Irak-Krieg vor 20 Jahren – Rot-grüne Gratwanderung gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung (I)

Mündigwerden im Bündnis: Persönliche Notizen, Papiere, Reden eines Beteiligten

Irak-Krieg vor 20 Jahren –  Rot-grüne Gratwanderung gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung, Kommentare, (interne) Beratungspapiere und Notizen, Reden von

Winfried Nachtwei, MdB, 2002 bis 2008

Teil I

(1) BILD-Zeitung vom 20.2.2002

(2) Vieraugengespräch mit Außenminister Fischer am 30.2.2002

(3) Kommentar zum Wirbel um das SPIEGEL-Interview von Joschka-Fischer, 31.12.2002

(4) Persönliche Notizen von der grünen Neujahrsklausur 9.1.2003

(5) Persönliche Notizen: MdB`s des grünen AK-IV (Internationales) und Joschka Fischer am 16.1.2003

(6) Persönliche Notizen: 40 Jahre Elysée-Vertrag in Versailles am 22.1.2003

(7) Argumente und Perspektiven gegen den drohenden Irak-Krieg, 22.1.2003

Teil II

(8) Rede auf dem Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen am 22.2.2003 in Berlin

(9)Persönliche Notizen zur Regierungserklärung von Kanzler Schröder zu Irak am 13.2.2002

(10) Persönliche Notizen: Wochenrückblick 9.-15.2.2003

(11) Persönliche Notizen zum folgenden Beratungspapier, 10.2.2003

(12) Beratungspapier „Gemeinsam für eine friedliche Lösung der Irak-Krise“, 21.2.2003

(13) Kriegsunterstützung durch Transit- und Überflugrechte, 23.3.2003

(14) Krieg gegen den Irak und wider die Weltgemeinschaft, 1.4.2003

(15) Merkels Flucht aus der Irak-Mitschuld – Die Spurenverwischer der Union, August 2005, www.nachtwei.de/index.php/articles/292

(16) Die grüne Politik zum Irak-Krieg, Beitrag für die Friedens- und sicherheitspolitische Kommission von Bündnis 90/Die Grünen, Juli 2008

(1) BILD-Zeitung 20.2.2002: „Grüne drohen mit Ausstieg aus der Anti-Terror-Allianz mit USA“

„Die Spekulationen über einen möglichen US-Militärschlag gegen den Irak überschatten auch den USA-Besuch von Bundespräsident Johannes Rau. (…) Der Grünen-Wehrexperte Winfried Nachtwei: „Ein US-Militärschlag gegen den Irak wäre das Ende der internationalen Anti-Terror-Koalition! Dann müssten auch die Einsätze deutscher Soldaten in Afghanistan und Dschibouti aufgrund einer neuen Gefährdungslage geprüft werden.“

(2) Vieraugengespräch mit Außenminister Fischer am 30.2.2002 (nach meinen persönlichen Reisenotizen, Kladde XIV)

Am 29.02. Delegationsreise von Außenminister Joschka Fischer nach Afghanistan, die aber wegen Schlechtwetter in Taschkent / Usbekistan abgebrochen werden muss. Rückflug am 30.2. Nach dem Start mit Joschka Gespräch in der ersten Reihe unter vier Augen:

Ausgangspunkt ist die Kritik des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an „antiamerikanischer Kritik Fischer`s“: In den USA habe sich die Wolfowitz-Linie (stv. Verteidigungsminister in der Regierung von George W. Bush) durchgesetzt, die er ihm nach dem 11. September dargestellt habe: Erst Irak (zusammen mit Regionalmächten, Türkei ggfs. mit Druck), dann Hisbollah. Die US-Regierung sei fest überzeugt, dass man den arabischen Nationalismus und islamischen Fundamentalismus so besiegen könne wie vorher den Faschismus und Kommunismus. Fester Glaube an die eigene Militärmacht.“ (aus meinen Reisenotizen, Kladde XIV) Für Joschka, der als Realpolitiker viel von den möglichen / wahrscheinlichen Wirkungen herdenkt, ist klar, dass ein solcher Kurs die ganze Region chaotisieren würde und eindeutig abzulehnen ist.

(3) Kommentar zum Wirbel um das Spiegel-Interview von Joschka Fischer von Winni Nachtwei (31.12.2002)

Das jüngste Spiegel-Interview von Außenminister Joschka Fischer bedeutet keine Abkehr von der bisherigen Ablehnung eines etwaigen Irak-Krieges. Wer sich nicht mit den verdrehenden Vorab-Überschriften vom Wochenende begnügt und das Interview im Wortlaut liest, wird feststellen:

Fischer begründet erneut , warum ein Irak-Krieg nicht zu rechtfertigen und nicht zu verantworten ist und die Bundesrepublik sich deshalb militärisch nicht beteiligen wird: Die Eindämmung Saddam Husseins habe bisher funktioniert; eine Verbindung zum internationalen Terrorismus sei nicht erkennbar; dessen Bekämpfung habe oberste Priorität; ein Irak-Krieg würde aber die Prioritäten vertauschen, den Zusammenhalt der Anti-Terror-Koalition sowie die regionale Stabilität gefährden – und damit auch die Sicherheitsinteressen Europas als direktem Nachbarn betreffen. Insofern unterscheidet sich ein etwaiger Irak-Krieg grundlegend vom Kosovo-Krieg und Enduring-Freedom.

Ab Januar steht die Bundesregierung vor der Herausforderung, im Sinne dieser Grundpositionen im VN-Sicherheitsrat zu wirken: für die Umsetzung der VN-Resolutionen gegenüber dem Irak und seine friedliche Entwaffnung, für die Verhinderung eines Irak-Krieges und eine deutsche Nichtbeteiligung im schlimmsten Fall eines solchen Krieges. Als Mitglied des Sicherheitsrates wird sie in unausweichliche Entscheidungssituationen kommen.

Wenn Fischer eine Festlegung für den möglichen, aber mit vielen Unbekannten behafteten Fall einer erneuten Sicherheitsratsentscheidung jetzt ablehnt, ist das kein Kurswechsel, sondern richtig und ein Gebot diplomatischer Klugheit. Die Grundpositionen sind eindeutig und bleiben. Jetzt kommt es verstärkt auf ihre diplomatische Umsetzung an. Kategorische Festlegungen für ein Verhalten im unklaren Einzelfall würden die Verhandlungs- und Vermittlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik auf dem diplomatischen Glatteis nicht stärken, sondern massiv schwächen. (Dass wir intern verschiedene Optionen diskutieren und aus der Defensive heraus müssen, steht auf einem anderen Blatt.) Hieraus ein „halbes Ja zum Krieg“ (Spiegel-Online) zu schlussfolgern, ist eine Unterstellung und Verfälschung.

