Zum Appell „Nein zum Krieg! Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!“ Wegweisend oder am Thema vorbei?

Der Appell protestiert gegen die massive Erhöhung der deutschen Militärausgaben, schweigt aber zur Überlebenshilfe für die Angegriffenen: mein Kommentar.

Zum Appell „Nein zum Krieg! Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!“ – Wegweisend oder am Thema vorbei?

Winni Nachtwei, Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention & Friedensförderung, im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ + DGVN (27.04.2022)

Am 22. März veröffentlicht wurde der Appell bisher (27. April) von 48.197 Personen unterstützt. ( https://derappell.de/  Zu den Erstunterzeichner:innen gehören u.a. Christoph Butterwege, Frank Deppe, Margot Käßmann, Annelie Buntenbach, Hans-Christian Ströbele, Hilde Matheis, Gregor Gysi, Jakob Augstein, Milo Rau, Katja Riemann, Svenja Flaßpöhler, Sarah-Lee Heinrich, Timon Dzienus.

Der Überfall: In den ersten zehn Zeilen wird der Überfall Russlands auf die Ukraine als durch nichts zu rechtfertigen verurteilt. Putin begründe seinen Krieg mit Lügen und Propaganda.

Soweit so richtig – aber unzureichend.

Kein Wort davon, dass der Überfall mit zentralen Grundprinzipien des Völkerrechts, der Schlussakte von Helsinki, der Charta von Paris, dem Budapester Memorandum und der NATO-Russland-Grundakte bricht. Kein Wort davon, dass Präsident Putin der Ukraine jede Eigenstaatlichkeit abspricht, schon seit langem sein strategisches Ziel der Wiederrichtung eines großrussischen Imperiums verfolgt und damit die nationale Souveränität von Georgien, Moldawien, Polens und der baltischen Staaten, also europäische Sicherheit bedroht. Es geht also nicht „nur“ um die Ukraine, sondern um Frieden und Sicherheit in Europa insgesamt.

Die russische Kriegführung richtete sich schnell auch gegen die zivile Infrastruktur, inzwischen führen die russischen Angreifer einen Vernichtungsfeldzug gegen die Zivilbevölkerung und gegen die Existenz der ukrainischen Nation.

  • Wo die systematischen Kriegsverbrechen und der kriegerische Imperialismus beschwiegen werden, da erscheint diese Art von Minimal-Verurteilung des Überfalls als bloßes Lippenbekenntnis und verharmlosend.

Hunderttausende gegen Putins Krieg und für Frieden: Mit ihnen habe man demonstriert und deren „Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, ihrer Angst vor einer weiteren Eskalation und ihrem Wunsch nach Frieden und Sicherheit Ausdruck verliehen.“ (dazu weitere zehn Zeilen) Über Angst, Empörung und Friedenswunsch hinaus werden keinerlei politische Forderungen formuliert zum Stopp des Angriffskrieges, zur Unterstützung der Angegriffenen und ihrer zivilen wie militärischen Selbstverteidigung, zum Schutz der bombardierten und belagerten Zivilbevölkerung, zum Schutz des angegriffenen Völkerrechts.

  • Das „Nein zum Krieg!“ bleibt somit ein frommer Wunsch. Angesichts des ersten zwischenstaatlichen Angriffslandkrieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist diese politische Indifferenz ein krasses Armutszeugnis.

„Hochrüstung“ im Mittelpunkt: Auf nächsten mindestens 38 Zeilen geht es einzig und allein um die „Hochrüstung“ der Bundeswehr und des Westens, die in den Augen des Appells heute offenbar die Hauptbedrohung von Frieden und Sicherheit, außerdem für Demokratie und Sozialstaat zu sein scheint.

Die überraschende Ankündigung des Sondervermögens Bundeswehr von 100 Mrd. Euro und eines alljährlichen Verteidigungsetats von über 2% des BIP durch Bundekanzler Scholz in der Sondersitzung des Bundestages am vierten Kriegstag wirkte international als Zeichen deutscher Entschlossenheit. Richtig ist die Feststellung im Appell, dass die angekündigte starke Erhöhung der deutschen Militärausgaben keine direkte Wirkung auf den Kriegsverlauf der nächsten Wochen und Monate haben wird.

Über die Größenordnung der angekündigten Erhöhung des deutschen Militäretats kann man zu Recht streiten. Damit der Streit aber sicherheitspolitisch konstruktiv verläuft und nicht in Reflexen („Hauptsache 2%“ vs. „jede Ausrüstung von Militär ist Aufrüstung und somit verwerflich“) steckenbleibt, sind wesentliche Schlüsselfragen zu klären.

– Wie sind das Recht auf nationale Selbstverteidigung (Art. 51 der UN-Charta) und der Verteidigungsauftrag im Grundgesetz (Art. 87a) zu beurteilen? Wer diese Bestimmungen streichen will, soll das sagen – und in Kauf nehmen, dass mit einer solchen Position auf absehbare Zeit eine Regierungsbeteiligung in Deutschland auszuschließen ist.

– Gibt es angesichts des ersten zwischenstaatlichen Angriffskrieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und der Zerstörung der europäischen Friedensordnung durch eine Veto- und Atommacht nicht eine berechtigte Bedrohungswahrnehmung in Georgien, Moldawien, Polen, den baltischen Staaten, Finnland, Schweden und deshalb eine nachvollziehbare Rückbesinnung auf gemeinsame Sicherheit durch Bündnisverteidigung?

