Nach dem strategischen Scheitern in Afghanistan ENDLICH Wirkungsanalyse und LERNEN. Nach 20 Jahren AFG-Begleitung jetzt die Fortsetzung.
Meine Berufung in die Enquete—Kommission des Bundestages zu Afghanistan, Winfried Nachtwei (18.09.2022) (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Vor einem Jahr endeten 20 Jahre internationaler und deutscher Afghanistaneinsatz mit einem strategischen Scheitern und der Rückkehr der Taliban an die Macht. Es war das größte Scheitern bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik seit ihrem Bestehen. In Teilen der Politik und (Medien-)Öffentlichkeit gibt es nach jahrelanger Afghanistanmüdigkeit und begünstigt durch die anhaltende Konkurrenz von Großkrisen eine Verdrängungsbereitschaft diesem politischen Tiefschlag gegenüber. Umso wichtiger ist, dass der Deutsche Bundestag zwei Untersuchungskommissionen beschlossen hat:
– den 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) zu den letzten zwei Jahren des Einsatzes und dem desaströsen Ende für viele afghanische Menschen, vor allem Ortskräfte, und
– die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ zu dem ganzen Einsatzzeitraum 2001 bis 2021. Im Unterschied zum rein parlamentarischen Untersuchungsausschuss setzt sich die Enquete-Kommission aus je 12 Bundestagsabgeordneten und 12 Sachverständigen zusammen. Letztere haben dieselben Rechte wie die Abgeordneten. (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw27-de-enquete-afghanistan-900510 ) Die Kommission soll spätestens nach der Sommerpause 2024 ihren Bericht vorlegen. Ihr Vorsitzender wird aller Voraussicht nach MdB Michael Müller, vormals Regierender Bürgermeister von Berlin.
Unser Team
Auf Vorschlag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen berief Bundestagspräsi-dentin Bärbel Bas Dr. Katja Mielke, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), und mich als ständige Sachverständige. Wir arbeiten im Team mit den grünen Abgeordneten Schahina Gambir (Obfrau, https://schahina-gambir.de/ ), Philip Krämer (https://www.philip-kraemer.de/ ) und Dr. Anja Seiffert als wissenschaftliche Mitarbeiterin zusammen.
Katja Mielke beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Afghanistan und betrieb dort mehrfach Feldforschungen. Im Mai veröffentlichte sie mit Conrad Schetter „Die Taliban – Geschichte, Politik, Ideologie“. ( https://www.bicc.de/about/staff/staffmember/member/352-mielke/ )
Ich war von 2001 bis 2009 an 20 Mandatsentscheidungen beteiligt, besuchte das Land bis 2019 zwanzig Mal und begleitete den zivil-militärischen Einsatz intensiv durch Recherchen, selbstkritische Publikationen (rund 250) und Vorträge. Als Mitglied des Beirats Innere Führung engagiere ich mich seit vielen Jahren besonders für Einsatzgeschädigte, in den letzten Jahren auch für einen verlässlichen Schutz der afghanischen Ortskräfte. Unter den (ehemaligen) Abgeordneten des Bundestages bin ich wohl der einzige, der den Afghanistaneinsatz von Anfang bis Ende miterlebt hat.
Dr. Anja Seiffert hat als langjährige Mitarbeiterin des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) die erste sozialwissenschaftliche Langzeitstudie zu einem deutschen ISAF-Kontingent durchgeführt und ist für die Arbeit bei der grünen Fraktion beurlaubt. ( https://zms.bundeswehr.de/de/dr-anja-seiffert-5409102 )
Von den Sachverständigen, die von den anderen Fraktionen vorgeschlagen wurden, sind mir die meisten, teilweise durch langjährige Kontakte in Sachen Afghanistan, bekannt.
Lernschwäche
Die Bilanzierung des Afghanistaneinsatzes und ein sorgfältiges Lernen aus dem Einsatz war überfällig: Seit 2006, seit der damals erkennbaren Lageverschärfung haben meine Fraktion und ich als ihr sicherheitspolitischer Sprecher immer und immer wieder auf eine ehrliche Bestandsaufnahme, Bilanzierung und Wirkungsevaluierung des Einsatzes gedrängt – nicht nur auf der taktischen Ebene von Maßnahmen, Projekten und Programmen, sondern auch auf der politisch-strategischen Ebene.