Die Bundesregierung wird in den kommenden Monaten in zentraler Weise Mitverantwortung für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden übernehmen. Dass sie und wir dabei erhebliche Klippen zu umschiffen haben, ist absehbar. Die internationalen und innenpolitischen Explosionsgefahren sind enorm. Es kommt darauf an, der eigenen Regierung bei ihrem Kurs einer nichtkriegerischen Konfliktlösung den Rücken zu stärken.

Eine breite Negativkoalition betreibt – aus z.T. gegensätzlichen Interessen – genau das Gegenteil:

Die konservative Opposition suggeriert seit Wochen, Rot-Grün falle schrittweise um und bereite den nächsten großen Wahlbetrug vor. Zugleich kündigt die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, ihre Partei und Fraktion werde gegebenenfalls einem Irak-Krieg und einer deutschen Beteiligung daran zustimmen. Indem sie kein Wort verliert zu den erklärten Absichten der US-Hardliner und den Gefahren eines Irak-Krieges, macht sich die konservative Opposition zum Schützenhelfer derjenigen, die einen Irak-Krieg wollen und die Bundesregierung direkt und indirekt unter Druck setzen.

Merkwürdigerweise erregt das in der Öffentlichkeit weder Aufmerksamkeit noch Kritik. Zu verbreitet ist offensichtlich das Abfinden mit dem angeblich unausweichlichen Irak-Krieg – in einem Großteil der Medien wie in Teilen der Friedensbewegung. Auch hier überwiegt die Fixierung auf das angebliche rot-grüne „Umfallen“ und ist wenig Interesse daran zu spüren, wie der richtige Anti-Kriegs-Kurs auf dem diplomatischen Glatteis und unter den Bedingungen multilateralen Außenpolitik durchgehalten und wirksam gemacht werden kann, wie die Friedenschance bestmöglich genutzt werden kann.

In einen Krieg führen viele Wege. Ein breiter ist die Kapitulation vor dem Krieg.

(4) Persönliche Notizen: Neujahrsklausur der bündnisgrünen Fraktion am 9.1.2003, TOP Irak (Kladde XVI)

Ausführliche Ausführungen von Joschka: „An der Position der Bundesregierung und meiner hat sich nichts geändert! Übergang zu Irak (vom Kampf gegen den Terror) schwer begründbar. Irak eine Spielart von blutigem arabischem Nationalismus. Zusammenhang mit Al Qaida: abgehakt. Da sei kein Kampf gegen den Terrorismus – Verschiebung des Schlachtfeldes! Erinnerung an Begegnung mit Wolfowitz im November 2001, tief deprimierend. Die Gefahr des internationalen Terrorismus wird unterschätzt, hier liegt aber die Hauptaufgabe. Terrorismus wird mittelfristig Gewinner der Intervention.

Zur regionalen Stabilität: Demokratisierung von außen und oben ist illusorisch, unvergleichlich mit Europa 1945 ff. Antiwestliche Motive werden eher verstärkt. Eine Neuordnung ist nur über die Lösung der Regionalkonflikte möglich.

Bei Massenvernichtungswaffen und Terrorismus ist nicht der Irak die erste Gefahr!!

Großes Problem nur, dass damit im Dissens mit der Regierung des größten Bündnispartners, der eine „präventive Selbstverteidigungs-Doktrin nach nationalen Gesichtspunkten formuliert hat!!

Interessenwiderspruch, auch Unionswähler wollen zweierlei:

– Keine Kriegsbeteiligung

– Keine Gefährdung des transatlantischen Verhältnisses. (…)

Ich nehme als Koordinator des AK IV (Außenpolitik etc.) und stellvertretender Fraktionsvorsitzender nehme eindeutig und vehement Stellung – gegen den Kriegskurs der Bush-Administration gegen den Irak und gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung. Starker Beifall.

Volle Unterstützung von Antje Vollmer.

(5) Persönliche Notizen: MdB`s des grünen AK IV (Internationale Politik + Menschenrechte) am 16.1. 2003 mit Joschka Fischer (Kladde XVI):

„Einschätzung der Lage: des US-Kriegswillens (Entscheidung gefällt), der Angst der Anrainer, der einzigen Chance über Bemühungen der arabischen Staaten. Über fehlenden „Kriegsgrund“ im Sicherheitsrat nicht zu stoppen. Bush zu sehr unter Druck, es geht einzig um Saddam, ohne seinen Sturz kann Bush nicht zurück. Riesiger strategischer Fehler! Wolfowitz-Linie aus den 90er Jahren!) Jetzt auch Konfrontation mit arabischem Nationalismus! Das gibt andauernden asymmetrischen Krieg!!

Antje (Volmer): stand noch nie so sehr hinter der Regierung wie jetzt!

(Mir ist stellenweise zum Heulen zumute angesichts des US-Wahnsinns, angesichts der transatlantischen Kluft, die sich jetzt auftut! Gut nur, dass Rot-Grün steht!“

(6) Persönliche Notizen: 40 Jahre Elysee-Vertrag in Versailles am 22.1.2003 (Kladde XVI)

Essen der ca. 900 Abgeordneten von Nationalversammlung und Bundestag im Schlachtensaal: An den Wänden die pompös gemalte Kriegsrealität/-normalität der früheren Jahrhunderte. Auf deutsches Drängen ist das Essen nur begrenzt üppig. (…) Gemeinsame Sitzung im Plenarsaal (..) Ein historischer deutsch-französischer Glückstag! Kluge und beharrliche Politik schufen ein Wunder, das jetzt schon 40 Jahre anhält! Zugleich klare Worte in Richtung eines möglichen Irak-Krieges. Deutlicher Beifall, außer von Pflüger!“

(7) Argumente und Perspektiven gegen den drohenden Irak-Krieg, Winni Nachtwei, 22.1.2003

  1. Ausgangslage

Der Countdown für einen Krieg gegen den Irak läuft. Die USA beschleunigen den Aufmarsch ihrer Truppen. Der Krieg scheint unausweichlich.

Die VN-Rüstungskontrolleure intensivieren ihre Arbeit, haben aber noch keine massiven Verstöße gegen die VN-Auflagen finden können. Immer mehr Staaten drängen auf mehr Zeit für die VN-Rüstungskontrolleure. Arabische Regierungen suchen nach friedlichen Auswegen aus der Kriegsgefahr. Die Kirchen nehmen so deutlich gegen den drohenden Krieg Stellung wie nie zuvor. In den europäischen Gesellschaften ist die große Mehrheit gegen einen Krieg, in den islamisch geprägten Staaten sind es die ganzen Gesellschaften und alle Regierungen. Der Krieg darf nicht unausweichlich sein!

