Bericht von der 4. Gedenkreise des Dt. Riga-Komitees: Meilensteine der Erinnerung + traumatische Erfahrungen mit 50 Jahren wechselnder Okkupationen

Auf den Spuren der nach Riga 1941/42 verschleppten + dort ermordeten jüdischen Nachbarn von nebenan. Im ANHANG Besuch des erneuerten Okkupationsmuseums.

Bericht von der 4. Gedenkreise des Deutschen Riga-Komitees – Meilensteine der Erinnerung + traumatische Erfahrungen mit 50 Jahren wechselnder Okkupationen

Winfried Nachtwei[1], Oktober 2022

Im Mai 2000 schlossen sich auf Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge 13 deutsche Städte im Deutschen Riga-Komitee zusammen, um gemeinsam an die rund 25.000 jüdischen Menschen zu erinnern, die 1941/42 aus ihren jeweiligen Regionen (und aus Wien und Theresienstadt) in das „Reichsjudenghetto“ Riga deportiert worden waren.

An der 4. Gedenkreise des Riga-Komitees vom 03. bis 05. Juli 2022 nahmen Delegierte aus 31 Mitgliedsstädten teil. Die Gedenkreise war ursprünglich für die Tage um den 30. November 2021 geplant, dem 80. Jahrestag des „Rigaer Blutsonntags“. Wegen Corona musste die Reise auf den 3.-6. Juli 2022 verschoben werden, Ich flog fünf Tage eher in die lettische Hauptstadt, um die politische Lage angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu erkunden und um vor allem nach dreijähriger Unterbrechung wieder den 96-jährigen Margers Vestermanis ausführlich treffen zu können. Ihm, dem Überlebenden von Ghetto und KZ und Begründer des Museums „Juden in Lettland“ sind wir erstmalig 1989 begegnet, Das war der Anstoß für meine Spurensuche zu den Riga-Deportationen und zum Rigaer Ghetto. Sie ging einher mit einer familiären Freundschaft zwischen Margers und seiner Frau Eva sowie meiner Frau Angela und mir. Im April 2022 starb Eva nach 76 gemeinsamen Jahren. Im Mai 2021 starb Angela nach 55 gemeinsamen Jahren. Bei der Spurensuche und Erinnerungsarbeit zum Rigaer Ghetto war Angela von Anfang an eine zentrale menschliche Triebkraft und Stütze.

In der Zeitschrift in „Frieden“ des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (02/2022) berichtet Harald John in dem Artikel „Narben, die noch bluten“ umfassend über die Reise: https://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion_BG/Mediathek/Mitgliederzeitschrift/Frieden22022-Internet_Neu.pdf  (Links zu Berichten über frühere Gedenkreisen am Schluss)

Im Folgenden mein persönlicher Reisebericht mit Ergänzungen in Kursiv.

Im ANHANG ein Bericht zum neu gestalteten Okkupationsmuseum, Informationen zu einem frühen Kapitel der lettischen Gewaltgeschichte (Lettische Sowjetrepublik 1919) und Informationen zu einem Volksbund-Interview mit Margers Vestermanis.

STATIONEN DER REISE

  1. Juli

Die Reisegruppe ist ganz zentral im Hotel Radisson Blu Latvija untergebracht, dem bei weitem höchsten der Stadt mit Prachtblick über die Altstadt. Am Abend des 03. Juli begrüßt

Wolfgang Wieland, Vizepräsident des Volksbundes, die Mitreisenden: Der gegenwärtige Angriffskrieg gegen die Ukraine überschatte alles. Niemand wolle die Dimensionen dieses Krieges mit dem deutschen Vernichtungskrieg gleichsetzen. Die Arbeit des Volksbundes sei jetzt nicht überflüssig geworden. Die Versöhnungsarbeit werde fortgesetzt. (Vgl. dazu Artikel in „Frieden“ 02/2022)

Die Vorstellungsrunde verdeutlicht die Vielfalt der Gruppe, darunter 13 (Ober-)Bürger-meister:innen und stellvertretende. Vertreten sind die Städte Bayreuth, Berlin (ein Staatssekretär, ein ehem., zwei Schüler), Bielefeld, Bocholt, Bochum, Bremen, Dorsten, Dortmund, Drensteinfurt, Dresden (sechs, darunter der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde), Düsseldorf , Hamburg, Hannover, Kiel, Krefeld, Lübeck, Marburg, Mönchengladbach, Münster (die offizielle Delegation fehlt, weil ihr Flug kurzfristig ausfiel), Nürnberg, Oberhausen, Paderborn, Rheine (mit drei stellv. Bürgermeistern), Warendorf, Wien, Würzburg. Eine besondere Freude ist nach zwanzig Jahren die Wiederbegegnung mit Wolfgang Freiherr von Stetten aus Künzelsau. Seit 1994 setzten wir uns im Bundestag, er als CDU-Abgeordneter, gemeinsam für die Holocaust-Überlebenden im Baltikum ein. Parteipolitisch trennten uns Welten. Aber da wir beide die Lage der Überlebenden sehr persönlich kannten, spielte die Parteipolitik keine Rolle.

Der deutsche Botschafter Christian Heldt (frühere Stationen u.a. Tel Aviv, Rom, Paris, Pristina) gibt einen Überblick über die aktuelle Lage:

Litauen, Lettland und Estland seien durch den Ukrainekrieg sehr betroffen. Es könnte auch ihnen passieren. Das sei ein Grundgefühl seit der Unabhängigkeit. Eine unterschwellige Angst vor Wiederholung. Putin`s Reich sei nur 250 km entfernt. Wie um den 9. Mai („Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland“) in sozialen Medien über die ethnischen Letten hergezogen wurde!  Imperiale Töne!  Putin erinnerte an die Nordischen Kriege, als das zaristische Russland das Baltikum einverleibte.

Die konkreten Bedrohungsszenarien seien weniger militärisch als hybrid (militärische Drohungen, Propaganda, Erpressung). Das Energie- und Stromnetz sei mit Russland verkoppelt, die Ukraine mehr mit Europa. Dem Baltikum fehle die strategische Tiefe.

Im Laufe der Geschichte wurde die Bevölkerung ausgetauscht. 1990 waren nur 52% der Bevölkerung ethnische Letten. Zuwanderer kamen aus allen Teilen der Sowjetunion.

Eine Umfrage im April ergab, dass mehr als die Hälfte der Russischsprachigen beim Ukrainekrieg weder für die Ukraine noch für Russland votieren. Das fördere den Verdacht von 5. Kolonne. Es gebe auch einen postsowjetischen Reflex von „ja nicht auffallen!“

(35% der Bevölkerung sind russischsprachig, ein Drittel davon bilingual, in Riga knapp 40%, in Daugavpils 54%. Lt. Umfrage Anfang März äußerten sich 22% der Russischsprachigen pro Ukraine, 21% pro Russland. R. Veser, Zeit des Misstrauens, FAZ 06.05.2022 Jüngere Umfragen geben ein differenzierteres Bild: 46% äußern Sympathien für Russland, aber nicht für dessen Politik; Jüngere sehen die russische Politik deutlich kritischer als Ältere. FAZ 12.07.2022)

Ein Positivbeispiel sei die russischstämmige, brillante bisherige Innenministerin Marija Golubeva , die sich klar gegen den Angriffskrieg positioniert habe. Die Harmoniepartei (Saskana) war immer die Stimme der Russischsprachigen. Im Parlament trug sie den einstimmigen Beschluss der Verurteilung des Ukraine-Überfalls mit. Ihre Umfragewerte sinken inzwischen, während die der radikal-russischen Partei steigen. (Bei der Parlamentswahl am 1. Oktober verlor Saskana, bisher stärkste Fraktion, mehr als dreiviertel der Stimmen und verpasste den Einzug ins Parlament)

Die lettische Führungsschicht sei gegenüber Deutschland sehr aufgeschlossen: Der Staatspräsident, Ministerpräsident, außenpolitische Berater – alle besuchten das Lettische Gymnasium in Münster. Allerdings wird in der deutschen Politik eine gewisse Verzagtheit gesehen. Eindruck von angezogener Handbremse.