Von Seiten der Entsandten gab es für die Forderung viel Zuspruch, nicht jedoch auf der Leitungsebene der Ressorts. Über 14 Jahre Gummiwand und Lernverweigerung! Auch wechselnde Koalitionsmehrheiten fanden nicht die Kraft, eine unabhängige Bilanzierung und Evaluierung gegenüber der Exekutive durchzusetzen. Die in Deutschland vergleichsweise weitgehende Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen hätte Möglichkeiten dazu geboten.
Der Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung veröffentlichte im November 2021 Empfehlungen zur „Wirkungsevaluierung der deutschen und zivilen Beiträge zum multinationalen Afghanistan-Engagement 2001 – 2021“. Wesentliche Forderungen fanden ihren Niederschlag im Beschluss des Bundestages vom Juli 2022 zur Einsetzung der Enquete-Kommission.
Treibende Motive
Ich unterstütze auf Anfrage der grünen Fraktion die Arbeit der Enquete-Kommission aus mehreren Gründen:
– Nach dem Einsatzabbruch und dem Scheitern im Großen ist das LERNEN daraus das Mindeste, wozu die Auftrag gebende Politik verpflichtet ist:
– gegenüber den Millionen Menschen in Afghanistan, die mit dem internationalen Einsatz Hoffnungen verbunden hatten und im Stich gelassen wurde;
– gegenüber den entsandten Frauen und Männern, die große Strapazen und Belastungen auf sich genommen hatten, insbesondere denjenigen, die an Leib und Leben verwundet wurden, die Kameraden und Angehörige verloren haben;
– gegenüber den Steuerzahler.innen.
Grundanforderungen
Die Bilanzierung und Wirkungsevaluierung beginnt nicht bei null. Es gibt viele Studien und Teilevaluierungen, insbesondere auf der Ebene von Maßnahmen und Programmen. Ich selbst habe seit 2002 fast jährlich Zwischenbilanzierungen veröffentlicht, die aber weit entfernt waren von einer Evaluierung.
Neu und zentral ist jetzt
– der ressortübergreifende Ansatz, nachdem die öffentliche Wahrnehmung des Afghanistaneinsatzes überwiegend auf das Militärische fokussiert war,
-der Untersuchungszeitraum über die ganzen 20 Jahre, während die im Vorjahr gestarteten Ressortevaluierungen von AA, BMZ und BMI nur den Zeitraum 2013 bis 2021 in den Blick nehmen und dadurch die ausschlaggebenden Weichenstellungen und (Fehl-)Entwicklungen des ersten Einsatzjahrzehnts außer Acht lassen,
– die Einbeziehung der politisch-strategischen Ebene der politischen Auftraggeber, Steuerung und Kontrolle (Bundesregierung, Bundestag, Bündniskontexte),
– nicht beim „Warum“ des Scheiterns im Großen stehenzubleiben, sondern wesentliche Lehren zu identifizieren.
Damit die Lehren der Kommission auch ankommen und nicht in der Ablage verschwinden, sind die Unabhängigkeit und das politische Gewicht der Kommission und die Glaubwürdigkeit und Lesbarkeit ihres Berichts von elementarer Bedeutung.
Unabhängigkeit ist gefragt gegenüber Parteiinteressen, anderweitigen Loyalitäten und auch gegenüber bisherigen eigenen Positionierungen. Die parteipolitische „Rücksichtslosigkeit“, die wir in der von mir geleiteten unabhängigen Kommission „G36 im Einsatz“ (2015) praktizierten, ist meine Richtschnur.
Bisherige Enquete-Kommissionen produzierten in der Regel voluminöse Berichtswälzer, die ein politisches Lernen eher überforderten als beförderten. Dieses Risiko werden wir im Blick haben müssen.
Als parlamentarischer Mitauftraggeber des deutschen ISAF-Einsatzes in den ersten Jahren trage ich Mitverantwortung für diesen Einsatz. Damit besteht das Risiko von Befangenheit und apologetischer Haltung. In meinen alle auf www.nachtwei.de veröffentlichten AFG-Beiträgen kann über die Jahre nachvollzogen werden, wie ich mit diesem Risiko umgehe. Außer bei der Linken und der AfD gelte ich als ziemlich unabhängiger Politiker.
Besondere Herausforderungen
Die Enquete-Kommission zum deutschen Beitrag zum internationalen Afghanistan-Engagement ist ein Großprojekt institutionellen Lernens auf dem Feld der auswärtigen Politik. Abgesehen davon, dass es eine Enquete-Kommission in Deutschland zu diesem Politikfeld nur einmal (Auswärtige Kulturpolitik 1973-79) gegeben hat. In meinen 15 Bundestagsjahren erlebte ich oberhalb der zahllosen individuellen Lernprozesse auf der Ebene des institutionellen Lernens ernüchternd viel Lernschwäche bis Lernverweigerung.