Die rot-grüne Bundesregierung hat sich seit Monaten so deutlich gegen einen Irak-Krieg positioniert wie keine andere ihrer „Gewichtsklasse“. Doch seit November schien die Anti-Kriegs-Position zu bröckeln. An den Themen ABC-Füchse in Kuwait, AWACS, Überflugrechte, Interpretation der Resolution 1441, Stimmverhalten im Sicherheitsrat wuchsen Zweifel an der Standfestigkeit von Rot-Grün.

Die Klausursitzungen der Koalitionsfraktionen Anfang des Jahres, die Erklärungen von Kanzler und Außenminister und die Resolution des Grünen Parteirates bekräftigten und klärten die Anti-Kriegs-Position von Rot-Grün: Die Ablehnung eines Krieges gegen den Irak ist umfassend, grundsätzlich und einmütig. Eine Zustimmung der Bundesrepublik zu einer Kriegsresolution im VN-Sicherheitsrat ist damit unvereinbar, ein Nein muss leistbar sein. Der Wille, in der hohen Verantwortung eines Sicherheitsratsmitglied zur friedlichen Entwaffnung des Irak und zur Kriegsverhütung beizutragen, ist gestärkt. Die Absage an eine militärische Beteiligung an einem Irak-Krieg durch Soldaten, Gerät und Geld ist eindeutig und gefestigt

  1. Schlüsselfragen

Wochenlang standen im Vordergrund der öffentlichen Diskussion Fragen nach dem „was wäre, wenn“ das Kind in den kriegerischen Brunnen gefallen ist. Viele gehen von der Unvermeidbarkeit eines Krieges aus. Das ist nahe liegend. Für Politik und Medien ist eine solche Haltung aber unverantwortlich. Ihre Aufgabe ist viel mehr, die Chance einer friedlichen Lösung nach besten Kräften zu nutzen, sich nicht nur gegen einen Irak-Krieg zu bekennen, sondern auch politisch dagegen zu wirken.

Unsere Grundpositionen sind:

Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolutionen gegenüber dem Irak und friedliche Entwaffnung im Bereich der Massenvernichtungswaffen

Verhinderung eines Irak-Krieges

Keine deutsche Beteiligung im schlimmsten Fall.

Dabei gilt es zugleich, das System der Vereinten Nationen zu stärken, Begleitschäden für das transatlantische Verhältnis und das Bündnis zu begrenzen und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU voranzubringen.

Um diese Position angesichts des enormen Gegendrucks durchhalten und etwas bewirken zu können, braucht die Bundesregierung breiteste innenpolitische Unterstützung und Partner im Sicherheitsrat, in EU, NATO und in den USA.

  1. Umsetzung der UN-Resolutionen gegenüber dem Irak

Das Regime des Saddam Hussein ist menschenverachtend, hat seine Nachbarn bedroht, strebt seit Jahren nach Massenvernichtungswaffen (MVW) und hat Chemiewaffen auch schon eingesetzt. Das Regime ist erklärter Todfeind des Staates Israel und unterstützt palästinensischen Terror und Selbstmordattentate. Notorisch verstieß der Irak seit 1991 gegen VN-Resolutionen und behinderte die VN-Kontrolleure mit aller Kraft. Seit Ende 1998 können die VN-Rüstungskontrolle nicht mehr im Irak arbeiten. Mit der Resolution 1441 fordert der VN-Sicherheitsrat den Irak auf, seine Bestrebungen nach Massenvernichtungswaffen offen zu legen und uneingeschränkt mit den VN-Kontrolleuren zusammenzuarbeiten. Anlässlich des Berichts von UNMOVIC-Chefs Blix am 9. Januar im VN-Sicherheitsrat erklärte der deutsche VN-Botschafter Pleuger, die Aussichten auf eine friedliche MVW-Entwaffnung des Irak seien noch nie so gut gewesen! In der Tat war der Irak noch nie so sehr unter Kontrolle wie jetzt.

  1. Krieg gegen den Irak: nicht zu rechtfertigen und nicht zu verantworten

Wesentliche Argumente gegen einen Krieg hat gerade Joschka Fischer schon im Februar 2001, mehrfach im Bundestag vor und nach der Wahl, vor und hinter den Kulissen, jüngst in der Fraktion überaus deutlich vorgetragen. Es ist eine hundertprozentige Ablehnung eines  Irak-Krieges aus tiefster Überzeugung. Bei seiner ersten Rede vor dem VN-Sicherheitsrat warnte am 20. Januar warnte er eindringlich vor einem Irak-Krieg.

Da zwischenzeitlich das Nein zum Krieg von Rot-Grün zurückhaltender und defensiver formuliert wurde, ist die Vergewisserung über die zentralen Argumente gegen einen Irak-Krieg angesagt.

  1. a) Die Eindämmung des Irak hat in den letzten Jahren insgesamt funktioniert. Zwischen 1991 und 1998 wurden der allergrößte Teil der Massenvernichtungswaffen des Irak, der Produktionsanlagen und Trägersysteme vernichtet. Die atomare „Abrüstung“ wurde praktisch abgeschlossen. Fast 100.000 Stück C-Artilleriemunition, mehr als 400 to C-Kampfstoffe, 817 von 819 importierten Scud-Raketen wurden vernichtet. Nachrichtendienstliche Überwachung und VN-Sanktionsregime hielten sein Streben nach MVW auch nach 1998 im Zaum. Bestrebungen im Bereich der leicht zu tarnenden B-Rüstung galten als wahrscheinlich. Registriert wurden laufend Einkäufe von Gütern, die im Rahmen einer C-Rüstung gebraucht werden können.

Die über Forschungen hinausgehende Entwicklung und Produktion von Atomwaffen bedarf einer entsprechenden Infrastruktur, Stromversorgung etc. und ist relativ auffällig. Hinweise darauf ergaben sich in den letzten Jahren nicht. (umfassend und aktuell zum MVW-Potential des Irak vgl. Bernd W. Kubbig (Hrg.): „Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, UNO und die Rolle Europas“, Campus ab 24.2.03, Auszüge in FR 11./13.1.03, www.fr-aktuell.de/doku )

  1. b) Der Irak stellt im Unterschied zu 1990 keine akute Bedrohung für seine Nachbarn dar. Im Gegenteil bemühte sich der Irak inzwischen, seine Isolation in der Region zu überwinden. (Absage an revisionistische Ansprüche gegenüber Kuwait, Gefangenenaustausch mit Iran, Freihandelsabkommen mit Ägypten, Syrien, Zustimmung zum saudi-arabischen Friedensplan)

Für eine Verbindung des Irak zu internationalen Terrornetzen gibt es trotz intensivster Ermittlungen bisher keinerlei Hinweise. Was der GAU für die internationale Sicherheit wäre und die Lage grundlegend ändern würde – die staatliche Förderung von Massenvernichtungswaffen in der Hand des internationalen Terrorismus – ist nicht eingetreten und nicht in Sicht. (Dass der Irak palästinensische Terrorgruppen, unterstützt, steht auf einem anderen Blatt.)