Der Besuch der deutschen Außenministerin im April sei der erste Besuch eines deutschen Regierungsmitglieds seit Anfang der 2020er Jahre gewesen.

  1. Juli

Begrüßung durch den Oberbürgermeister der Stadt Riga Martins Stakis im Rathaus. In der Fragerunde geht es zuerst um die Flüchtlinge aus der Ukraine. In einer polnischen Stadt mit 200.000 Einwohnern seien inzwischen 100.000 Flüchtlinge. In Riga seien viele Flüchtlinge aus Mariupol, das zu 90% zerstört sei, zum großen Teil Frauen und Kinder.

Offizielle Gedenkfeier am Mahnmal auf den Ruinen der Großen Chorals-Synagoge an der Gogolstraße, die am 4. Juli 1941, vier Tage nach dem deutschen Einmarsch, mit mehreren hundert jüdischen Menschen, niedergebrannt wurde – wie alle Synagogen in der Stadt, ausgenommen die in der Altstadt. Spontan berichte ich über die Geschichte dieses Ortes und des nicht weit entfernten Ghettos.

Zu den mehr als 200 Anwesenden sprechen Staatspräsident Egils Levits, Parlamentspräsiden-tin Imara Murnierce, die Botschafterin Israels, Vertreter der Jüdischen Gemeinde, des Diplomatischen Corps und für das Riga-Komitee Michael Hurschell, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Dresden. In großer Zahl werden Kränze und Blumen niedergelegt.

2017, bei unserer letzten Gedenkreise, konnte Margers Vestermanis noch zu der Versammlung sprechen. Jetzt geht das nicht mehr. Verglichen mit vor fünf Jahren sind jetzt weniger Alte vor Ort.

Durchquerung des ehemaligen Ghettos in der Moskauer Vorstadt über die Ludzas Iela ohne Halt.

(Auszug aus dem Reisebericht 2017:

Über die Ludzas iela, die Längsachse des früheren Ghettos (Leipziger Straße), fahren wir in das Viertel, halten ein Haus vor der Nr. 56, dem inzwischen renovierten Gebäude der früheren Kommandantur. In dem ärmlichen Arbeiterviertel der Moskauer Vorstadt lebten ursprünglich rund 10.000 Menschen. Ab der zweiten Augusthälfte 1941 entstand hier das Rigaer Ghetto, wurden hier 30.000 Rigaer Juden zusammengepfercht. Gezeigt wird eine Seite aus der „Deutschen Zeitung im Ostland“ vom 25. Oktober 1941: Eine ganz normale deutsche Zeitungsseite mit dem „Spielplan der Rigaer Oper“ etc., dazwischen ein Artikel, in dem sich der Autor zynisch über die Insassen des Ghettos auslässt.

Einen Tag vorher hatte der Chef der Ordnungspolizei in Berlin per Schnellbrief an die unterstellten Behörden im Reich die geplante „Evakuierung“ von Juden zum „Arbeitseinsatz im Osten“ mitgeteilt. Nach Minsk und Riga sollten insgesamt 50.000 Juden „evakuiert“ werden, in Zügen zu jeweils 1.000 Personen aus den Räumen Berlin, Leipzig/Dresden, Hamburg, Hannover, Münster/Osnabrück/Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Kassel, Stuttgart, Nürnberg, Wien und Theresienstadt.

„Höherer SS- und Polizeiführer Ostland und Russland Nord“ (HSSPF) wurde am 10. November 1941 der SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln. Vom Reichsführer SS Heinrich Himmler erhielt er den Befehl, „Platz zu schaffen“ für die angekündigten Deportationszüge. Jeckeln war als HSSPF Russland Süd (Ukraine) verantwortlicher Planer und Organisator mehrerer Großmassaker an der dortigen örtlichen jüdischen Bevölkerung, so in Dnjepropetrowsk mit 11.000 und in Babi Jar bei Kiew mit mehr als 33.000 Todesopfern.

Am 30. November 1941 frühmorgens rückten deutsche und lettische Kräfte über die Ludzas iela in das Ghetto ein. Die Menschen wurden aus den Häusern getrieben und mussten Marschkolonnen bilden. Erst wurde gebrüllt, dann geprügelt, schließlich geschossen.

1991 berichtete uns Margers Vestermanis, wie er diesen Tag als 16-Jähriger erlebt hatte: Er bekam den Befehl, zusammen mit einem Kameraden Kinderleichen aufzusammeln und auf einem Schlitten zum Alten Jüdischen Friedhof zu bringen. Das war am „Rigaer Blutsonntag“, als im Wald von Rumbula allein 15.000 Menschen ermordet wurden. (s. auch Nr. 15)

Nördlich der Ludzas iela bestand noch zwei Jahre das sogenannte „Kleine Ghetto“ mit wenigen tausend noch arbeitsfähigen lettischen Juden. Südlich der Ludzas iela wuchs ab Ankunft des Kölner Transports am 10. Dezember 1941 binnen einiger Wochen das „Reichsjudenghetto“. (Aufgelöst am 2. November 1943 war es das einzige über längere Zeit bestehende „Reichsjudenghetto“ im ganzen Osten.)

Weiter über die Ludzas iela bis zur zweiten Straße rechts: die Vilanu iela, zur Ghettozeit Bielefelder Straße genannt nach dem Transport, der hier untergebracht wurde. Die fünfstöckige Nr. 7 ist mit einer Plane verhüllt und wird offenbar renoviert. Das Gebäude hieß mal „B 7“. Als wir 1991 bei den Dreharbeiten zum ersten Film über die Riga-Deportationen mit Irmgard Ohl und Ewald Aul, Überlebenden des „Bielefelder Transports“, in die Straße hineinfuhren, erkannten sie spontan „ihr Haus“. Im ersten Stock mussten sie zu acht in zwei Räumen leben. (…)

Der Alte jüdische Friedhof . Er bestand seit 1725. Beerdigungen fanden hier bis in die späten 1930er Jahre statt. Am 4. Juli 1941 wurde auch hier gewütet. Alle Gebäude wurden mitsamt den Friedhofsangestellten und ihren Familien sowie in der Umgebung ergriffenen Juden, insgesamt etwa 50 Menschen, verbrannt.

In der Ghettozeit wurden am Rand des Friedhofs immer wieder Menschen erschossen, insbesondere vom Ghettokommandanten Krause. Insgesamt wurden hier über 1.000 in den Häusern und Straßen des Ghettos getötete Juden verscharrt.

Nach dem Krieg wurden viele Grabsteine als Baumaterial missbraucht und der eingeebnete  Friedhof „Park der kommunistischen Brigaden“ genannt. Seit 1992 heißt der Park wieder „Alter Jüdischer Friedhof“. 1994 wurde hier ein Gedenkstein errichtet und an die Geschichte des Ortes erinnert – auch mit Hilfe einer Spendensammlung in Deutschland.