Wo es um Wirkungsbewertung in multidimensionalen und multinationalen Kontexten und Verbünden geht, ist die Identifizierung nationaler Anteile besonders schwierig.
Um konstruktiv lernen zu können und nicht zu einem Treiber weiterer Hoffnungslosigkeit und Entmutigung zu werden, ist es unverzichtbar, neben der Analyse wesentlicher Fehler und Fehlentwicklungen auch sinnvolle Maßnahmen und Ansätze ausfindig zu machen. Dabei müssen die Leistungen von zigtausenden Entsandten, die zu Teilerfolgen am Boden beitrugen, gebührend beachtet werden. Nach meiner Erfahrung lag es nicht am Bodenpersonal, dass der umfangreichste, teuerste und opferreichste deutsche Kriseneinsatz strategisch scheiterte.
Die Enquete-Kommission bietet die Chance, dass über die Vergangenheitsaufarbeitung hinaus wieder Aufmerksamkeit zunimmt für das heutige Afghanistan, für seine seit mehr als 40 (!) Jahren kriegsgeplagten Menschen. Der von zwei US-Präsidenten initiierte bedingungslose Einsatzabbruch und der strategische wie menschliche Verrat an Millionen Menschen in Afghanistan darf und kann kein Schlussstrich unter das Kapitel Afghanistan sein.
Eigene Beiträge zu einer Bilanzierung des Afghanistaneinsatzes (Auszug)
– Afghanistan – Das Scheitern im Großen. Dringendes Lernen geht nur mit Ehrlichkeit und Konsequenz auf allen Ebenen, Essay, IF 2/22, Zeitschrift für Innere Führung, https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5376782/99bca3b97ab7d2fa5131c9a17df5ab3b/if-zeitschrift-fuer-innere-fuehrung-02-2022-data.pdf
– Afghanistan: Unser Scheitern im Großen – Bilanz eines Mitauftraggebers (17.01.2022), in SIRIUS – Zeitschrift für strategische Analysen. 6/2021
– Stellungnahme „Wirkungsevaluierung der deutschen zivilen und militärischen Beiträge zum multinationalen Afghanistan-Engagement 2001-2021“ des Beirats Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung, November 2021 (Mitglieder Generalleutnant a.D. Rainer Glatz, Prof. Andreas Heinemann-Grüder, Prof. Hans-Joachim Gießmann, Winfried Nachtwei/AG-Leitung, Ltd. Kriminaldirektor Lars Wagner), https://beirat-zivile-krisenpraevention.org/publikation/stellungnahme-wirkungsevaluierung-afghanistan/
– Offener Brief an Afghanistan-Veteranen und Einsatzpraktiker: Nach 20 Jahren Afghanistaneinsatz Rückkehr der Taliban an die Macht – war alles umsonst und sinnlos? 20.09.2021, https://www.facebook.com/EinsatzVeteranen/ ; https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/blickpunkt/beitrag/nachtwei-zum-ende-des-afghanistan-einsatzes-ein-historisches-scheitern-und-zum-verzweifeln ; „Der Deutsche Fallschirmjäger“, Zeitschrift des Bundes Deutscher Fallschirmjäger, 5/2021
– Beiträge + Artikel zu Lage + Perspektiven in Afghanistan und zur Bilanzierung des militärischen und zivilen Einsatzes seit Ende 2019 – und einige frühe Warnungen, September 2021, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1718 (44.585 Aufrufe bis 16.09.22)
– Buchbeitrag: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr – Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung, in: Anja Seiffert, Phil C. Langer, Carsten Pietsch (Hrsg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan – Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, Jahresschrift 2011 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Dezember 2011
– Stellungnahme in der Öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages über „Kriterien zur Bewertung des Afghanistan-Einsatzes“ am 23.11.2010 in Berlin, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2010/32258461_kw47_pa_auswaertiges/203242
– Buchbeitrag: Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr – Anmerkungen zu einer überfälligen Bilanzierung, in: Friedensgutachten 2010 der fünf deutschen Friedensforschungsinstitute, Berlin Mai 2010
Stellungnahme: Vor den Wahlen in Afghanistan und Deutschland: Die deutsche Afghanistanpolitik braucht Ehrlichkeit und Konsequenz statt Beschönigung und Halbherzigkeit, Diskussionsbeitrag August 2009, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=39-83&aid=901
– Stellungnahme: Dringende Fragen: Afghanistan auf der Kippe? Juli 2006, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=380