Es liegen keine zwingenden Gründe vor(akute Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens, akute humanitäre Katastrophe und Menschheitsverbrechen, Militärgewalt als einzig verbleibendes Mittel), die dem Sicherheitsrat die Berechtigung geben würden, eine Ausnahme vom internationalen Gewaltverbot zuzulassen. Es ist allerdings zu befürchten, dass die USA einen Kriegsvorwand inszenieren. (vgl. Tongking-Zwischenfall als Einstieg in den Vietnam-Krieg der USA)

  1. c) Das erklärte Ziel der US-Administration, einen Regimewechsel in Bagdad herbeizuführen und damit die Doktrin der „präventiven Selbstverteidigung“ in die Tat umzusetzen, stellt Ausnahmen vom internationalen Gewaltverbot in das Belieben des Stärkeren und stürzt das Völkerrecht und das System des Westfälischen Friedens um, statt es weiterzuentwickeln. Die Doktrin ist Teil einer strategischen Neuausrichtung der US-Weltpolitik (vergleichbar mit der von 1945/47), die den offensiven „Krieg gegen den Terror“ mit dem „präventiven“ Krieg gegen „Terrorstaaten“ verbindet. Durch einseitige Deregulierung der internationalen Beziehungen versuchen sich die USA freie Hand zu verschaffen. Irak gilt ausdrücklich als erster Schritt in dieser neuen Strategie, die auf die Chaotisierung der internationalen Beziehungen hinauslaufen würde.
  2. d) Das breit propagierte Ansinnen, über den Regimewechsel im Irak eine Neuordnung und Demokratisierung der ganzen Region anzustoßen, ist angesichts realer Macht- und Hegemonialinteressen der USA unglaubwürdig. Angesichts einer äußerst zerstrittenen, schwachen und wenig demokratischen irakischen Opposition ist es überdies illusorisch. Schon das Nation Building auf dem Balkan und in Afghanistan schafft die Internationale Gemeinschaft nur mit größter Mühe und großen Schwierigkeiten, ganz zu schweigen von der Abneigung der US-Streitkräfte gegenüber einer Beteiligung an solchen Aufgaben. Nach aller Erfahrung lassen sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht importieren. Sie können nur durch Unterstützung interner Kräfte gefördert werden. (Zur Stellenwert von Ölinteressen in der US-Politik vgl. Stephan Kaufmann/Sabine Schier: Das Öl und der Krieg, Berliner Zeitung Magazin 7.12.2002; Friedemann Müller: Das Öl des Irak, SWP-Aktuell 36. Sept. 2002)
  3. e) Die Kriegsfraktion in der US-Administration („Wolfowitz-Schule“) setzt auf den „Best Case“ einer in wenigen Wochen erfolgreichen Intervention. Das ist der unwahrscheinlichste Fall. Wer einen Regimewechsel will, muss den Kampf um Bagdad führen. Die Viermillionen-Stadt ist mit vier Verteidigungsringen zur Festung ausgebaut. Dort würde die Interventionsarmeen ihre technologischen Vorteile nur noch eingeschränkt ausspielen können. Es gäbe erhebliche Opfer auf beiden Seiten, insbesondere auch unter der Zivilbevölkerung. Die irakische Gesellschaft ist durch die Wirtschaftssanktionen und die Politik des Regimes enorm geschwächt und die Kindersterblichkeit extrem hoch, so dass viele Menschen auch dem Zusammenbruch der Versorgung zum Opfer fallen würden. Wenn interne VN-Schätzungen über die humanitären Folgen einer Luft-/Boden-Offensive von bis zu einer halben Millionen verletzter Irakis, über zwei Millionen Flüchtlingen und fast 10 Mio. Hilfsbedürftigen ausgehen, dann ist das kein Alarmismus, sondern die realistische Warnung vor einer riesigen humanitären Katastrophe.

Die menschlichen Folgen einer Intervention müssen umso mehr beachtet werden, als US-Militärs – so die Erfahrung von Kosovo und Afghanistan – vor allem daran interessiert sind, durch Lenkung der Medienberichterstattung und Nichterfassung die Opfer der „anderen Seite“ soweit wie möglich unsichtbar zu lassen.

Bemerkenswert ist, dass die Befehlshaber der US-Luftwaffe und –Marine eine kurze Intervention erwarten, während die Befehlshaber von Army und Marines (Bodentruppen) vor dem  Szenario „Festung Bagdad“ warnen. Zur Erinnerung: Die Intervention mit US-Spezialkräften in Somalia 1993 zur Ergreifung des Warlord Aidid sollte drei Wochen dauern, der Zugriff in der 7. Woche inmitten von Mogadischu war auf 30 Minuten geplant. Die Aktion wurde zum Desaster, dem 19 US-Soldaten und über tausend Somalis zum Opfer fielen.

  1. f) Die Fernsehbilder vom Kriegsschauplatz würden mit jedem Tag mehr Solidarisierungen in der islamischen Welt erzeugen, den arabischen Nationalismus anfeuern, Abneigung und Hass gegen die USA, Israel als den engsten Verbündeten sowie den ganzen Westen fördern. Der „Kampf der Kulturen“ bekäme enormen Auftrieb. Auch wenn vor allem autoritäre Regimes meinen, die Bevölkerung unter Kontrolle halten zu können, so ist die kurz- und mittelfristige Destabilisierung der Region absehbar. Schon heute gibt es in Kuwait eine islamistische Mehrheit. Besonders explosiv würde die Lage in der Türkei, wo 90% eine Intervention ablehnen und von wo ein großer Teil der US-Angriffe auf den Irak geführt würde.

Alle diese Destabilisierungen, Explosionen und unberechenbaren Entwicklungen würden sich in unmittelbarer Nachbarschaft Europas abspielen und auch Staaten in Mitleidenschaft ziehen, denen gegenüber Verpflichtungen bestehen. Europas Sicherheit ist gegenwärtig nicht vom  Irak, dafür umso mehr von den Auswirkungen und Ausweitungen eines Irak-Krieges bedroht.

  1. g) Der Krieg gegen ein islamisches Land würde vor allem den vielfältigen Gruppen des internationalen Terrorismus neue Anhänger und Kämpfer zu treiben. Das gilt besonders für den Fall eines schnellen US-Sieges, der die Ohnmacht sogar eines Saddam Hussein vorführen und somit noch mehr Terrorismus als Kampfform von Ohnmächtigen säen würde.

Konkret würde sich die Sicherheitslage auch für deutsche Truppen in Afghanistan und bei Enduring Freedom verschärfen. Allgemein würde das Potential globalisierter asymmetrischer Bedrohungen wachsen. Die sowieso schon schwierige Bekämpfung des internationalen Terrorismus würde enorm zurückgeworfen statt gefördert.