Ehemaliger „Blechplatz“ an der Kreuzung Liksnas/Virsaisu iela (Prager/Düsseldorfer/ Kölner Str.): Hier fanden zur Ghettozeit die Appelle statt, hier stand der Galgen, hier nahmen am 5. Februar und 15. März 1942 die sogenannten „Dünamünde-Aktionen“ ihren Anfang. Es hieß, in der Fischkonservenfabrik in Dünamünde gebe es ein leichteres Arbeitskommando. Mehrere tausend Menschen wurden bei großen Appellen aussortiert und auf Lkw verfrachtet. In einem kleinen Betriebsgebäude direkt neben dem Blechplatz hatten Häftlingsfrauen immer wieder die Aufgabe, eintreffende große Mengen an Kleidungs- und Gepäckstücken zu sortieren. Wenige Tage nach dem Appell wurden Befürchtungen zur Gewissheit: Die Frauen entdeckten Kleidungstücke von Verwandten, verdreckt, mit Blutspuren. Es gab kein Arbeitskommando in Dünamünde! Die Menschen waren in den „Hochwald“ gebracht und dort erschossen worden. Dünamünde war für die reichsdeutschen Juden eine Zäsur. Damit begann auch für sie die Massenvernichtung.

Ergänzend berichte ich von dem Urteil des Landgericht Hamburg gegen Gerhard Maywald. Er galt als die rechte Hand des Kommandeurs des Einsatzkommandos 2, als Initiator und Hauptselektierer der Dünamünde-Aktion, als Erbauer der Lager Salaspils bei Riga und Trostenez bei Minsk. Das Landgericht Hamburg 1977: Es sei nicht feststellbar gewesen, ob Dünamünde „kraft tatbezogener Merkmale als Mord zu werten ist. (…) Es ist nicht bewiesen, dass die von Maywald selektierten Opfer heimtückisch getötet worden sind, weil nicht aufgeklärt werden konnte, ob eine möglicherweise versuchte Täuschung über ihr Schicksal erfolgreich war. Entsprechendes gilt für die Frage, ob die Opfer grausam getötet wurden, da Einzelheiten über den Vorgang der Tötung nicht bekannt geworden sind.“ Mit anderen Worten bedeutete das, solange keiner der Getöteten berichten kann, dass die Tötung grausam war, kann auch keine Grausamkeit angenommen werden! Das war die dem Urteil zu Grunde liegende „Logik“. Am Ende wurde Maywald zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Absitzen der Reststrafe wurde ihm erlassen, weil ihm durch 15-jährige Ermittlungen schon genug Unbill widerfahren sei.

Vorbei am heute zugebauten Blechplatz biegt nach links (südlich) die Sarkana iela ab. In dem dreistöckigen Backsteinbau auf der rechten Seite lebten jüdische Hannoveraner, unter ihnen Else und Max Fürst, die Großeltern des mitreisenden Michael Fürst.

Rangierbahnhof Skirotava: südöstlich vom Stadtzentrum stadtauswärts zwischen Kengarags und Rumbula. Am 14. Juni 1941 wurden von hier über 15.424 Menschen Richtung Sibirien (Raum Krasnoyarsk, Tomsk, Omsk) deportiert (zeitgleich auch 21.000 aus Litauen und 11.000 aus Estland), am 25. März 1949 weitere 42.125. Hier wie in Jungfernhof und im Museum „Juden in Lettland“ Führung durch den Direktor des Museums Ilja Lenskis

Am frühen Morgen des 30. November 1941 traf hier ein erster Zug aus dem Reich mit 1.053  Menschen aus Berlin ein. Alle wurden sofort im nahen Wald von Rumbula – vor den Rigaer Juden – erschossen. Bis Anfang Februar 1942 trafen hier 20 weitere Züge ein.

Vom Düsseldorfer Transport (Abfahrt 11. Dezember 1941) ist noch der Bericht des Leiters des polizeilichen Begleitkommandos, des Hauptmann der Schutzpolizei Paul Salitter erhalten. In Skirotava kreuzen sich die Wege der Opfer des stalinistischen und nazistischen Terrors. An die letzteren erinnert hier bis heute kein Wort.

Am 30. November 2021, 80 Jahre danach, fand hier eine Gedenkveranstaltung statt, zu der die Mitgliedsstädte des Riga-Komitees wegen der Corona-Lage online zugeschaltet waren und sich ihre Vertreter:innen zu Wort meldeten.

Ehemaliges SS-Lager Jungfernhof (Jumpravmuiza) an der Daugava

(Im Südosten des Stadtzentrums an der Ausfallstraße Maskavas iela ungefähr in Höhe des eineinhalb km entfernten Bahnhofs Skirotava vorm ehemaligen Flugfeld nach rechts/Süden, die kleine Parallelstraße Mazjumpravas iela/Klein-Jungfernhof querend zum Fluss)

Ende 1941 befand sich hier ein verfallener Gutshof mit Gutshaus, drei Holzscheunen und fünf kleineren Gebäuden und Ställen. Er sollte ein SS-Gutshof werden. In der Nähe war ein Militärflughafen Rumbula geplant.

Am 2. Dezember traf der zweite Deportationszug aus dem Reich in Riga ein – mit 1.008 Menschen aus Nürnberg/Franken, davon 200 aus Würzburg. Erhalten ist der Bericht des Würzburger Ehepaars Georg und Käthe Fries. Nur sie überlebte.

Da im Ghetto noch kein Platz war, wurden die Ankömmlinge nach Jungfernhof getrieben. Einfachste Unterbringungsvoraussetzungen fehlten. Es gab keine Türen und keinen Ofen, die Fenster offen, das Dach defekt. Schnee fegte durch die Scheune. Am 4. Dezember traf der nächste Transport mit 1013 Menschen aus dem Raum Stuttgart ein, dann am 6. Dezember 1.001 aus Wien, am 9. Dezember 964 aus Hamburg/Lübeck/Danzig. Im harten Winter 1941/42 starben allein 800-900 Menschen. Das Lager war von keinem Zaun, sondern einer mobilen Postenkette der lettischen Hilfspolizei umgeben. Wer die Lagergrenze überschritt, wurde sofort erschossen.

Der Hamburger Oberrabbiner Dr. Joseph Carlebach gehörte mit seiner Frau Charlotte und den Kindern Ruth, Noemi und Sarah zu den Jungfernhof-Gefangenen. Im Lager galt er als große moralische Autorität: Er organisierte Schulunterricht, suchte Schwerkranke auf und beging die Chanukka-Feier (jüdisches Lichterfest) für die Kinder in der großen Männerbarracke. Am 26. März 1942 fand auch in Jungfernhof eine Dünamünde-Aktion statt. Ihr fielen 1.700-1.800 Menschen zum Opfer, unter ihnen die ganze Familie Carlebach. Von den rund 4.000 Jungfernhof-Häftlingen überlebten 148.

Bei einem ersten Besuch hier im Jahr 1991 war das Gelände verwildert, dazwischen Gebäudereste. Jetzt zieht sich ein kleines Naherholungsgebiet am Fluss lang, mit Wiese, Radweg, einem Teich. Daneben befindet sich in einer ehemaligen Wassermühle inzwischen ein Wassermühlen-Museum. m Abstand von knapp 100 Metern zwei Gebäuderuinen (nur Fundamente und Mauerreste), der größere auf einer leichten Anhöhe aus Backsteinen, das kleinere aus gröberen Steinen. Ilja Lenskis kann seine Ausführungen zu Jungfernhof mit neueren Materialien, z.B. Luftaufnahmen des Geländes vor 1941 illustrieren.

Auf dem Freigelände suchen zwei Professoren und mehrere Studierende aus den USA mit modernem Instrumentarium nach Spuren von Massengräbern.

Zeitzeugengespräch mit Margers Vestermanis im ersten Stock des Jüdischen Zentrums in der Skolas Iela: Er sitzt an einem kleinen Tisch mit Mikro. Auf die Frage, ob er vorgestellt werden solle, antwortet er „lieber nicht“ und legt los.

