Widerworte zur Antikriegstagsrede von Margot Käßmann in Münster

„Nein zum Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen?!“ war ihr Thema. Irritierend war, dass die kollektiven Erfahrungen der europäischen Nachbarn  mit Nazi-Deutschland keine Rolle spielten.

Widerworte zur Antikriegstags-Rede von Margot Käßmann am 1. September 2022 in der Erlöserkirche Münster, Winfried Nachtwei, ehem. MdB, Mitglied des Beirats Zivile Krisenprävention[1]

Am 1. September, dem 83. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und Antikriegstag der DGB-Gewerkschaften, sprach die  evangelische Theologin Margot Käßmann über  „Nein zum Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen?!“ Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Bischöfin von Hannover sprach auf Einladung der Friedensinitiative Münster, des Evangelischen Forum und des Evangelischen Kirchenkreises Münster in der voll besetzten Erlöserkirche. Nach dem bunten und lebhaften Kinder-Friedenstreffen mit 1.400 Schüler:innen von 14 Grundschulen auf dem Domplatz und der Antikriegskundgebung von DGB u.a. am Zwinger war dies die dritte Friedensveranstaltung am ersten Tag des Friedenskulturmonats September in Münster. Nach der Käßmann-Rede bezog der Moderator Pastor Jens Dechow die DGB-Vorsitzende Pia Dilling und eine Schülersprecherin in das Gespräch mit ein. Umrahmt wurde der Abend von der Liedermacherin Hanna Meyerholz.

Margot Käßmann: Die christlichen Kirchen waren in ihrer langen Geschichte vielfach in Gewalt und Krieg verwickelt. Gegen diese kriegerische Spur bekräftigt sie die Friedensbotschaft Jesu, in der das Gebot der Feindesliebe das schwerste sei. Als bedrückend empfinde sie, wie schnell jetzt die Meinung auf „Frieden schaffen mit Waffen“ umschwenke. Das sei wie vorm 1. Weltkrieg. Seit elf Jahren Krieg in Syrien, seit acht Jahren im Jemen – nirgendwo hätten Waffen mehr Frieden gebracht. Krieg sei für sie keine Ultima Ratio, sondern das Ende aller Vernunft.

Sie könne verstehen, dass sich die Menschen in der Ukraine zur Wehr setzen. Aber sie lehne bewaffnete Verteidigung, Waffenlieferungen und Aufrüstung ab, votiert für ausschließlich gewaltfreien zivilen Widerstand und diplomatische Konfliktlösung. Sie verweist auf Instrumente wie den Zivilen Friedensdienst und UN-Peaceforces nach Waffenstillständen.

In der folgenden Gesprächsrunde stimmen ihr die Münsteraner DGB-Vorsitzende und die Schülersprecherin im Wesentlichen zu. Das Publikum antwortet am Ende mit anhaltendem Beifall.

Meine Übereinstimmung: Die Antikriegshaltung von Margot Käßmann und ihr Votum für die Stärkung von gewaltfreier Konfliktbearbeitung teile ich. Als Geschichtslehrer waren „Im Westen nichts Neues“, der Kolonialkrieg in Deutsch Südwestafrika und der deutsche Vernichtungskrieg im Osten zentrale Themenblöcke in meinem Unterricht. Frau Käßmann ist seit Jahren „Botschafterin“ des forumZFD (Ziviler Friedensdienst), dessen Aufbau ich seit den 90er Jahren politisch unterstütze. Im Februar 2004 nahmen wir gemeinsam in Moskau an der Tagung „Zivildienst in Russland und Deutschland“ von Petersburger Dialog, Koalition für einen alternativen Zivildienst, Heinrich Böll-Stiftung und den Soldatenmüttern teil.[2]

Nichtsdestoweniger habe ich erhebliche Kritik an ihrer Positionierung.

Strikter Pazifismus und staatliche Schutzverantwortung: Ihre Position des strikten Pazifismus ist völlig legitim und zu respektieren. Ich kenne etliche praktische Pazifist:innen, die erfahrungsstark und lernbereit vorbildlich an der Weiterentwicklung gewaltfreier Ansätze und Projekte arbeiten. Aber die Frage drängt sich auf, ob strikter Pazifismus zu jeder Zeit und an jedem Ort der ethisch gebotene und friedenspolitisch wirksame und verantwortbare Weg ist.