Wer jetzt Krieg gegen den Irak betreibt, setzt nicht nur die falschen sicherheitspolitischen Prioritäten. Er schadet massiv der Priorität der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der gegenwärtig die Hauptgefahr für die internationale Sicherheit darstellt.

  1. h) Ein länger dauernder Irak-Krieg und eine Konfliktausweitung hätte verheerende ökonomische Folgen. „Eine Explosion des Ölpreises und damit ein gewaltiger Schock für die Weltwirtschaft“ könnte die Folge sein. Es kann dann „zu einer Krise der Weltwirtschaft kommen, wie sie die Welt nach 1945 auch nicht annähernd gesehen hat.“ (F. Müller, a.a.O.)
  2. i) Um andere Staaten als Unterstützer zu gewinnen (politisch, Stationierungsrechte), setzen die USA alle ihre Macht- und Druckmittel ein, gegenüber Anrainerstaaten des Irak insbesondere der Türkei, gegenüber Mitgliedern des Sicherheitsrates. Damit beschädigen die US nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit, sondern vor allem auch die Autorität der VN und des Sicherheitsrates.

Außenminister Powell scheint mehr für die Einbeziehung der Verbündeten zu plädieren. Die US-Hardliner hingegen sind willens, im grundlegenden Dissens gegenüber ihren Verbündeten, mit der erzwungenen Unterstützung schwacher Anrainerstaaten und ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den VN-Sicherheitsrat einen sog. Präventivkrieg gegen den Irak zu führen. Eine solche Haltung beschädigt das transatlantische Verhältnis, das immer eine Sicherheits- und Wertegemeinschaft sein sollte, in seinen Grundfesten.

Das sind die Hauptargumente, warum ein Krieg gegen den Irak nicht zu rechtfertigen und nicht zu verantworten ist. Ihn als Abenteuer zu bezeichnen, wäre eine Beschönigung. Er hat sehr viel mit der Hybris in der Führung der letzten verbliebenen Supermacht zu tun.

Eine Parallelisierung mit dem Kampf der Alliierten gegen Nazi-Deutschland ist geschichtslos. Die Situation jetzt ist eine erheblich andere als vor dem 2. Golfkrieg 1991, 1998/99 im Kosovo und 2001 in Afghanistan, als zu Recht um das Für und Wider gestritten wurde. Jetzt ist die Traditionslinie Imperialismus unübersehbar.

Nach der friedensethischen Auseinandersetzung der letzten Jahre um die Frage, wann der Einsatz kriegerischer Gewalt gerechtfertigt sein kann, spricht vieles dafür, dass der mögliche   Irak-Krieg zum Prototyp des ungerechtfertigten Krieges wird. Er beinhaltet keinen Funken von legitimer Selbstverteidigung, von „humanitärer Intervention“ oder Krisenbewältigung. Die Stellungnahmen der Kirchen sind so deutlich wie nie zuvor, angefangen beim Papst. Schon im Herbst warnte er Präsident Bush in einem persönlichen Brief vor einem „Präventivschlag“. Der Ständige Rat der Dt. Katholischen Bischofskonferenz erklärte: „Eine Sicherheitsstrategie, die sich zum vorbeugenden Krieg bekennt, steht im Widerspruch zur katholischen Lehre und zum Völkerrecht. Ein Präventivkrieg wäre sittlich unerlaubt.“ Das Recht auf Selbstverteidigung setze einen „tatsächlichen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff voraus, jedoch nicht nur die Möglichkeit eines Angriffs.“ Die Bischöfe der anglikanischen Kirche von England und Wales: Ein Krieg gegen das Regime in Bagdad sei zurzeit „moralisch nicht gerechtfertigt“. Die US-amerikanische, britische, deutsche und möglichst auch französische Bischofskonferenz bereiten eine gemeinsame Stellungnahme vor.

Ein aktuell verbreitetes Argument ist, die USA hätten mit ihrer Kriegsdrohung und dem Truppenaufmarsch Saddam Hussein erst zu der Kooperationsbereitschaft gegenüber den VN gebracht, die er seit Jahren verweigerte und seit Beschluss der Resolution 1441 an den Tag legt. Die Wirkung der Kriegsdrohung ist nicht zu bestreiten. Aber aus der Kosovo-Krise ergab sich eine nachdrückliche Erfahrung: Wer droht, muss auch zur Umsetzung der Drohung mit allen ihren Konsequenzen bis zum Worst Case bereit sein, muss also ihre Verantwortbarkeit prüfen und darf nicht einfach auf die Wirksamkeit eines Bluff bauen.

  1. Die Position und Verantwortung Deutschlands

Im Wahlkampf hat sich die Bundesregierung so deutlich gegen einen Irak-Krieg und eine deutsche Beteiligung daran bekannt wie kein anderer Verbündeter der USA.

Der Vorwurf, Rot-Grün habe damit Deutschland in beispielloser Weise isoliert, ist verkürzt und falsch.

Mit dieser Position steht die Bundesrepublik ganz und gar nicht allein: Sie repräsentiert wie kaum eine andere Regierung die Anti-Kriegs-Haltung der Gesellschaften europaweit. Für viele Menschen gerade in Großbritannien und USA war und ist die Haltung der Bundesrepublik eine große Ermutigung. Das Ausscheren des besonders verlässlichen Bündnispartners Deutschland hat mit dazu beigetragen, dass sich die USA auf den VN-Weg einließen und die VN wieder im Mittelpunkt stehen.

Rot-Grün hat der US-Administration Paroli geboten wie noch nie zuvor. Der massive transatlantische Dissens war aber schon vorher in den Konflikten um den globalen Klimaschutz, den Internationalen Strafgerichtshof, um Rüstungskontrolle etc. aufgebrochen. Er wurde dann durch überzogene Wahlkampftöne personalisiert und emotionalisiert.

Kategorische Botschaften brachten Massenwirkung im Wahlkampf. Sie schränkten danach aber auch die diplomatische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik ein, insbesondere im Hinblick auf eine gemeinsame europäische Position.

Als nichtständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates mit Vorsitz im Februar steht Deutschland in der kritischen Phase nun in zentraler Mitverantwortung dafür, dass die Irak-Krise zum Nutzen und nicht zum Schaden internationaler Sicherheit gelöst wird. Die Bundesregierung ist gefordert, die unveränderte Grundposition glaubwürdig durchzuhalten und vor allem auch in ihrem Sinne zu wirken. Die Rede Joschka Fischer`s vor dem VN-Sicherheitsrat („selbstbewusstes Plädoyer gegen einen Irak-Krieg“/SZ) eine Woche vor Vorlage des Blix-Berichtes war ein hervorragender Einstieg.

