Zum 22. Juni: Zwei Kriege in der Ukraine – vor 80 Jahren und heute zwischen Charkiw und Donezk

Wo heute russische Truppen in der Ostukraine Städte zerbomben, wüteten vor 80 Jahren deutsche Truppen. Mit dabei eine Division aus Münster …

Zwei Kriege in der Ukraine – vor 80 Jahren und heute zwischen Charkiw und Donesk

Winfried Nachtwei (22. Juni 2022), Vorstandsmitglied „Gegen Vergessen – Für Demokratie“

Am 24. Februar, vor vier Monaten, begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auch auf dem Gebiet der Ukraine.

In der Großregion zwischen Charkiw und Donezk, wo heute die russischen Truppen zwei Großstädte und Chemiestandorte zerbomben, griffen vor genau 80 Jahren Wehrmachtsdivisionen die Rote Armee an und zerstörten das Land. Unter ihnen die 16. Panzerdivision aus Münster, auf deren Spur ich 1988 stieß. Am Kalkmarkt hinter „Zigarren Lammerding“ am Schlossplatz steht das Kriegerdenkmal der 16. Pz.Div.. Ihre Geschichte ist weitgehend verdrängt, vergessen – und unerforscht.

Russischer Angriffskrieg heute

In diesen Junitagen konzentrieren sich die russischen Angriffsoperationen auf den Großraum Sjewjerodonezk und Lyssytschansk (vor dem Krieg je etwa 100.000 Einwohner) in der Ostukraine im Westen der Oblast (Gebiet) Luhansk an der Grenze zu den Gebieten Donezk und Charkiw. Sjewjerodonezk  ist das Verwaltungszentrum der Teile der Oblast Luhansk, die bisher noch unter ukrainischer Kontrolle waren. Seit Mitte Mai versuchen die russischen Truppen die beiden Zwillingsstädte vom Nachschub abzuschneiden. Diese Städte zu erobern und damit die ganze Oblast Luhansk zu kontrollieren, ist zzt. zentrales russisches Kriegsziel.

Nach Mariupol wird mit  Sjewjerodonezk ein weiteres großes Industriezentrum zerbombt und zerschossen. „Asot“ ist die größte Chemiefabrik der Ukraine. Nur hier sollen noch ukrainische Soldaten Widerstand leisten. Laut offiziellen ukrainischen Äußerungen wird sich in der kommenden Woche entscheiden, ob die russische Armee die Stadt vollständig erobern kann. Die mehr als 100 km westlich liegende Stadt Isjum wurde Ende März nach schweren Kämpfen von russischen Truppen besetzt.  https://www.dw.com/de/sjewjerodonezk-was-man-%C3%BCber-die-umk%C3%A4mpfte-stadt-im-donbass-wissen-muss/a-61996061

Deutscher Angriffs- und Vernichtungskriegs vor 80 Jahren

Im Frühsommer 1942, führte die deutsche Wehrmacht, gefolgt von den Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD schon seit 12 Monaten einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auch auf dem Boden der Ukraine. An vorderster Front mit dabei war die 16. Panzerdivision aus Münster/Westfalen. Zwischen Ende April und Ende Juni 1942 kämpfte die Division  zwischen Charkow (Charkiw) und Stalino (Donezk) in einem Gebiet von mehr als 200 km Nord-Süd-Ausdehnung zwischen Makejewska bei Stalino im Süden bis zum Burluk im Norden, also in dem Großraum der Gebiete Charkiw, Donezk und Luhansk, wo in diesen Tagen der Schwerpunkt des russischen Angriffskrieges liegt.

Die Kriegsspur der 16. Pz.Div. Mai – Juli 1942

(laut Wolfgang Werthen, Geschichte der 16. Panzer-Division 1939-1945, hrsg. vom Kameradschaftsbund 16. Panzer- und Infanterie-Division,, Bad Nauheim/Podzun 1958; Anm.: Das Buch ist geschrieben aus der Sicht der Beteiligten, also mit Vorsicht zu lesen.)

– Ende April 1942 aus der Winterstellung am Mius in den Raum Stalino/Makejewka

– Im Mai Gefechte bei Isjum, Oblast Charkow, am Ufer Slwersky Donez 125 km südöstlich Charkow; (23. Juni 1942 bis 5. Februar 1943 von der Wehrmacht besetzt) bei Berwenkowo und Losowaja; (Ende der Kesselschlacht von Charkow mit 20 Schützendivisionen, 7 Kavalleriedivisionen und 14 Panzerbrigaden auf Seiten der Roten Armee; laut Wehrmachtsbericht angeblich 240.000 sowjetische Gefangene, durch die 16. Pz.Div. 31.500 Gefangtene, 700 Mann eigene Verluste).