Frau Käßmann ruft nicht nur Individuen zu strikter Gewaltfreiheit auf, sondern auch die staatliche Politik. Sie übergeht dabei den Unterschied zwischen Individualethik und politischer Ethik. Politik in staatlicher Verantwortung ist laut Grundgesetz dem Frieden, der Menschenwürde und dem Schutz der Menschenrechte der Bürger:innen ihres Landes verpflichtet. Das schließt als eine staatliche Kernaufgabe den Schutz vor illegaler Gewalt, vor Angriffen im Innern und von außen ein.

Diese staatliche Schutzverantwortung wird über das rechtsstaatliche Gewaltmonopol (Gesetzgebung, Polizei, Justiz, Streitkräfte, Systeme kollektive Sicherheit) wahrgenommen, ist an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden und sollte möglichst viel für Gewaltverhütung tun. Insofern kann staatliche Politik nicht strikt pazifistisch agieren. Sie würde damit dem „Recht des Stärkeren und Brutaleren“ freie Bahn schaffen und einem friedlichen Zusammenleben den Boden entziehen.

Politische Kriegserfahrungen: Wie auch im Einleitungsinterview „Für eine starke Stimme des Pazifismus“ des Sammelbandes „Entrüstet Euch – Von der bleibenden Kraft des Pazifismus“ (hrg. mit Konstantin Wecker) geht die Rednerin auf den Zweiten Weltkrieg nur aus der familiären Perspektive sein. Heute, am 83. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf den Nachbarn Polen, ist von diesem keine Rede. Keine Rede davon, dass  Polen von den Westmächten im Stich gelassen wurde, dass Wehrmacht und Einsatzgruppen von vorneherein einen Vernichtungskrieg praktizierten, gegen den gewaltfreier Widerstand völlig aussichtslos war. (vgl. https://domainhafen.org/2022/09/01/deutscher-ueberfall-auf-polen-vor-83-jahren-vernichtskrieg-von-anbeginn-lehre-bis-heute-nie-mehr-wehrlos-nie-mehr-allein/  )

Keine Rede davon, welche Faktoren den 1. September 1939 begünstigten: Nazi-Deutschland konnte zunächst so erfolgreich alle europäischen Nachbarn überfallen und nach zwei Jahren mit dem größten Angriffs- und Vernichtungskrieg der Weltgeschichte beginnen, weil maßgebliche Politiker im Westen trotz unübersehbarer Vorzeichen das Aggressionspotenzial Hitler-Deutschlands unterschätzten,  friedenspolitisches Wunschdenken pflegten, eine angemessene Verteidigungsfähigkeit vernachlässigten und politisch nicht zusammenfanden.

(Kaum in Erinnerung ist, dass die Waffen- und Hilfslieferungen der USA (Leih- und Pachtgesetz) ab Februar 1941 an Großbritannien, die Sowjetunion u.a. von strategischer Bedeutung für die Wende im Verteidigungskrieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland waren.) Keine Rede davon, was sich im kollektiven Gedächtnis der von Nazi-Deutschland Überfallenen eingebrannt hat: „Nie mehr wehrlos, nie mehr allein sein!“ (vgl. W.N.,  https://domainhafen.org/2022/06/22/zum-22-juni-zwei-kriege-in-der-ukraine-vor-80-jahren-und-heute-zwischen-charkiw-und-donezk/ )

Zentrale Schlussfolgerung aus Weltkrieg + Völkermord: Diese Grunderfahrung schlug sich 1945 in der UN-Charta nieder,

– ihrer Absage an die Geißel Krieg und dem internationalen Gewaltverbot,

– der Pflicht zu friedlichem Interessenausgleich und Streitbeilegung,

– der Bekräftigung des „naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“,

– der gemeinsamen Maßnahmen gegen Bedrohungen des Friedens und Angriffshandlungen,

– die Beistandsverpflichtung der UN-Mitglieder bei Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens. (Art. 43)

Am Jahrestag des Beginns des späteren Weltkrieges sind für die Rednerin die elementaren Lehren aus Weltkrieg und Völkermord kein Thema und kein Bezugsrahmen – als gebe es sie gar nicht!

Delegitimierung des militärischen Widerstandes gegen Nazi-Deutschland?  Wenn die prominente Theologin generell, also auch die staatliche Politik, zu striktem Pazifismus zu jeder Zeit und jedem Ort aufruft, dann läuft das rückblickend auf eine Absage an die militärische Verteidigung Polens und der anderen von Nazi-Deutschland Überfallenen, auf eine Absage an die Befreiung Europas vom Naziterror durch die alliierten Armeen und den Kernbestand der UN-Charta hinaus. Über diese Art von Geschichtsvergessenheit, Ignoranz gegenüber den Opfererfahrungen der europäischen Nachbarn und die zum Ausdruck kommende UN-Ferne bin ich erschüttert. Ich kann es nicht glauben und wäre sehr erleichtert, wenn mir ein Fehlschluss passiert wäre.