Für Gesprächs- und Vermittlungsfähigkeit braucht es diplomatische Bewegungsfreiheit. Gegenüber dem massiven Druck der „Kriegspartei“ braucht es zugleich klaren Kurs und Standfestigkeit, Verbündete und Rückenstärkung.

Rückenstärkung aus der Gesellschaft, der SPD und Grünen, der Koalitionsfraktionen kann es aber nur gegenüber einem erkennbaren und glaubwürdigen Kurs der Bundesregierung geben.

  1. Keine deutsche Beteiligung an einem Irak-Krieg!

Das Wahlkampfversprechen war eindeutig: Keine deutsche Beteiligung an einem Irak-Krieg!

Die praktische Umsetzung dieses kategorischen Versprechens wurde zur Gradwanderung.

Der zunächst unklare Kurs und Un- und Vielstimmigkeiten in der Koalition waren ein Einfallstor für diejenigen in Medien, Opposition und Teilen der Friedensbewegung, die in erster Linie am Glaubwürdigkeitsverlust von Rot-Grün interessiert zu sein scheinen.

Es ist üblich, die Absage an eine deutsche Beteiligung an einem möglichen Irak-Krieg klein zu reden. Abgesehen davon, dass das Nein der Bundesregierung international hohe Aufmerksamkeit und Anerkennung findet: Schwarz auf Weiß lehnte die Bundesregierung die US-Anfrage nach Militärpolizei, regionaler Raketenabwehr, ABC-Abwehrkapazitäten und Hilfen für einen Wiederaufbau ab. Abgelehnt wurde auch jede Beteiligung an den Kriegskosten wie noch 1991.

Wenn es heißt, mehr wollten die USA sowieso nicht von der Bundesrepublik, dann ist das eine Täuschung. Von einer kriegswilligen Bundesrepublik könnte noch einiges mehr angefordert werden. Überdies hätten auch kleinere aktive Beiträge eine hohe symbolische Bedeutung. (vgl. die deutsche Beteiligung am Kosovo-Luftkrieg „nur“ mit einigen ECR-Tornados)

Hinsichtlich der Bewegungsfreiheiten der alliierten Streitkräfte auf deutschem Hoheitsgebiet, ihrer Überflugrechte und dem Schutz ihrer Liegenschaften haben Rot-Grün, aber noch mehr Kandidat Stoiber im Wahlkampf zum Teil Erwartungen geweckt, als könne sich die Bundesrepublik nach eigenem Gutdünken aus ihren vertraglichen und Bündnisverpflichtungen verabschieden. Die Gewährung von Überflugrechten etc. geschieht im Rahmen von Stationierungs- und Völkerrecht. Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt, dass es dabei grundsätzlich auch politische Spielräume gibt. Die Bundesregierung muss sich an Recht und Verträge halten. Aus diesen ergeben sich Verpflichtungen, aber auch Grenzen:

Truppen- und Flugbewegungen im Rahmen einer eindeutig vom VN-Sicherheitsrat legitimierte Militärinterventionen dürfte die Bundesrepublik nicht behindern. (Art. 43 VN-Charta)

Bei Militäreinsätzen, die nicht von der VN-Charta gedeckt sind und gegen sie verstoßen, insbesondere im Fall eines Angriffskrieges darf die Bundesrepublik keinerlei Unterstützung leisten, auch nicht durch die Gewährung von Transit- und Überflugrechten. Eine solche Situation würde zu einem massiven transatlantischen Zerwürfnis und einer zu einer tiefen Krise in der NATO führen.

Für die Bundeswehrkontingente bei Enduring Freedom, insbesondere die sechs ABC-Spürpanzer in Kuwait und die Marineschiffe am Horn von Afrika gilt unverändert, dass sie nur im Rahmen ihres Auftrages eingesetzt werden dürfen. Damit ist ihre Verwendung im Rahmen eines Angriffes auf den Irak politisch ausgeschlossen.

Die Verstärkung der deutschen ISAF-Kräfte in Kabul ergab sich aus den Notwendigkeiten vor Ort und der guten Arbeit der Bundeswehr dort. Sie bedeutet keine Lastenumverteilung im Hinblick auf einen etwaigen Irak-Krieg.

Zu den AWACS-Flugzeugen der NATO gab es inzwischen eine US-Anfrage bei der NATO. Die deutschen Position bleibt wie angekündigt: Die AWACS dürfen nur zur Luftraumüberwachung für das Bündnisgebiet eingesetzt werden. An Feuerleitaufgaben für Luftoperationen im Irak dürften sie nicht teilnehmen. Dies ist durch die rules of engagement festzulegen. Alles andere wäre „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“, über den der Bundestag beschließen müsste – mit absehbar ablehnendem Ergebnis.

Wenn jetzt 7.000 Bundeswehrsoldaten zum Schutz von Einrichtungen der US-Streitkräfte in der Bundesrepublik eingesetzt werden, liegt das im Rahmen der Schutzverpflichtungen des Aufnahmestaates. Auch wenn dies keine politische Solidarisierung mit dem gegenwärtigen US-Kurs ist, so kann dieser „Wachauftrag“ für Soldaten doch an die Grenze des politisch Zumutbaren gehen. Die Abstellung von 7000 Soldaten bedeutet zugleich eine weitere enorme Belastung für die Bundeswehr und kann ihren Ausbildungs- und Dienstbetrieb beeinträchtigen.

  1. Szenarien und Optionen

Inzwischen ist klar gestellt: Im Falle einer Kriegsresolution des Sicherheitsrates würde der deutsche Vertreter der unveränderten Grundposition entsprechend abstimmen, also auf keinen Fall zustimmen. Dass die Bundesregierung nichts desto weniger eine explizite Vorabfestlegung ihres Stimmverhaltens ablehnt, ist angesichts der vielen Unbekannten sinnvoll und im Hinblick auf ihre Manövrierfähigkeit auf dem diplomatischen Glatteis zweckmäßig.

Öffentliche Spekulationen über künftige Entscheidungen der Bundesregierung dienen oft eher der innenpolitischen Auseinandersetzung als der Stärkung des deutschen Anti-Kriegs-Kurses. Die Warnung vor Spekulationen ist deshalb angebracht. Sie wird kontraproduktiv und gefährlich, wo sie zum Abwehrreflex gegen unangenehm Fragen wird und vorausschauendes Denken blockiert.

Nach Vorlage des umfassenden Berichts der UNMOVIC-Kontrolleure ab 27. Januar sind trotz etlicher Unwägbarkeiten grundsätzlich einige Szenarien mit Variationen denkbar. Entscheidende Einflussfaktoren dabei sind das Verhalten der US-Regierung, des Irak, das Urteil von UNSCOM, der anderen ständigen SR-Mitglieder GB, FR, RUS und CHI, der nicht ständigen Mitglieder insbesondere DEU, SPA (insgesamt vier EU-Staaten).

