Meine Rede zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine bei großer Kundgebung von Ukrainer:innen in Münster

Genau 6 Monate nach Beginn des Angriffskrieges: Unabhängigkeitstag unter Feuer –  „Frieden + Freiheit für die Ukraine!“

Rede bei der Kundgebung zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August 2022 vor dem Historischen Rathaus in Münster (Winfried Nachtwei)

Vormerkung: In der Hitze des Nachmittags versammelten sich am Münsteraner Aasee mehr als 1.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, die meisten mit dem ukrainischen Blau-Gelb und Blumen geschmückt, viele mit Fahnen, Transparenten, Bildern, Protestschildern. Angefeuert von stimmstarken Frauen ist die Demonstration so sprechchor- und liedergewaltig wie wenige Demos sonst: „Russland ist ein Terrorstaat! Ukraine will keinen Krieg! Freiheit und Frieden für die Ukraine! (…)“ Der Zug zieht über die Aegidiistrasse zum Prinzipalmarkt. Das Interesse der Passanten ist groß. Hie und da sehr ich Solidaritätszeichen. Veranstalter und Aufrufer ist der Verein „Ukrainische Sprache und Kultur in Münster.“

Vor dem Historischen Rathaus beginnt die Kundgebung mit dem Singen der ukrainischen Nationalhymne, angestimmt von einem jungen Mädchen und Jungen. Nach einer bewegenden ukrainischen Sängerin folgen die Redebeiträge, die jeweils übersetzt werden. Es sprechen u.a.  drei ukrainische Flüchtlingsfrauen, BezirksbürgermeisterMitte Stephan Nonhoff, die CDU-Vorsitzende MdL Simone Wendland, die Ex-MdB-Kollegen Ruprecht Polenz und Christoph Strässer, für die Gesellschaft für bedrohte Völker Ismet Nokta und ich.

Die Übersetzung von jeweils ein, zwei Sätzen schafft Raum für so viel  Beifall wie sonst nie. Und wann bekommt man schon nach einer Rede spontan zwei Sonnenblumensträuße von Kindern und Frauen überreicht.

Die Friedensdemonstration ist bunt, lebhaft, schön und herzlich. Sie strahlt trotz allen Leids in den Familien und Wut über die Aggressoren Selbstbewusstsein, Zusammenhalt und starken Durchhalte- und Friedenswillen aus. Sie wirkt gewinnend.

Willkommen vor dem Rathaus des Westfälischen Frieden in Münster!

Froh bin ich, dass ich Ende Dezember 2004 als Abgeordneter des Deutschen Bundestages Wahlbeobachter bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine, in Odessa sein durfte (3. Wahlgang) und etwas von der Orangen Revolution erleben konnte.

Heute vor sechs Monaten begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Ziel, ihre Unabhängigkeit zu zerstören und ihren Menschen Freiheit und Selbstbestimmung zu nehmen.

Das geschah mit extremer Brutalität, mit Artillerie, Bomben und Raketen auch systematisch gegen zivile Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser. Das geschah mit Kriegsverbrechen am laufenden Band.

Der Angriffskrieg gegen das zweitgrößte Land in Europa kostete bisher zigtausende Menschenleben, verwundete viele Zigtausende und vertrieb viele Millionen Menschen.

Aber: Die Angreifer erreichten NICHT ihr Ziel! Sie konnten nicht, wie sie dachten, Kiew in eine Art Blitzkrieg erobern.

Das lag nicht nur an ihrer eigenen überraschenden Schwächen. Das lag vor allem an der enormen Widerstandskraft der ukrainischen Streitkräfte und dem Widerstandswillen und der Geschlossenheit der Bevölkerung. (Frühzeitige Militärhilfe von einem Teil der westlichen Länder leiste erfolgreiche Überlebenshilfe.)

(Der Wert der Unabhängigkeit)

Als Älterer darf ich was von früher erzählen.

Genau an diesem Ort versammelten wir uns am 22. August 1991 mit wenigen Dutzend Menschen zu einer Kundgebung für „Solidarität mit der Demokratiebewegung in der Sowjetunion“. Am 20. und 21. August hatten sich Estland und Lettland für unabhängig erklärt. In den Jahren zuvor hatten hier immer wieder Exilletten mit Nationalfahnen für die Unabhängigkeit der baltischen Länder von der Sowjetunion demonstriert. Viele aus meiner politischen Richtung und aus der Friedensbewegung sahen damals solche Nationalfahnen sehr skeptisch. Sowas stand unter Nationalismusverdacht.

Bei Reisen nach Riga in Lettland seit 1989 hatte ich erfahren, was die Menschen im Baltikum in 50 Jahren Okkupation – sowjetischer, deutscher, sowjetischer – haben erleiden müssen. Das für sie nationale Unabhängigkeit Freiheit und Selbstbestimmung bedeutete.

Ich muss gestehen, dass wir bei der Kundgebung damals die Ukraine noch nict im Blick hatten.

Auffällig ist, dass in Deutschland viele weitere Jahre nicht wahrgenommen wurde,

dass es auch in der Ukraine schon lange eine Unabhängigkeitsbewegung gab.

Und bis heute ist verhältnismäßig wenigen Menschen hierzulande bekannt, welchen Terror die Menschen unterm Stalinismus erfuhren, die politisch herbeigeführte Hungersnot mit vier Millionen Toten Anfang der 30er Jahre,

und in den drei Jahren der deutschem Okkupation, bei der acht Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung ihr Leben verloren. davon fünf Millionen Zivilisten und 1,6 Millionen jüdischen Menschen. (Übrigens: Auf Seiten der deutschen Wehrmacht gehörte zu den Mitmarschierern und Mittätern des Vernichtungskrieges die 16. Panzerdivision aus Münster in Westfalen. Bevor sie gestern vor 80 Jahren an der Spitze der 6. Armee den Angriff auf Stalingrad begann, war sie mehr als ein Jahr am Krieg auf dem Boden der Ukraine beteiligt.)

(Konsequenzen)

Zu den deutsche Bürgerinnen und Bürger sage ich:

– Wer an sich heranlässt, was den Menschen in der Ukraine in Jahrzehnten der Okkupation an Menschheitsverbrechen zugefügt wurde,

wird verstehen, warum Menschen in der Ukraine nie mehr Besatzung haben wollen, nie mehr wehrlos sein wollen, warum sie sich so entschlossen und geschlossen gegen die russische Aggression zur Wehr setzen. Sie wissen aus Erfahrung, dass die Gewalt mit einer Okkupation nicht aufhört.

– Wer das an sich heranlässt, kann als Nachkomme der deutschen Kriegsgeneration den heute in der Ukraine Überfallenen am allerwenigsten Überlebenshilfe verweigern, vor allem auch Hilfe zur Selbstverteidigung.

Die ukrainische Bevölkerung, ihre Streitkräfte und Regierung verteidigen nicht „nur“ die Unabhängigkeit, Freiheit und Unversehrtheit ihres Landes. Sie verteidigen damit zugleich ein elementares Völkerrecht – gegen das „Recht des Stärkeren“ und Brutaleren, gegen die Verwilderung der Weltordnung. Solidarität mit der Ukraine ist deshalb im ureigenen Interesse aller Völker Europas.

Es lebe die freie Ukraine!

 

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