Die pazifistische Alternative: Zu Recht betont Margot Käßmann die hohe Bedeutung, den Nachholbedarf und das große Potenzial gewaltfreier Konfliktbearbeitung. Ihre Akteure, Ansätze und Maßnahmen sind viel wirksamer als gemeinhin bekannt. Seit mehr als 30 Jahren engagiere  ich mich für Ausbau und Stärkung der Zivilen Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung. Das vielfältige Instrumentarium dieses Politik- und Handlungsfeldes könnte noch viel wirksamer werden, wenn es mehr Beachtung und Unterstützung finden würde – und wenn es nicht nur, wie so oft, bloß plakativ beschworen, sondern auch konkret, anschaulich und spannend kommuniziert würde. ( W.N., Zivile Konfliktbearbeitung im Kontext Vernetzter Sicherheit“, 2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1622 )

Allerdings lag in den letzten Jahrzehnten der Fokus gewaltfreier Ansätze, Instrumente und Maßnahmen auf innerstaatlichen Konflikten. Das zeigte sich exemplarisch im Aktionsplan Zivile Krisenprävention der Bundesregierung von 2004 und ihren Leitlinien Krisen verhindern und Frieden fördern von 2017. In diesen war angesichts der Dominanz innerstaatliche Konflikte von zwischenstaatlichen Kriegen praktisch keine Rede. Das zeigt sich auch in der Tatsache, dass explizite Soziale Verteidigung (gegen einen ausländischen Aggressor und Okkupanten) fast  nur beim Bund für Soziale Verteidigung Thema war und nur minimal geübt ist. Der BSV ist eine wichtige, aber nicht sehr mitgliederstarke Pioniergruppe des praktischen Pazifismus. (vgl. Anhang)

Bei dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben wir es aber seit mehr als sechs Monaten mit einem zwischenstaatlichen Gewaltkonflikt zu tun, wo die Ansätze der zivilen Krisenprävention nur wenig wirken können, wenn überhaupt. Insofern geht die Empfehlung, gegen den russischen Angriffskrieg nur auf gewaltfreie gesellschaftlichen Widerstand zu setzen, an den realen Herausforderungen, Wirkungsmöglichkeiten und vorhandenen Fähigkeiten vorbei.

Handlungsoptionen bei zwischenstaatlichen Konflikten: Hier ist das Normensystem und das politische Instrumentarium der UN-Charta und anderer Systeme gemeinsamer Sicherheit (OSZE, EU, NATO etc.) sowie des Grundgesetzes maßgeblich. Strukturell sind  hier Abkommen zur internationalen Zusammenarbeit und Integration, insbesondere von Streitkräften, zur Rüstungskontrolle und Abrüstung zentrale Ansätze der Kriegsverhütung und Friedenssicherung. Operativ steht hier die Diplomatie an erster Stelle. (vgl. Art. 1 und 2 UN-Charta) Nach aller historischen und aktuellen Erfahrung ist aber Diplomatie und Suche nach friedlichem Interessenausgleich und Streitbeilegung nicht allmächtig. Äußerst intensive internationale Diplomatie stieß Anfang des Jahres bei Präsident Putin an ihre Grenzen. Die Charta erkennt das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung als naturgegeben an. (Art. 51) Zur Verhütung und ggfs. Unterdrückung von Angriffshandlungen und Friedensbrüche kann die UN-Staatengemeinschaft wirksame Kollektivmaßnahmen treffen – von der friedlichen Streitbeilegung bis zu Zwangsmaßnahmen. (Kapitel VI und VII UN-Charta). Wo die UN-Staatengemeinschaft nicht gegen Aggressionen und Friedensbrüche vorgeht, zersetzt das die Autorität des Völkerrechts generell und gibt dem „Recht des Stärkeren“ Auftrieb.