– Wie sieht es mit der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung aus, wo in den letzten Jahrzehnten die Panzer der Bundeswehr um 4.700 auf 300 reduziert wurden, wo keine der acht Heeresbrigaden voll ausgestattet ist und nur nach Monaten der „Fernleihe“ voll einsatzfähig wäre? Wo war bisher die Rede davon, dass die Bundeswehr neue Brigaden und Divisionen aufstellen würde – als wesentliches Zeichen einer wirklichen „Hochrüstung“? In der sicherheitspolitischen Community ist seit Jahren Konsens, dass das bürokratisch-dysfunktionale Beschaffungswesen der Bundeswehr zwingend reformiert werden muss.

  • Der Appell verliert zu solchen akuten Schlüsselfragen kein Wort, sondern wiederholt nur das verschärft, was Friedensbewegung seit den 1980er Jahren schon immer anprangerte – hohe Rüstungsausgaben. Dass sich die friedens- und sicherheitspolitische Großwetterlage in Europa gravierend verdüstert hat und Umdenken erfordert, wird ausgeblendet.

Breite gesellschaftliche Debatte: Der Appell warnt vor einer Kehrtwende der deutschen Außenpolitik ganz ohne breite gesellschaftliche und parlamentarische Debatte. Diese Debatte ist in der Koalition und in Berlin insgesamt auf zwei Ebenen längst angelaufen:

(a) Bezüglich der angekündigten massiven Erhöhung der Militärausgaben führten Verhandlungen in der Koalition zu erheblichen Veränderungen. Im Haushaltsentwurf ist nicht mehr die Rede von den 2% vom BIP zusätzlich zum Sondervermögen. Beim Sondervermögen hat es eine Öffnung zu einem umfassenderen Sicherheitsverständnis gegeben. Das über die letzten Jahrzehnte entwickelte Verständnis von umfassender Sicherheit, also einschließlich Resilienz, Cyber-, Energie und menschlicher Sicherheit und Krisenprävention, muss weiterentwickelt und mit ausgewogenen Kapazitäten und Fähigkeiten unterlegt werden. Gerade deshalb kündigte der aktuelle Koalitionsvertrag die Erarbeitung „ziviler Planziele“ für Krisenprävention und Friedensförderung an.

Der Umweg des Sondervermögens soll gerade verhindern, dass diese zusätzlichen, kreditfinanzierten Ausgaben auf Kosten der anderen Ressortansätze im regulären Bundeshaushalt gehen.

Die Mittel für Energiesicherheit, Klimaschutz und Transformation bis 2026 („Klima- und Transformationsfonds“) wurde auf 200 Milliarden Euro erhöht.

(b) Die zweite Debattenebene ist die zu der im Koalitionsvertrag erstmalig angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie, die binnen eines Jahres in einem breiten Konsultationsprozess erarbeitet werden soll. Am 18. und 22. März fanden dazu erste Startveranstaltungen statt. 2017 war „mein“ Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung intensiv an dem Konsultationsprozess zu den „Leitlinien Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ der Bundesregierung beteiligt. Dieser Prozess war so beratungsoffen wie keiner zuvor auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik in der bundesdeutschen Geschichte.

Historische Verantwortung? Vor 80 Jahren wüteten deutsche Wehrmacht, Einsatzgruppen und Polizeibataillone im Rahmen des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion in der Ukraine. Acht Millionen Menschen kamen dabei um`s Leben, wurden ermordet, ein Vierteil der Bevölkerung, davon fünf Millionen Zivilisten, 1,5 Millionen jüdische Menschen.

Dass die Nachkommen der Opfer des deutschen Vernichtungskrieges nie mehr wehrlos sein wollen, dass sie Unterstützung bei ihrem Überlebenskampf, bei der Wahrnehmung des Völkerrechts der Selbstverteidigung erwarten, nicht zuletzt aus Deutschland, liegt auf der Hand.

  • Dem Appell sind die kollektiven historischen Erfahrungen der Menschen in der Ukraine aber offenbar nicht der Rede wert. Eine solche Geschichtsvergessenheit ist mir gerade aus friedensbewegten und linken Kreisen völlig unverständlich.

(Hierzu einige historische Erinnerungen: „Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung Deutscher Vernichtungskrieg in der Ukraine 1941-43 und russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt“, https://domainhafen.org/2022/04/10/zwischen-geschichtsvergessenheit-und-historischer-verantwortung-der-deutsche-vernichtungskrieg-in-der-ukraine-1941-43/ )

Fazit: Der Appell zeigt keinerlei Interesse an den akuten Schlüsselfragen,

  • wie die russische Aggression gestoppt und rückgängig gemacht, die Zivilbevölkerung geschützt, die Angegriffenen unterstützt und das Völkerrecht verteidigt werden kann und sollte.

Er ist einzig auf die deutschen Rüstungsausgaben fokussiert. In Anbetracht des Bruchs der europäischen Friedensordnung und des Völkerrechts durch eine Atom- und UN-Veto-Macht ist das ein friedens-, sicherheits-, menschenrechts- und europapolitischer  Offenbarungseid sondergleichen.

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