– Im Juni nach Norden Skripai, Buluk, Kessel von Woltschansk – Tschujujew – Kubjansk („Unternehmen Wilhelm“), angeblich 24.000 sowjetische Gefangene, davon 2.200 bei der 16. Pz.Div.

– 22. Juni Angriff auf Kupjansk am Oskol („Unternehmen Friederikus“, Gewinnung eines Brückenkopfes), Ablösung, zurück nach Makejewka; Wechsel vom III. Pz.Korps zum XIV. Pz.Korps (mit zwei Inf.Div. mot)

– Im Juli Beginn der Sommeroffensive (Ziel: die Wolga in 400 km Breite von Saratow bis Stalingrad, die Ölfelder des Kaukasus, , Vereinigung mit dem Afrikakorps in Persien und Angriff längs der Wolga in den Rücken Moskaus), Schlacht am Großen Donbogen

– 8. Juli Ein Major befiehlt Angriff über ein erkanntes Minenfeld, „Die Panzer hatten starke Verluste. (…) Das Unternehmen blieb liegen.“ (Werthen S. 97) Eine Gruppe der Division erreicht den Donez südlich Lissitschansk (Lyssytschansk). Die Masse der Division erreicht den Raum Artemowsk (Bachmut) am 14. Juli.

– Vormarsch nach Osten, fast kampflos; Wechsel zur 4. Pz.Armee, die zusammen mit der 2. und 6. Armee (Paulus) die Heeresgruppe B bilden; Donsteppe

  1. Juli nach 300 km in 10 Tagen Bobowskaja am Tschirr, voraus der Große Donbogen, 200 km Luftlinie bis Stalingrad

Kämpfe am Großen Donbogen; Juli 1942, Panzerschlacht von Kalatsch: 8.300 sowjetische Gefangene, 275 Panzer zerstört. Von 13.000 Soldaten der sowjetischen 181. Schützendivision können nur 105 über den Don entkommen. „1.000 Panzer waren der Division seit dem 22. VI. 41 zum Opfer gefallen.“ (Werthen S. 104)

Sommeroffensive 1942, Vorstoß nach Stalingrad: Überquerung des Don, 23. August als erste Wehrmachtdivision an der Wolga (nördlich Stalingrad). Schon Mitte November lagen die Leichen von über 4.000 Soldaten der Division auf dem Divisionsfriedhof an der Bahnstrecke Nord-Stalingrad – Frolow. 128 Divisionsangehörige kehrten nach Jahren der Gefangenschaft wieder in die Heimat zurück.

– „Bis zum Februar 1942 waren von den etwa 3,3 Millionen sowjetische Soldaten, die bis dahin  in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, rund zwei Millionen gestorben – verhungert, erfroren, von Seuchen hingerafft und erschossen.“ (Reinhard Rürup (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin 1991, S. 108) Von den insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg starben bis 1945 über drei Millionen.

Die Kriegsspur der 16. Pz.Div. in 1941

Am 22. Juni überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion mit 81 Infanterie-Divisionen, 17 Panzer- und 15 motorisierte Divisionen, 9 Polizei- und Sicherungsdivisionen, mit 3.350 Panzern und über 2.000 Flugzeugen, mit insgesamt 3.050.000 deutsche Soldaten (mit verbündeten Armeen sogar vier Millionen) an. Es war die größte Angriffsstreitmacht der Weltgeschichte.

Die Heeresgruppe Süd (998.000 Soldaten, 962 Panzer, 969 Flugzeuge) griff südlich der Pripjet-Sümpfe den Großraum der heutigen Ukraine mit den strategischen Zielen Dnjepr, Kiew, Donezbecken an.

Die 16. Pz.Div. überschritt am 24. Juni 1941 die sowjetische Grenze bei Sokal-Krystinopol am Bug.

Uman-Kessel, August 1941, 15 sowjetische Divisionen vernichtet, 100.000 Gefangene

Eroberung von Nikolajew am Schwarzen Meer, 16./17. August 1941,  durch die 16. Panzer-Division

Kesselschlacht bei Kiew, September 1941: „Das XI. Korps trieb die Russen von Südwesten her der 16. Panzer-Division. vor die Rohre. (…) Die Kompanien umgingen keine Ortschaften mehr; sie säuberten Dorf für Dorf.“ Nach der Schließung des Kessels am 24. 9.: „Insgesamt wurden 51 russische Divisionen vernichtet, 665.000 Gefangene eingebracht.“ (Wolfgang Werthen,: Geschichte der 16. Panzer-Division 1939-1945, Bad Nauheim (Podzun) 1958, S. 65 ff.)