Gut, dass heute Ausländer zum Trauertag gekommen seien. Viele Jahre sei das verboten gewesen. Die Gewalt gegen Juden begann in der ersten Nacht der deutschen Besatzung (1. Juli 1941) . Menschen wurden mit Kolben erschlagen, erschossen. Laut Stahlecker (SS-Brigadeführer, Generalmajor der Polizei und Kommandeur der Einsatzgruppe A von Sicherheitspolizei und SD) sollte das im besetzten Gebiet abschreckend wirken. Er berichtete nach Berlin, dass am 4. Juli 400 Juden getötet worden seien.

„Ich bin Überlebender, das können Sie bestätigen, bald 97 Jahre, Haft, Ghetto, Arbeitslager, KZ Kaiserwald und Dundangen; bei der Evakuierung auf dem Marsch nach Libau zusammen mit nicht weniger als 300 Häftlingen geflohen.“ Im dichten Fichten- und Tannenwald von Kurland habe er von Juli 1944 bis 9. Mai 1945 ums Überleben gekämpft. Er gehörte zu einer Partisaneneinheit, traf auf einen deutschen Soldaten, Egon Klinke (geb. 23.3.1920, Obergefreiter, 2. Batterie der Heeresartillerie-Abt. 929, 18. Armee): „Ich hatt` einen Kameraden, einen besseren gibt es nicht.“ In der Neujahrsnacht war er unvorsichtigerweise besoffen, sang deutsche Soldatenlieder, wurde erschossen.

Nach Vernichtung seiner Einheit schlug er sich allein, bewaffnet mit einem Karabiner ohne Visier, bis zum 9. Mai durch.

„Überlebt. Kaum zu glauben. Was mit dem Leben anfangen?“ Als 16-Jähriger habe er die härtesten Monate im Ghetto erlebt.

Während der Sowjetzeit „gab es keinen Holocaust“. Auf jüdischen Massengräbern kein Zeichen, dass hier Juden ermordet worden waren. Der Bericht eines lettisch-jüdischen Historikers wurde nicht ernstgenommen.

Seit 1990 gab es offene Erinnerung, wurde die Tatsache von 73.000 jüdischen Opfern in Lettland bekannt. „Erstmalig konnten wir was sagen, reden.“ Am 17. September 1991 verurteilte das lettische Parlament den Holocaust mit knapper Mehrheit, nur „einzelne Letten“ seien daran beteiligt gewesen. Tatsache war, dass schon bis August 1941 35.000 Juden von Nachbarn ermordet worden waren. Die Frage er Mordhelfer sei bis heute offen. Wenn die Nazis nicht so viele Helfer gehabt hätten, wären sie nicht so erfolgreich gewesen. Erste Beiträge zu dem Thema wurden 1995 gedruckt.

1990 sei er mit seiner Frau Eva erstmalig bei Winni und Angela Nachtwei in Münster gewesen. 1991 entstand der erste Film zu den Riga-Deportationen (mit Irmgard Ohl und Ewald Aul aus Osnabrück und Jürgen Hobrecht als Filmemacher) und mit Hilfe von Anita Kugler (Historikerin, taz-Journalistin) das Museum „Juden in Lettland“.

Auf dem Alten Jüdischen Friedhof am Rand des ehemaligen Ghettoviertels seien die jüdischen Massengräber nicht gekennzeichnet. An der Friedhofsmauer habe es massenweise Hinrichtungen gegeben.

Wie am besten darüberschreiben? An der Gedenkstätte sind auf einer schrägen Betonwand die Namen von 272 Rettern aufgeführt. Inzwischen habe er 519 Retter gefunden, plus 127 Fälle, wo die Rette unbekannt seien. „Man konnte was tun! Mit dem Einsatz eigener Sicherheit, des eigenen Lebens. Sie hatten das Bedürfnis, das zu tun.“ Unter Rettern waren auch deutsche Soldaten. Auch Massemörder waren in Einzelfällen Judenretter. Unbeantwortet sei die Frage, warum die katholische Kirche bei der Judenrettung aktiver war als die evangelische.

Antworten zu Fragen aus der Gruppe:

– Zu seinem guten Deutsch: Er habe 10 Jahre Deutsch in der Schule gelernt, Juden sprachen in der Vorkriegszeit sowieso viel Deutsch. 1933 wurden sie von den allgemeinen Schulen verwiesen. In jüdischen Schulen wurde Deutsch weiter auf hohem Niveau gelehrt. Bei der sowjetischen Okkupation der baltischen Staaten ab Juni 1940 war in der Jüdischen Gemeinde die Erwartung verbreitet, dass Stalin das kleinere Übel als Hitler sei. Aber im Juni 1941 wurden Juden genauso verhaftet und deportiert wie nichtjüdische Letten. Letztendlich: Aus dem GULAG kamen welche zurück, aus den Massengräbern niemand.

Für Juden sei der stalinistische Krieg gegen die Nazis ein jüdischer Krieg gewesen. „Ich konnte etwas mitkämpfen. Das war eine Illusion, aber ein kleiner Trost.“

– Zur Jüdischen Gemeinde heute:  Heute leben in Lettland rund 5.000 jüdische Menschen, in der Vorkriegszeit waren es 95.000, in Riga allein 34.000. Als das Ausreiseverbot aufgehoben wurde, begann eine regelrechte Flucht. Viele verfolgte Juden gingen nach Deutschland! „wenn ich ausreisen würde, dann nach Israel.“

Die Kulturarbeit der Jüdischen Gemeinde wird auch vom neuen jüdischen Staat unterstützt, auch das Museum. Von Anfang an habe es gute Beziehungen zum neuen Deutschland, viel Zusammenarbeit mit der Deutschen Botschaft.

24.605 jüdische Menschen seien nach Riga aus Deutschland deportiert worden – die Zahl stimme aber nicht. Nach seinen Angaben seien es 32.000.

Die Mitglieder des Riga-Komitees danken Margers stehend mit langem, herzlichem Applaus für eine Stunde, die niemand vergessen wird. Ich bekräftige seine Leistung, indem ich an sein/seiner Kameraden Lied aus der Ghettozeit erinnere (er habe es mit Kameraden in einem Strafkommando gesungen, in das er als „Fluchtverdächtiger“ geraten war):

„Erinnere Dich an den Dezember,

den Todestag Deiner Lieben.

Wenn Du überleben solltest,

hast Du eine Aufgabe

für Dein ganzes Leben …“

„Das hast Du in die Tat umgesetzt, über Jahrzehnte, gegen Widerstände.“

Nach vorne kommt ein robuster Mann mittleren Alters. Es ist Elmar, Margers` Enkel, dem wir als Zehnjährigem im Riga der 90erJahre begegneten. Heute ist er seinem Großvater eine Gehhilfe.

  1. Juli

Zeremonie auf der Gedenkstätte Bikernieki und Einweihung der neuen Außenausstellung des Volksbundes:

Rückblick: Seit Sommer 1941 fanden im „Hochwald“ immer wieder Erschießungen statt. Der Wald wurde der größte Mordplatz im deutsch besetzten Lettland. Die größte Opfergruppe waren jüdische Männer und Frauen, Greise und Kinder. Erschossen wurden hier aber auch tausende von politischen Aktivisten und Gefangenen und fast 10.000 sowjetische Kriegsgefangene. Mindestens 35.000 Menschen wurden in den Massengräbern verscharrt. Als 1944 die Rote Armee näher rückte, mussten Gefangene die Massengräber öffnen, und die Leichen verbrennen. Die Menschen sollten spurlos vernichtet werden. Noch heute sind an umstehenden Bäumen Brandspuren von damals zu sehen.