Dabei geht es gleichzeitig um zwei Themen und Ziele: Die Entwaffnung des Irak im Bereich der MVW ist das Ziel der Masse der VN-Mitglieder und der Sicherheitsratsresolutionen. Für die US-Administration ist dies das Sekundärziel und Einfallstor für das Primärziel des Regimewechsels. Darauf sind auch alle US-Invasionsplanungen ausgerichtet, und nicht etwa auf eine begrenzte Intervention „nur“ zur Zerstörung von MVW und Produktionsanlagen.

Die vier europäischen SR-Mitglieder repräsentieren auf der Regierungsebene – im Unterschied zum gesellschaftlichen Anti-Kriegs-Konsens – das ganze Spektrum an Positionen: Vom „Ja“ Tony Blair`s über das „Ja aber“ Spaniens und das „Nein aber“ Frankreichs bis zum „Nein“ Deutschlands. Bulgarien, Kamerun, Guinea, Mexiko und Angola sind als Empfänger amerikanischer Auslands- und Militärhilfe druckempfindlich. Befürworter einer politischen Lösung sind FR, RUS, CHIN, Syrien, Pakistan und Deutschland.

Zentral ist der Zeitfaktor: Aus klimatischen Grünen kann eine Invasion mit Bodentruppen nur maximal bis Mai stattfinden. Bisher (Mitte Januar) sind 60.000 US-Soldaten in der Region aufmarschiert, weitere 70.000 sind in Marsch gesetzt, 250.000 gelten als Mindeststärke für eine Bodeninvasion. Für diese steht die entsprechende Ausrüstung und Logistik schon in der Region bereit. (1991 umfassten die Koalitionsstreitkräfte insgesamt über 680.000 Soldaten, davon 415.000 Amerikaner) Als frühester Angriffsbeginn gilt Mitte Februar, als spätester Mitte April.

Unmittelbar nach Vorlage des UNSCOM-Berichts hält Präsident Bush am 28. Januar seine Rede an die Nation. Mit dem Truppenaufmarsch, mit der politischen Rhetorik, den hochgepuschten Erwartungen in der US-Öffentlichkeit und der auf Entscheidung drängenden Wirtschaft (vor allem die Ungewissheit wird als lähmend empfunden) hat sich Bush in den enormen Handlungsdruck eines „show-down“ manövriert. Ein Rückzug ohne den „Kopf von Saddam“ und ohne Gesichtsverlust scheint kaum möglich. Auf der anderen Seite gibt es in der US-Bevölkerung Unterstützung für eine Irak-Intervention nur unter der Bedingung, dass sie gemeinsam mit Alliierten erfolgt. Ein Alleingang hätte nur noch eine Minderheit hinter sich.

(Wenn nachfolgend von „Kriegsgrund“ die Rede ist, so meint das nur die mögliche Bewertung im Sicherheitsrat, nicht meine Bewertung.)

Szenario 1: Sturz/Rücktritt Saddam Husseins durch Putsch (gilt als höchst unwahrscheinlich) und Exillösung (Bemühungen Dritter).

Szenario 2: Befund eindeutig negativ: Keine Beweise gefunden, keine Behinderungen der Inspektoren, US- und GB-Vorwürfe ohne Belege. Für den Sicherheitsrat wäre Krieg dann kein Thema und die Fortsetzung von UNMOVIC abgesagt. (Um seriös überprüfen zu können, ist sowieso ein längerer Zeitraum nötig.) Zzt. nicht mehr unwahrscheinlich.

Szenario 3: Befund überwiegend negativ: Keine Beweise gefunden, aber offene Fragen wg. Altbeständen, Defizite bei Kooperationsbereitschaft. Kein/kaum Kriegsgrund. Zzt. wahrscheinlich.

Szenario 4: Befund teils/teils: Beweise gefunden, aber weiter Kooperationsbereitschaft, so dass friedliche Zerstörung möglich; oder Beweise gefunden, provozierte Nichtkooperation (z.B. am Punkt Vernehmung von Wissenschaftlern im Ausland). Eher Kriegsgrund, ggfs. Kriegsgrund im Dissens.

Szenario 5: Befund positiv: Beweise gefunden, Behinderungen der Inspektoren, also „massive Verletzung“ der Resolution 1441. Möglicher, aber nicht zwingender Kriegsgrund. Zzt. eher unwahrscheinlich.

Szenario 6: Befund positiv/extrem: Beweise für die Kooperation des Irak mit internationalem Terrorismus in Sachen MVW, Nichtkooperation. Neue Lage. Kriegsgrund. Sehr unwahrscheinlich.

Der SR wird sich mit dem UNSCOM-Bericht befassen. Danach hat er folgende Optionen:

  1. a) Fortsetzung von UNMSCOM ohne oder mit neuer Entschließung
  2. b) Entschließung über ernste Konsequenzen, sprich Militärintervention zur Durchsetzung der SR-Resolutionen (zur gezielten Beseitigung von Massenvernichtungswaffen, Produktionsanlagen, Trägersystemen bzw. darüber hinaus Zwang bis zum vollen Einlenken des Regimes), ggfs. mit Ultimatum.
  3. c) Entschließung, die Mitgliedern des SR ausdrücklich freie Hand lässt zu einer Militärintervention
  4. d) Keine Entschließung, sondern freie Hand auf Grundlage der Res. 1441 (entsprechend der US-Interpretation, gegen die FR- und RUS-Interpretation)

Entscheidend ist, dass der Sicherheitsrat  Herr des Verfahrens bleibt, er sich das alleinige Recht auf Entscheidungen über Krieg und Frieden vorbehält, seine Mitglieder gegenüber US-Druck ihre Entscheidungsfreiheit behalten. Deshalb wäre im schlimmeren Fall eine zweite Resolution unbedingt notwendig. Den USA ohne ausdrückliche SR-Resolution freie Hand zu lassen, würde die Autorität des Sicherheitsrates in Sachen Krieg und Frieden nachhaltig beschädigen.

Die Bundesregierung muss hier die Option wählen, die glaubwürdig bleibt und die internationale Sicherheit aktuell wie längerfristig (Völkerrecht) stärkt und nicht zurückwirft. Zugleich ist darauf zu achten, die möglichen „Begleitschäden“ für die internationale Stellung der Bundesrepublik und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu begrenzen.

Konkret: Die Inspekteure brauchen unbedingt mehr Zeit. Eine Kriegsermächtigung darf nicht erteilt werden.

Im schlimmeren Fall einer SR-Resolution zur Kriegsermächtigung könnte die Bundesrepublik mit der Anti-Kriegs-Position, die ihr Stimmverhalten bestimmen und ein Ja ausschließen wird, in eine komplizierte Situation gegenüber ihren Verbündeten geraten. Diese Risiken werden vielfach hoch dramatisch dargestellt. Ich selbst kann sie nicht ausreichend absehen. Hier ist nüchterne Prüfung angesagt.

