.1994, und des  Offenen Briefs der Gesellschaft Memorial an Bundeskanzler Kohl, 20.12.1994

 

 

Translate »