Genau vor 33 Jahren, am 9. Juli 1989, waren meine Frau und ich zum ersten Mal hier: Es war ein verlorener und vergessener Ort! Der Gedenkstein ohne ein Wort für die jüdischen Opfer, in den folgenden Jahren häufig umgekippt.

Erst mit dem Unabhängigkeitsprozess öffnete sich die Erinnerung. Der Rigaer Architekt Sergejs Rizs legte im Auftrag des Rigaer Stadtrates 1987 einen ersten Entwurf für eine würdige Gedenkstätte vor. In der Nachwendezeit fehlte das Geld. Erich Herzl aus Wien – er hatte seine Eltern in Riga verloren – gründete 1996 die „Initiative Riga“ und drängte mit Unterstützung des österreichischen „Schwarzen Kreuz“ auf eine würdige Gedenkstätte in Riga. Mit dem Ende Januar 1996 in Kraft getretenen Kriegsgräberabkommen der Bundesregierung mit Lettland engagierte sich der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zunehmend für ein würdiges Gedenken an die in Riga ermordeten jüdischen Menschen. Volksbund-Präsident Karl-Wilhelm Lange initiierte den Städte-Zusammenschluss des Deutschen Riga-Komitees unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Johannes Rau. Gemeinsames Engagement ermöglichte die Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki am 30. November 2001, 60 Jahre nach dem Rigaer Blutsonntag.

Die früheren Nachbarn von nebenan, die namenlos Ermordeten, Verbrannten, Verscharrten, die aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland Verdrängten – sie wurden mit dieser Gedenkstätte zurückgeholt aus dem Vergessen, aus diesem zweiten Tod. Mit den 5.000 dicht gedrängten, kleinen und größeren Granitsteinen erhalten sie symbolisch etwas Individualität zurück.

(Vgl. im ANHANG zu den Massenerschießungen im Zusammenhang mit der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik 1919 vor allem im Wald von Bikernieki)

 

Gemeinsames Gedenken: Es sprechen Wolfgang Wieland, Vizepräsident des Volksbundes

Botschafter Christian Heldt

die österreichische Botschafterin Doris Danler

Rolands Lappuke, Botschafter und Berate des lettischen Staatspräsidenten

Dmitry Krupnikovs, stellv. Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Riga

Lindo Ozola, stellv. Vorsitzende des Rates der Stadt Riga

Daina Auzina, Deutsch-Baltisches Jugendwerk

Rabbi Eliyolm Kremer spricht ein Gebet.

Nach der Niederlegung vieler Kränze und Blumengebinde Gedenken der Städtevertreter:innen an den Gedenktafeln ihrer Städte.

Die Außenausstellung: Sie schließt vom Hauptweg aus gesehen rechts an das Feld der Granitsteine an. Die verantwortlichen Macher Albrecht Viertel, Kurator der Ausstellung von der Agentur „kursiv“/Dresden, und Danny Chalbouni, beim Volksbund Fachverantwortlicher für Ausstellungen, führen Kleingruppen durch die Außenausstellung

Fünf Tafeln mit kurzen Texten (lettisch, deutsch und englisch) und Bildern informieren auf Vorder- und Rückseiten über

– Die historische Situation seit Beginn des Zweiten Weltkrieges

– Das Ghetto Riga und den Wald von Bikernieki,

– Opfer, Täter, Überlebende

– Das Werden der Gedenkstätte Bikernieki seit 1987

Eine herzliche Freude ist die Wiederbegegnung mit Sergejs Rizs, Architekt bei der Stadt Riga und maßgeblicher Planer der Gedenkstätte von Anfang an, und seinen Mitarbeiterinnen.

60 Jahre nach den Massenmorden wurde der blutgetränkte Ort durch eine würdige Gedenkstätte kenntlich gemacht.

80 Jahre danach wird Besuchern nun auch in Wort und Bild dargestellt, was hier geschah, wer hier ermordet wurde, wer hier mordete, wie wenige von den Ghettogefangenen überlebten, wie dieses Menschheitsverbrechen ein halbes Jahrhundert verdrängt und vergessen war – und wie die Erinnerung daran drei Generationen danach ein Gesicht bekommt.

(Im August 2019 hatte eine Gruppe des Volksbundes unter der Leitung der Generalsekretärin Daniela Schily Bikernieki und andere Orte des NS-Terrors in Riga im Hinblick auf die geplante Außenausstellung erkundet. Zu der Gruppe gehörten Prof. Bernd Faulenbach, Vorsitzender von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, Bertram Hilgen, ehem. OB Kassel, Hermann Simon, langjähriger Direktor der „Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Thomas Rey/Volksbund und ich.)

Eröffnung der Ausstellung „Endstation – Riga“ auf dem Schützenplatz (zwischen Rathaus und Schwarzhäupterhaus vor dem Okkupationsmuseum)

Die Ausstellung besteht aus 36 jeweils im Geviert aufgestellten Tafeln und wurde durch die deutsche und österreichische Botschaft ermöglicht. Ihre Hauptsprache ist Lettisch, deutsche und englische Übersetzungen sind eingefügt. Themen sind

– Warum Riga?

– Wie alles begann: Der organisierte Antisemitismus (auch in Österreich)

– Deportationen

– Rigaer Ghetto

– Rumbula, Bikernieki, Salaspils, Jungfernhof, Kaiserwald

– Täter (Walter Stahlecker, Voldemars Veiss, Rudolf Lange, Viktors Arajs, Friedrich Jeckeln)

– Retter (Janis und Johanna Lipke)

– Schicksale

– Erinnerungskultur

Bei Riga-Besuchen seit 1989 machten wir immer wieder die Erfahrung, dass bei nichtjüdischen Letten Erinnerung an die deutsche Okkupation, gar die Judenvernichtung, kein Thema war, dass regelmäßig die Erinnerung an die sowjetische Okkupation dominierte. Das änderte sich nicht zuletzt im Kontext der EU-Mitgliedschaft bei politischen Repräsentanten und in Teilen der Gesellschaft. Eine solche Präsentation zu einer besonders düsteren Phase der lettischen Geschichte hat es – so meine starke Vermutung – so öffentlich und im Zentrum der Hauptstadt noch nicht gegeben.

Besuch des Museums „Juden in Lettland“ und des Zentrums der Jüdischen Gemeinde:

Das Museum erstreckt sich inzwischen auf drei Räume auf dem Stockwerk des Theatersaals. Zwei Mitarbeiterinnen der Gemeinde schildern sehr lebhaft die Vielfalt kultureller und sozialer Aktivitäten.  https://www.ebrejumuzejs.lv/en/

Im Museum sind inzwischen 14.000 Dokumente gelagert. Nach 500 Jahren gibt es damit erstmalig ein jüdisches Archiv in Lettland.

 

Empfang für die Delegationen durch die deutsche und die österreichische Botschaft in der „Kleinen Gilde“ (wie auch 2017)

Wolfgang Wieland: Der Besuch im Jüdischen Zentrum habe es als Ort jüdischen Lebens präsentiert. Das hätten die beiden lebhaften Frauen bewiesen. „Es geht weiter!“

Die Ausstellung über die Deportationen nach Riga sei ein ganz besonderer Schritt, ein Meilenstein! Die Begegnung mit Margers Vestermanis habe eine klare Botschaft gehabt:  „Gebt die Fackel weiter!“

Herzlich dankt er Ilya Lensky, der uns an mehreren Orten sehr kundig führte, den tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Volksbundes und dem deutschen Botschafter, der sich der Gedenkreise des Riga-Komitees ganz besonders gewidmet hat.