„Eine der letzten Pazifistinnen“ – so bezeichnet sich Margot Käßmann selbst. Damit tut sie den Tausenden praktischen Pazifist:innen Unrecht, die im Schatten öffentlicher Aufmerksamkeit hartnäckig von unten für Entfeindung, Verständigung, Versöhnung und friedliche Konfliktlösungen arbeiten. Aber mir drängt sich nach der Münsteraner Ansprache der Eindruck auf, dass zum o.g. „Schwund“ auch solche prominente Pazifist:innen beitragen, die auf aktuelle friedens- und sicherheitspolitische Herausforderungen nur „zeitlos“ gläubige, Antworten geben und deshalb außerhalb ihrer  Kreise weniger überzeugen können. Margot Käßmann erreicht mit ihrer Glaubenskraft, ihrer spirituellen Kompetenz und herausragenden Fähigkeit, Orientierung, Ermutigung und Kraft zu vermitteln, die Köpfe und Herzen vieler Menschen. Auf dem Feld der Friedenspolitik lässt sie hingegen jede Einfühlung in die kollektiven Erfahrungen der von Nazi-Deutschland Überfallenen und Verfolgten vermissen.

Es stimmt, dass sich mit Waffen kein nachhaltiger Frieden schaffen lässt. Das geht nur über politische und gesellschaftliche Konfliktlösung und -bearbeitung. Um aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen, kann die „Anwendung von Waffengewalt in gemeinsamem Interesse“ (Präambel der UN-Charta) notwendig sein. Der militärische Sieg über die Nazi-Völkermörder war die notwendige Voraussetzung dafür, dass dank kluger Besatzer zumindest im Westteil Europas eine Friedensordnung wachsen konnte, wie sie dieser Kontinent der Kriege seit Menschengedenken nicht erlebt hat.

Die jetzige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus hat sich mit friedensthetischer Klarheit und Differenziertheit zum Krieg gegen die Ukraine erklärt und eindeutig zur umfassenden Solidarität mit den Überfallenen bekannt. ( https://www.ekd.de/annette-kurschus-friedensethik-ukraine-konflikt-73682.htm )

ANHANG

Auszug aus der Stellungnahme des Beirats Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung, Mai 2022, https://beirat-zivile-krisenpraevention.org/publikation/stellungnahme-ukraine/

Das Politikfeld der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung erfuhr nach Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er Jahren mit den Balkankriegen steigende Anerkennung. Da zwischenstaatliche Gewaltkonflikte seltener geworden waren, lag der Fokus der zivilen Krisenprävention und ihrer neuen Instrumente auf der Prävention und Überwindung innerstaatlicher Gewaltkonflikte und fragiler Staatlichkeit. Dies gilt auch für die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ der Bundesregierung von 2017. Zwischenstaatliche Kriege gerieten in Krisenprävention und deutscher Außenpolitik fast in Vergessenheit. In breiten Teilen der deutschen Gesellschaft, auch der friedenspolitischen Öffentlichkeit, wurde das Bedrohungspotenzial von Machthabern unterschätzt, die auf militärische Durchsetzung ihrer Interessen setzen.

Ziel von Krisenprävention und Friedensförderung ist, zur Verhinderung und Beendigung von Gewalt beizutragen und eine friedliche Konfliktbearbeitung zu fördern. Gleichzeitig sollen besonders gefährdete Gruppen aktiv vor direkter Gewalt geschützt werden. In laufenden zwischenstaatlichen, bewaffneten Konflikten sind die Wirkungsmöglichkeiten von ziviler Konfliktbearbeitung jenseits von Diplomatie ein-geschränkt. Aber Akteur:innen aus humanitärer Hilfe, Entwicklungs- und Friedensarbeit leisten in dieser Phase, wie aktuell in der Ukraine, wichtige Beiträge. So begleiten sie traumatisierte Menschen, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen und sichern das kollektive historisch-kulturelle Gedächtnis vor der Vernichtung. Sie helfen, während der kriegerischen Auseinandersetzungen in und zwischen den betroffenen Gesellschaften Brücken der Menschlichkeit zu erhalten.

[1] Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, Mitglied im Beirat Innere Führung der Verteidigungsministerin, Präsidium Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, „Lachen helfen“, AG „Gerechter Frieden“ von Justitia et Pax, BAG Frieden & Internationales von Bündnis 90/Die Grünen, Sachverständiger in der Bundestags-Enquete-Kommission zum deutschen Afghanistaneinsatz

[2] Brief Nachtwei an Käßmann anlässlich der Neujahrspredigt 2010 mit der Aussage „Nichts ist gut in Afghanistan“,  „Danke, dass Sie Anstoß erregt haben …“, 14.01.2010,  https://taz.de/Brief-Nachtwei-an-Kaessmann/!5149475/

 

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