Schlacht am Asowschen Meer, September/Oktober 1941, 100.000 Gefangene.

– Schlacht um Rostow, November 1941, erstmaliger Rückzug auf breiter Front.

Mius-Stellung: Kompanien der Division umfassen durchschnittlich noch 40 Mann, 50% der Gefechtsfahrzeuge ausgefallen. Das Regiment 64 hatte seit 22.6. 1.662 Ausfälle, 406 Tote, 1.232 Verwundete, 34 Vermisste.

Was vorher direkt hinter der Fronttruppe geschah

(Gesamtüberblick W. Nachtwei, Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung – Deutscher Vernichtungskrieg in der Ukraine 1941-43 und russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt, 11.04.2022, https://domainhafen.org/2022/04/10/zwischen-geschichtsvergessenheit-und-historischer-verantwortung-der-deutsche-vernichtungskrieg-in-der-ukraine-1941-43/ 

Hauptquelle: Boris Zabarko – Margret Müller – Werner Müller (Hrg.), Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse von Überlebenden, Berlin 2019)

– 20. Oktober 1941 Besetzung von Stalino (Donezk), im Oblast Stalino Einrichtung von vier Ghettos: Stalino (bis 3.000 Juden), Artemowsk (über 1.000), Kramatorsk (weniger als 150) Jenakijewo (etwa 500); die meisten jüdischen Menschen waren vorher geflohen; Im November ermordete das Sonderkommando 6 etwa 450 Jüdinnen und Juden, in den drei Folgemonaten weitere Hunderte.

– 20./21. Oktober in Mariupol (Oblast Stalino) Erschießung von 8.000 Juden durch SD

– 22. Oktober Besetzung von Makejewka (bei Stalino): Im Dezember Erschießung von etwa 500 Juden durch das Einsatzkommando 6, im Januar 1942 von weiterer 100 Juden, hauptsächlich Frauen und Kindern, die sich versteckt hatten.

Die Gesamtzahl der zivilen Opfer im Onlast Stalino betrug 126.342, davon 25.133 Juden.

  1. Dezember ff. in Charkow (Charkiw), Schlucht von Drobyzkyi Jar etwa 16.000 Juden erschossen durch das Sonderkommando 4a unter Paul Blobel mit Unterstützung des Polizeibataillons 314.

– Januar 1942 Artemowsk (Bachmut): In den Stollen des ehemaligen Kalkbergwerks begingen Wehrmachtsangehörige Erschießungen an der Bevölkerung. Am 9.-12. Januar ermordeten  Angehörige der Einsatzgruppe C etwa 3.000 Juden, indem sie diese in den Stollen 50-70 m unter der Erde bei lebendigem Leib einmauerten. Die Wände wurden abgesprengt, um die Tat zu vertuschen. Die 17. Armee leistete logistische Unterstützung.

„Im September 1943, nach der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im Rahmen der Donezbecken-Operation wurden nach einigem Suchen die Leichen entdeckt und geborgen. Da die Leichen aufgrund der ungewöhnlichen Klimaverhältnisse im Stollen (permanente Temperatur von +12°–14° sowie eine Luftfeuchtigkeit von 88–90 %) nicht verwest, sondern mumifiziert waren, konnte eine Reihe von ihnen identifiziert werden. Die Umstände der Ermordung der Artemowsker Juden waren nach dem Kriege Gegenstand der Nürnberger Prozesse.“  An der Stelle, wo im Januar 1941 die Juden der Ortschaft eingemauert wurden, befindet sich heute zum Gedenken die „Mauer der Tränen“.

(Leo Ensel, Neue Eiszeit und eine Welt in Trümmern: Teil VII, 10. Juli 2020,  https://ostexperte.de/auf-den-spuren-der-deutschen-besatzer-besuch-im-donbass/ ; Ensel besuchte den Donbass, wo sein Großvater Wehrmachtsarzt gewesen war und Lazarette geleitet hastte, u.a. in Artemowsk. Hier auch Abdruck des „Aufrufs an die Juden in der Stadt Bachmut“ vom 7. Januar 1942 zur Sammlung am 9. Januar um 8.00 Uhr)

 

 

 

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