Die Einladung zum 6. Symposium des Riga-Komitees in Rheine/Westfalen  vom 3.-5. November 2022 durch das Bürgermeister-Trio findet kräftigen Beifall.

Ich verlasse vorzeitig die Runde, weil um 2.50 Uhr vom Zentralen Busbahnhof mein Bus nach Vilnius abfährt. Dort besuchen wir mit dem Beirat Innere Führung das deutsche Bundeswehrkontingent bei der enhanced Foward Presence Battlegroup der Nato im litauischen Rukla. Nach den traumatischen Okkupationserfahrungen in Riga geht es jetzt um das Thema, wie in Litauen gemeinsam möglichen militärischen Bedrohungen entgegen-

gewirkt wird.

Weitere Informationen und Berichte von den früheren Gedenkreisen

Vortragangebot „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga

2017: Brücken der Erinnerung zwischen Nationen und Generationen, 3.-6. Juli, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1490 , und

Anhang: zu weiteren Erinnerungsorten in Riga (auch aus der sowjetischen Okkupationszeit) http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1489

2010: anlässlich 10 Jahre Deutsches Riga-Komitee am 9. Juli, mit Redebeiträgen an der ehemaligen Synagoge an der Gogolstraße, am Alten Jüdischen Friedhof (Ghetto), am Wäldchen von Rumbula und an der Gedenkstätte Bikernieki, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1490

2000 60 Jahre danach: Einweihung der Gedenkstätte Riga-Bikernieki –Erinnerung an Ermordete bekommt Ort und Gesicht, Bericht Dezember 2001, http://nachtwei.de/druck/druck%20Bikernieki.htm

Winfried Nachtwei, Das Deutsche Riga-Komitee – Die Bedeutung Rigas im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, in: Schuhe von Toten – Dresden und die Shoa, hg. von Gorch Pieken und Matthias Rogg, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Ausstellungs-katalog, Dresden 2014, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1267

Aktuelle Projekte + Medienbeiträge zum Komplex Riga

Wanderausstellung „Riga – Deportationen, Tatorte, Erinnerungskultur, hrg. vom Volksbund, Riga-Komitee und Auswärtigem Amt, Projektleitung Thomas Rey und Dr. Christian Dirks (BERGZWO), http://www.riga-komitee.eu/aktivitaeten/wanderausstellung-des-riga-komitees

„Riga – Gedenken und Mahnung. Orte des Erinnerns“, ein Guide zu den Orten des Nazi-Terrors in Riga, Broschüre, Hrg. Volksbund, 2021

Projekt „Zachor – Erinnere Dich: Zwei Tage im Winter“ von Dagmar Calais, Kurator Chris Steinbrecher (zur Ermordung der Rigaer Juden am 30. November und 8. Dezember 1941), erstmalig ausgestellt August/September 2021 im Bremer Rathaus, mit Broschüre, https://www.dagmar-calais.de/aktuelles.html , https://www.chris-steinbrecher.de/projekte.html (mit Broschüre)

Wolfgang von Stetten, Holocaust- und KZ-Überlebende im Baltikum – Juden zweiter Klasse? Der Kampf um Entschädigung aus der Sicht eines Abgeordneten, Künzelsau 2021, 336 Seiten

Goethe-Institut Lettland, „Endstation Riga: Deutsche Juden im nationalsozialistisch besetzten Riga“, https://www.goethe.de/ins/lv/de/kul/mag/22549356.html

Radio Berlin-Brandenburg rbb, Endstation Riga – Auf den Spuren der ermordeten Juden“, 05.12.2021 (mit Jugendlichen aus 10 europäischen Ländern, Projekt „Peaceline“/Volksbund)

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/lebenswelten/manuskripte/endstation-riga.file.html/Endstation%20Riga.pdf

Schlussbemerkung

Die Öffentlichkeitsarbeit zu den Riga-Deportationen und zum Ghetto hat eine nie dagewesene Vielfalt und Anschaulichkeit erreicht, über http://www.riga-komitee.eu/ mit der umfassenden Berichterstattung zu Gedenkstätten, Schicksalen, Aktivitäten und Mitgliedsstädten auch breit zugänglich. Nach anfänglich 13 Mitgliedsstätten gehören inzwischen 75 Städte zu diesem einzigartigen Netzwerk. Erinnerung wuchs von unten. Eigenartig ist aber, dass Riga in den überregionalen Medien weiter zu den nicht wahrgenommenen Orten des Holocaust gehört, dass meines Wissens bisher auch kein Spitzenvertreter der Bundesrepublik Deutschland die Mordstätten in Riga aufsuchte.

ANHANG

I     Okkupationsmuseum, II   Zu einem frühen Kapitel der lettischen Gewaltgeschichte: Die Lettische SSR 1919, III Interview mit Margers Vestermanis

I  Okkupationsmuseum, seit 1. Juni 2022 erweitert, modernisiert mit neuer Dauerausstellung am ursprünglichen Platz

(Da Folgende ist ergänzt um Informationen aus: Lettisches Okkupationsmuseum, Lettland unter der Herrschaft der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschland 1940-1001, verfasst von Valters Nollendorfs, Riga 2017; https://okupacijasmuzejs.lv/en ;

Katja Wezel, The New Exhibition of the Occupation Museum in Riga,, https://www.cultures-of-history.uni-jena.de/exhibitions/feeling-the-horrors-of-the-20th-century-the-occupation-museum-in-riga )

In der Eingangshalle läuft ununterbrochen ein Video von 4:30 Minuten zum Hitler-Stalin-Pakt bis zur Besetzung der baltischen Staaten. Die Stationen:

Schlaglichter zu „Kommunismus – Nationalsozialismus: Diktatur – Terror, Feind: Nichtarische Menschen – Feind: reiche Menschen, Konzentrationslager – GULAG Lager, Kristallnacht – Der Große Terror, Holocaust – Holodomor“

Expansionsschritte

07.03.1936 Besetzung des Rheinlands

17.03.1938 Österreich

01.10. 1938 Sudetenland

16.03.1939 Restliche Tschechoslowakei

22.03.1939 Memelland/Litauen

23.08.1938 Hitler-Stalin-Pakt

28.09.1939 Geheimes Zusatzprotokoll teilt Europa

01.09.1939 Überfall auf Polen

17.09.1939 Sowjetische Besetzung Ostpolens22.09.1939 Brest-Litowsk

28.09.1939 Estland: Die Sowjetunion zwingt die baltischen Staaten, sowjetische Militärbasen

auf ihrem Territorium zuzulassen.

05.10.1939 Lettland

10.10.1939 Litauen

30.11.1939 – 13.03.1940 Winterkrieg der Sowjetunion gegen Finnland

1940, April Deutsche Besetzung Dänemarks und Norwegens

05.06. 1940 Deutscher Angriff auf die Niederlande, Belgien, Luxemburg

14.06. 1940 Deutsche Besetzung von Paris

Die Sowjetunion besetzt die baltischen Staaten 15.-17.06.  („Hitler in Paris, Stalin in Riga“)

15.06. 1940 Litauen

17.06.1940 Estland und Lettland

Okt./Nov. 1940 Verhandlungen in Berlin über den Zutritt der Sowjetunion zu Deutschland, Italien und Japan für eine weitere Teilung der Welt

„Die Sowjetunion weigerte sich über 50 Jahre, die Existenz des Hitler-Stalin-Paktes und des geheimen Zusatzprotokolls anzuerkennen

Das gegenwärtige Russland versucht die damalige Kooperation zu rechtfertigen.“

 

DIE AUSSTELLUNG

  1. Erste sowjetische Okkupation

– Nach kurzfristigen Ultimaten überschreiten sowjetische Truppen erst die litauische, dann die lettische und estnische; Demokratie-Simulation

– Lettland: Am 15.06.1940 Angriff an von Sondereinheiten des sowjetischen Innen-ministeriums auf drei Grenzstationen. „Drei Grenzschützer sowie Frau und Kind eines Grenzschützes werden getötet, 10 Grenzschützer und 27 Zivilisten werden in die Sowjetunion (UdSSR) verschleppt. Am 16.06., einem Sonntagnachmittag, stellt die UdSSR  der lettischen Regierung ein neunstündiges Ultimatum. Sie bezichtigt Lettland der Verletzung des 1939 abgeschlossenen gegenseitigen Beistandspaktes und fordert die sofortige Bildung einer neuen Regierung sowie den Einmarsch sowjetischer Truppen in Lettland ohne jegliche Einschränkung.“ (Lettisches Okkupationsmuseum a.a.O., S. 34)  In der Hoffnung, ein Blutbad zu verhindern, gibt Präsident Karlis Ulmanis nach.