Im schlimmsten Fall eines Krieges kommt es von vorneherein darauf an, der Konfliktausweitung entgegenzuwirken, den Brandherd einzudämmen und humanitäre Hilfe für alle Seiten zu leisten.

  1. Das Doppelspiel der CDU/CSU-Führung

Seit Monaten attackiert die konservative Opposition die Anti-Kriegs-Position von Rot-Grün. „Schäuble, Pflüger und die anderen bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, ob sie einen Militärschlag für notwendig oder gar für richtig halten. Mit Ausnahme des CSU-Außenseiters Gauweiler hat bisher kein bekannter Unionspolitiker gesagt, ob er den Regimewechsel in Bagdad mittels Krieg unterstützt oder ablehnt.“ (SZ 18.1.2003) Ihr außenpolitischer Sprecher Friedbert Pflüger spricht verharmlosend davon, ein militärisches Vorgehen sei „nicht ohne Risiko“. Statt dessen versucht die Union das Thema als „Beziehungskiste“ hochzuziehen: Rot-Grün schade den transatlantischen Beziehungen und treibe Deutschland in die „völlige Isolierung“; Rot-Grün kippe das Nein zum Irak-Krieg und täusche damit die eigenen Wähler.

Indem sie aber nur mit der Bündniskeule auf die Kritiker des US-Kurses eindrischt, diesen Kurs zugleich völlig schont, macht sie sich zu dessen Bundesgenossen. Im Ergebnis leistet die CDU/CSU damit denjenigen Schützenhilfe, die einen Irak-Krieg wollen. Ihre Definition deutscher Sicherheitsinteressen scheint sich im Schulterschluss mit der US-Administration unabhängig von ihrem Kurs zu erschöpfen. De facto bietet die CDU/CSU den USA damit eine aktive Kriegsbeteiligung Deutschlands an. Das sollte von uns deutlich thematisiert werden.

  1. Friedenspolitik und Friedensbewegung

Nicht erst an einem Tag X, wenn es mal wieder zu spät ist, sondern jetzt in den kommenden Wochen sind breitestmögliche gesellschaftliche Willensbekundungen notwendig. In Deutschland, in Europa und den USA. Die überwiegende Mehrheitsmeinung hierzulande gegen den Krieg muss sichtbar und spürbar werden, damit die Chancen einer friedlichen Lösung nach besten Kräften genutzt und nicht verspielt werden.

Wenn politisch Wirkung erzielt werden soll, kommt es auf eine breite und für Gesellschaft und Politik eindrucksvolle Mobilisierung an. Die Voraussetzungen dafür sind ambivalent:

Einerseits reicht die Ablehnung eines Irak-Krieges über die Wählerschaft von Rot-Grün weit in der von CDU/CSU und FDP hinein. Beste Voraussetzungen also.

Andererseits wirkt die Anti-Kriegs-Position der Bundesregierung entlastend und mobilisierungshemmend. Die Fehlwahrnehmung, der Krieg sei unabwendbar, wirkt lähmend.

Umso mehr kommt es auf kluge und plurale Bündnispolitik an: in der Auswahl der Bündnispartner, in den Botschaften und Forderungen, in der Bestimmung der politischen Gegner und Adressaten, in den Aktionsformen. Für Aktionseinheiten, die in die Mitte der Gesellschaft wirken sollen, geht es um den Konsens „Ablehnung eines Irak-Krieges“ und nicht um das Maximalprogramm von antimilitaristischen, antiimperialistischen und Friedensgruppen.

Der Zusammenarbeit zwischen Friedensbewegung einerseits und Grünen und Sozialdemokraten andererseits kommt dabei besondere Bedeutung zu. Angesichts der Auseinanderentwicklungen, Enttäuschungen und Zerwürfnisse der letzten Jahre wird das nicht einfach.

Teile der geschrumpften Friedensbewegung diffamieren die rot-grüne Außen- und Sicherheitspolitik pauschal als „Kriegspolitik“. Mit anderen Friedensorganisationen gibt es trotz aller Kritik an Kosovokrieg und Anti-Terror-Einsatz konstruktive Zusammenarbeit.

Auf der anderen Seite nehmen große Teile von Rot-Grün Friedensbewegung nur noch als   Überbleibsel vergangener Zeiten wahr und längst nicht mehr ernst.

Die notwendige Zusammenarbeit wird nur möglich werden, wenn gegenseitige Wahrnehmungen und Erwartungen nüchterner und

Rot-Grün kehrt mit der jetzigen Anti-Kriegsposition keineswegs in die erste Hälfte der 90er Jahre und „in den Schoß der Friedensbewegung“ zurück.

Die ist so wichtig, dass die andren erheblichen Widersprüche hintangestellt werden sollten.

Mit manchen Gruppen kann ich mir das nicht vorstellen. Mit ihrem dogmatischen Antiimperialismus, Sektierertum und ihrer Feindschaft zu Rot-Grün garantieren sie bekenntnisstarke und wirkungslose Kleinveranstaltungen.

Bei der Beurteilung unserer Bundesregierung bitte ich nicht um falsche Rücksichtnahme, sondern einfach um sorgfältige Wahrnehmung. In den letzten Wochen erlebe ich besonders deutlich, wie viel in Medien mit Verdrehungen und vereinfachenden Überschriften läuft, wie breit das Bemühen ist, die bisherige Anti-Kriegs-Position und die Absage an eine militärische Kriegsbeteiligung klein zu reden, und wie verbreitet ein – geradezu sehnsüchtiges – Warten auf ein „Umfallen“ der Bundesregierung ist.

Es kommt darauf an, die unverändert richtige Grundhaltung von Rot-Grün zu stützen, ihre Handlungsbedingungen zu berücksichtigen und sie da zu kritisieren, wo der Eindruck eines „Beidrehens“ entsteht.

  1. Schlussfolgerungen

– Intensive Begleitung des UN-Prozesses, Unterstützung der Arbeit der Rüstungsinspektoren und ihrer Unabhängigkeit

– Bekräftigung und Verstärkung unserer Argumente gegen einen Irak-Krieg in der Öffentlichkeit im Kontrast zur konservativen Opposition

– Klare Linie der Bundesregierung, glaubwürdig und diplomatisch handlungsfähig zugleich

– Möglichste Geschlossenheit in Fraktion und Partei, Vermeidung des Kronzeugen-Mechanismus; das setzt intensive interne Klärungen voraus

– International Verbündete suchen für Friedenspolitik im Sicherheitsrat

– Gesellschaftliche Rückenstärkung der Bundesregierung gegen diejenigen, die aus außen- oder innenpolitischen Gründen ihren Absturz wollen; kluge Bündnispolitik.

Teil II folgt

 

 

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