– Unter Andrej Wyschinski, stellv. Vorsitzender der sowjetischen Regierung (1937/38 Chefankläger in Stalins Schauprozessen), Bildung einer „Volksregierung“ mit überwiegend nichtkommunistischen Ministern; Auflösung der Institutionen des unabhängigen Lettland; inszenierte Massendemonstrationen, Ausschreibung von Wahlen zum Parlament 10 Tage vor dem 14. + 15. Juli. Die einzige zugelassene Kandidatenloste „Block er Werktätigen Lettlands“ „erhält“ bei einer „Wahlbeteiligung“ von 94,8% 97,8% der Stimmen; am 21. Juli erklärt die „gewählte“ Volks-Saeima Lettland zu einer „sozialistischen Sowjetrepublik“ und beantragt die Aufnahme in die UdSSR.

– Konfiszierung von Privateigentum, Kollektivierung der Landwirtschaft;

– Repression und Terror durch Tscheka, NKWD, GPU, KGB

– Massendeportation am 14. Juni 1941: 15.443 Menschen in die Gulag-Lager (0,8% der Bevölkerung), 43 sterben

  1. Gequälte Menschen – ruiniertes Land: Krieg. Nazi-Deutsche Okkupation Holocaust 1941-1944/1945
  2. Juli 1941 Niederbrennen der Synagogen in Riga,

– Vormarschstrecken der Einsatzgruppe A: Karte mit Sargsymbolen Litauen 136.421, Lettland 35.238, Estland 963 „Judenfrei“

– Verantwortliche: Friedrich Jeckeln, Viktors Arajs, Walter Stahlecker, Rudolf Lange

– Fotos von Massenerschießungen in Libau

– „Der von den Nazis eingeleitete Holocaust ist der größte Massemord, der in Lettland geschah. (…) Im Sommer 1941 wurden die meisten Juden in kleinen Städten erschossen und in örtlichen Wäldern begraben.

Die Gesamtzahl der in Lettland von Nazis Ermordeten, einschließlich rund 3.000 lettische Roma, liegt bei ungefähr 100.000

– „Brüder gegen Brüder“: Insgesamt mindestens 200.000 lettische Soldaten in deutschen und sowjetischen Streitkräften, geschätzt die Hälfte davon getötet.

Von den rund 100.000 dreiwilligen oder zwangsverpflichteten lettischen Soldaten in der Roten Armee (Lettische Schützendivision und –korps)  fällt mehr als die Hälfte;.

Etwa 115.000 lettische Männer standen in verschiedenen Einheiten des deutschen Militärdienstes: in Selbstschutz- und Schutzmannschaftsbataillonen, an 1943 die „Lettische SS-Freiwilligen-Legion“ (85% Einberufene), 30.-50.000 Gefallene und Vermisste.

Flucht: Bis Kriegsende verließen etwa 200.000 Menschen Lettland, viele davon nach Deutschland, Schweden

Von den rund 2 Millionen Einwohnern Lettlands lebten bei Kriegsende nur noch 1,4 Millionen im Land, ein Verlust von 30%.:

  1. Zweite sowjetische Okkupation

– Sowjetisierung und Proletarisierung auf dem Land

– Stalinistischer Terror: 25.-28.03.1949 Deportation von 42.129 Menschen (vor allem Landbevölkerung) in 33 Zügen in „Spezialsiedlungen“ des GULAG; darüber hinaus „Zwangsverschickungen von rund 200.000 Menschen, in der Nachkriegszeit aus „Filtrations“- und Kriegsgefangenenlagern.

– Kolonisierung Bis 1990 Ansiedlung von rund 850.000 Nichtletten, Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung sinkt von 73% nach dem Krieg auf um die 50% Ende der 80er Jahre.

Diskriminierung der lettischen Bevölkerung in Behörden und Betrieben. Russisch wird vorrangige Sprache.

  1. „Verzweifelte Hoffnung und Entschlossenheit – Bewaffneter Kampf und gewaltloser Widerstand gegen totalitäre Herrschaft 1944/1945-1991“

– Der Krieg der „Waldbrüder“ gegen das Sowjetregime über mehr als 10 Jahre Seit Sommer 1944, ab 45/46 vor allem in Kurland und im östlichen Lettgallen; zwischen 1944 und 1953 ungefähr 15.000 Partisanen, von Teilen der Landbevölkerung unterstützt, mehr als 3.000 Gefallene.

– Gewaltloser Widerstand: Aktivisten vor allem aus der Schuljugend ründeten Untergrundorganisationen, verbreiteten Flugblätter und westliche Radioberichte, rissen Sowjetfahnen herunter, hissten die lettische Fahne, demolierten Stalinbilder.

(…)

Im 1. Stock Kampf für Unabhängigkeit

Die Stationen entlang der Treppe

  1. Juni 1987 erste öffentliche Demonstration seit 1944 am Freiheitsdenkmal, Gedenken an die Opfer der sowjetischen Deportation (Initiative von Helsinki-86)

1.-2. Juni 1988 Öffentliches Bekenntnis zur Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt (Mavriks Vulfsons)

  1. Oktober 1988 150.000 Menschen demonstrieren für Rechtsstaatlichkeit

8.-9. Oktober 1988 Gründung der Lettischen Volksfront

  1. November 1988 erstes Begehen des Gedenktages für die lettischen Freiheitskämpfer nach dem Krieg
  2. August 1989 am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts Menschenkette von 1,5 Millionen Menschen über 660 km durch Estland, Lettland, Litauen („Baltischer Weg“, „Singende Revolution“)
  3. November 1989 Großkundgebung am Ufer der Daugava
  4. März 1990 erste freie Wahlen zum Obersten Sowjet Lettlands, Sieg der Volksfront
  5. Mai 1990 Unabhängigkeitserklärung des Obersten Rates der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (von Gorbatschow mit Wirtschaftssanktionen beantwortet und für ungültig erklärt)
  6. Januar 1991 500.000 am Ufer der Daugava, Protest gegen einen möglichen Militärputsch nach dem Angriff der sowjetischen Armee in Vilnius (Besetzung des Fernsehturms, 14 Tote, 200 Verletzte;; in Riga am 2.Januar Besetzung des Pressegebäudes durch OMON-Kräfte, Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums)

(80.000 Freiwillige errichten Barrikaden, um strategisch wichtige Institutionen zu schützen; „Barrikadentage“ über zwei Wochen)

20 Januar 1991 OMON-Kräfte erschießen in der Innenstadt von Riga  fünf Personen, Sowjetarmee bleibt in den Kasernen;

  1. September 1991 Sowjetunion erkennt die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten an

(Aktuell zum Sowjetischen Siegesdenkmal in Riga:

Seit 2001 Massenkundgebungen vor allem von Russischsprachigen zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai, 2015 mehr als 100.000. 2022 kamen rund 20.000, obwohl das Gelände eingezäunt und Versammlungen verboten waren. Im Juni beschloss das lettische Parlament bei einer Gegenstimme eines Harmonie-Abgeordneten den Abriss des achtzig Meter hohen Obelisken bis zum 15. November. Bei der lettischsprachigen Bevölkerung gilt das Siegesdenkmal seit Beginn des Ukrainekrieges und seiner offiziellen Begründung als Fortsetzung des „antifaschistischen Kampfes“ der Roten Armee als Ausdruck des russischen Imperialismus. Am 25, August wurde der Obelisk kontrolliert gesprengt. Die Skulpturen rechts und links (Gruppe sowjetischer Soldaten und „Mutter Heimat“) wurden abgebaut.)

Kommentar

– Auffällig ist die zeitliche Parallelität der vielen Expansionsschritte von Nazi-Deutschland und Sowjetunion in den 1930ern und 1940er Jahren.

– Die Vorgehensweise der stalinistischen Sowjetunion und der heutigen Russischen Föderation bei der Okkupation von Nachbarländern sind nicht unähnlich; damals schnell erfolgreich wg. völliger militärischer Überlegenheit der UdSSR und strategischer „Einsamkeit“ der baltischen Staaten  (null internationaler Beistand).

– Spaltung der lettischen Gesellschaft, wo unter den wechselnden Okkupationen die Gruppen der Verfolgten und Opfer und die Gruppen der (Mit-)Täter und Helfershelfer wechselten, wo im Krieg in großer Zahl Letten im Dienst fremder Mächte gegen Letten kämpften.

– Krass sind die Opferzahlen durch Holocaust und NS-Terror, Krieg, stalinistischen Terror.

– Der Unabhängigkeitsprozess der baltischen Staaten war ein historischer Sieg des gewaltlosen Widerstandes einer ganzen Gesellschaft – trotz sowjetischer Wirtschaftsblockade, Drohung mit Militärintervention und gewaltsamem Vorgehen der OMON-Spezialeinheiten. Begünstigt wurde dieser Sieg durch die strategische Schwäche der Sowjetunion und den Reformkurs von Michael Gorbatschow. Der Unabhängigkeitsprozess im Baltikum hätte auch ganz anders verlaufen und in einen Gewaltkonflikt münden können.

– In der Ausstellung sind besondere Schwerpunkte die sowjetischen Deportationen und der Kampf um Unabhängigkeit. Dem Holocaust sind neun Tafeln auf rund fünf Metern gewidmet. Die lettische Beteiligung kommt – bis auf Arajs – kaum vor. (Margers verweist auf die Rolle des lettischen Oberstleutnant Voldemars Veiss, der vom ersten Tag der Besatzung ein führender Kollaborateur war)

Die traumatischen Kollektiverfahrungen von 50 Jahren wechselnden Okkupationen leben fort und prägen Bedrohungswahrnehmungen und (sicherheits-)politische Grundorientierungen in Lettland – und den anderen baltischen Staaten – bis heute. In Deutschland werden diese Kollektiverfahrungen nach meiner inzwischen 30-jährigen Beobachtung relativ wenig wahrgenommen. Nicht selten ist die politische Empathie für die russische Führung größer.

Ergänzung zu einem frühen Kapitel der lettischen Gewaltgeschichte: Lettische Sozialistischen Sowjetrepublik in Riga 4. Januar bis 25. Mai 1919

Hierüber gibt es bisher kaum Veröffentlichungen. Anita Kugler hat dazu geforscht und berichtet darüber bei einem Treffen mit Margers Vestermanis. Die Lettische SSR war die erste Sowjetrepublik außerhalb von Moskau, exekutiert von roten Lettischen Schützenregimentern, beteiligt waren auch demobilisierte deutsche Soldaten und entlassene deutsche Kriegsgefangene („Legion Karl Liebknecht“). Schon bis Ende Januar 1919 sollen 2.800 Todesurteile gefällt und heimlich vollstreckt worden sein. Danach begann der sog. „legale Terror“: Öffentlich zugängliche Revolutionstribunale fällten Urteile mit Begründungen auf Zwangsarbeit, Gefängnis, Konzentrationslager, Bereitstellung als Geisel, Tod durch Erschießen. Die Namen der exekutierten „Konterrevolutionäre“ wurden in der „Roten Fahne“ veröffentlicht.  Erschießungen fanden im Zentralgefängnis und vor allem im Wald von Bikernieki statt. Laut „Rote Fahne“ wurden ab Mitte Februar 1.549 Menschen in Riga-Stadt und 2.081 in Riga-Land erschossen. Die Gesamtzahl der bolschewistischen Terroropfer wird mit 5.000 bis 7.000 beziffert. Der „Rote Terror“ endete am 22. Mai 1919 mit dem Einmarsch der Baltischen Landwehr, Freikorps und Eiserner Division grausam Rache nahmen. besonders an weiblichen Rotarmisten. Allein in Riga wurden laut Presseberichten 2.000 bis 4.000 Menschen erschossen. Anita Kugler, Zeitnahe Berichte von Deutschbalten zur Bolschewikenherrschaft in Riga 1919, Mare Balticum Braunschweig 2020)

 

Interview mit Margers Vestermanis am 2. Juli, einem heißen Samstagabend

Das Filminterview führt Thomas Rey vom Volksbund, der das Riga-Komitee seit vielen Jahren maßgeblich unterstützt und koordiniert.

Nachdem Margers so oft Interviews zum Holocaust in Lettland hatte, will er heute Neues berichten. Seine Monate mit dem Wehtrmachts-Obergefreiten Egon Klinke ab August 1944, Er beginnt mit „Ich hatt` einen Kameraden, einen besseren hatt` ich nicht.“

Im Juni 1944 war Kurland heftig umkämpft. Seit 27. Juli war Magers bei einer Partisaneneinheit im Wald.  Es waren Fahnenflüchtige aus der 19. Lettischen-Waffen-SS-Division, aus einem Schuma-Bataillon, fünf, sechs geflohene sowjetische Kriegsgefangene, große Zahl von jungen Burschen, die dem Mordbefehl nicht nachkamen, anfänglich 37 Mann. Ein Mann in Försteruniform wurde geschnappt. „Verräter!“ Er schwieg. „Du spionierst für die Deutschen!“ Zum Kommandeur. Jetzt hatte M. ein Problem. Er war in die Partisaneneinheit mit der Legende aufgenommen worden, er sei Fahnenflüchtiger aus der 15. Lett. Waffen-SS-Division. Der geschnappte „Förster“ war ein deutscher Soldat, Kraftfahrer, bei schweren Kämpfen um Tukum von Lkw geflohen. (…)

Sehr detailliert und konkret berichtet M. von Egon, auch seinem familiären Umfeld, von seinem Ende, vieles auf den Tag genau, mit allen Namen. Von der Bedeutung seines Karabiners: Auch wenn der kein Visier hatte, so war er nicht mehr wehrlos – nach all den Frauen, Kindern, Verwandten in den Gruben, nach Kindern, die ermordet, nicht erschossen wurden, wo er nicht mehr an Gott glauben konnte.

Er schildert auch die Zeit direkt nach der Befreiung, als er sich natürlich nicht ausweisen konnte – bis ihm seine Beschneidung als Beweismittel einfiel.

Gesamtlänge des konzentrierten Interviews eine Stunde 50 Minuten! Ein historisches Interview mit dem letzten noch sprechfähigen Holocaust-Überlebenden in Lettland!

[1] MdB 1994-2009, Vorstand „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, Beirat Innere Führung BMVg

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