Bloodlands Ukraine und deutsche historische Verantwortung

In Deutschland ist sehr wenig bekannt, wie deutsche Truppen, SS, Polizei vor 81, 80 Jahren in der Ukraine wüteten.

Bloodlands Ukraine und deutsche historische Verantwortung

Winfried Nachtwei, 20.02.2023 (für die Zeitschrift „Frieden“ des „Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ in kürzerer  Fassung, ohne Schlusskommentar)

Seit mehr als einem Jahr tobt in der Ukraine eine Art von Krieg, wie die allermeisten von uns es in Europa nicht mehr für möglich gehalten hätten: Ein Angriffskrieg einer Atomweltmacht und UN-Veto-Macht gegen den verwandten Nachbarn mit einer Kriegführung, die auf Vernichtung des ukrainischen Staates und ukrainischer Kultur zielt und systematisch die Zivilbevölkerung terrorisiert. Überrascht hat in Ost und West zugleich, mit welcher Widerstandskraft die ukrainischen Streitkräfte, Staat und Bevölkerung sich bisher verteidigten und gegen den so überlegen scheinenden Angreifer behaupten konnten.

Beim deutschen Diskurs zum Ukrainekrieg und beim Streit um Waffenlieferungen und Verhandeln kommen historische kollektive Erfahrungen der Menschen in der Ukraine vergleichsweise wenig zur Sprache.

Dass Städte wie Bachmut (Artemowsk), Charkiw (Charkow), Cherson, Isjum, Kyjiw (Kiew), Mariupol, Mykolajiw (Nikolajew) und zahllose andere, die heute von russischen Kräften beschossen und bombardiert werden, vor 80/81 Jahren Schlachtfelder des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion waren, ist sehr wenig bewusst. Jahrzehnte-lang war dieses Kapitel der deutsch-ukrainischen Geschichte hierzulande regelrecht „unsichtbar“:[1] Laut einer Umfrage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt-forschung an der Uni Bielefeld von Anfang 2022 antworteten auf die Frage, welche drei heutigen europäischen Länder sie am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, nach Frankreich, Polen und Großbritannien 36,3% Russland, aber nur 1% die Ukraine und 0,1% Belarus.

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht mit über drei Millionen deutschen Soldaten in 113 Divisionen und hunderttausenden verbündeten Soldaten die Sowjetunion. Es war die größte Angriffsstreitmacht der Weltgeschichte. Die Heeresgruppe Süd griff mit 998.000 Soldaten den Großraum der heutigen Ukraine an, darunter die 6. Armee mit 14 Divisionen und die 16. Panzer-Division aus Münster. Die Kriegsspur dieser Verbände führte 14 Monate durch die Ukraine, bevor sie Stalingrad angriffen und dort vernichtet wurden.[2]

Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war von vorneherein als Vernichtungskrieg geplant, ausgehend von der NSDAP- und SS-Führung wie von der Wehrmachtsführung und Teilen von Spitzenbehörden. Vorbereitet wurde: „1. Ein „Hungerplan“ zur Abriegelung einiger Regionen von der Nahrungszufuhr, 2. Der Einsatz von SS- und Polizeieinheiten zur Ermordung bestimmter „Feindgruppen“, 3. Die Ermordung politischer Funktionäre der Roten Armee, 4. als Rahmen: die Aufhebung des Kriegsvölkerrechts und damit die völlige Entrechtung von Kriegsgefangenen und Zivilisten.“[3] Der „Kommissarbefehl“ und vor allem der „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ schufen die Voraussetzungen für die Ermordung der Politoffiziere der Roten Armee und die Außerkraftsetzung des Kriegsvölkerrechts – so die Ersetzung der Militärjustiz durch sofortige Erschießung und weitgehende Straffreiheit für deutsche Kriegsverbrechen.

Kriegsgefangene: Kalkuliertes Massensterben

Den Fronttruppen der Wehrmacht folgten unmittelbar die Einsatzgruppen (EG) von Sicherheitspolizei und SD, die EG C (700 Mann) mit vier Sonder- (4a, 4b) bzw. Einsatzkommandos (5,6) in der nördlichen und mittleren Ukraine, die EG D mit fünf Kommandos im Süden. Das Sonderkommando (SK) 4a (etwa 70 Mann) zog hinter bzw. neben der 6. Armee durch die Ukraine.

Geplant als erneuter „Blitzkrieg“ stießen die Panzerverbände der Wehrmacht schnell in die westliche Sowjetunion vor und schlossen in Kesselschlachten sowjetische Verbände mit Hunderttausenden Sowjetsoldaten ein: bei Uman gerieten im August 1941 über 100.000 in deutsche Gefangenschaft, bei Kiew im August/September angeblich über 600.000 (51 Divisionen), bei der Schlacht am Asowschen Meer im September/Oktober über 100.000, bei der (Zweiten) Schlacht bei Charkow im Mai 1942 um 240.000 Gefangene. Nach der Panzer-schlacht von Kalatsch (bis 11. August 1942) rühmte sich die 16. Panzer-Division in ihrer Divisionsgeschichte, ihr seien seit dem 22. Juni 1941 1.000 Panzer zum Opfer gefallen.

Bis Januar 1942 gerieten an der Ostfront 3,2 Mio. Menschen in deutsche Kriegsgefangen-schaft. Die Art der Unterbringung (oft in Erdhöhlen), die unzureichende Ernährung (Absenkung von Rationen) und medizinische Versorgung führten im Lagersystem zu einem „kalkulierten Massensterben“ (Pohl). In manchen Lagern starben Ende 1941 2.000 Gefangene täglich. Die meisten Gefangenen gingen laut Pohl in der besetzten Ukraine zugrunde – mindestens 800.000.

Bestimmte Gruppen von sowjetischen Kriegsgefangenen, vor allem Politfunktionäre und Juden, wurden sofort erschossen.

Von den ersten Kriegstagen an erschossen Einsatzgruppen und einzelne Einheiten der Wehrmacht als „verdächtig“ geltende Zivilisten, vor allem Mitglieder der kommunistischen Partei. Im Rahmen der Partisanenbekämpfung wurde die Einwohnerschaft von zahllosen vermeintlichen „Partisanendörfern“ samt Frauen und Kindern verbrannt. Seit September 1941 wurden für jeden durch Zivilisten erschossenen deutschen Soldaten 100 Personen erschossen.

Holocaust durch Kugeln

Von Anfang an war die Ermordung der Juden eng mit der Kriegsführung der Wehrmacht verbunden. Vereinbart war eine Arbeitsteilung zwischen Wehrmacht und SS- und Polizeieinheiten. Im vorderen Armeegebiet sollten kleine Sonderkommandos unter Kontrolle der Armeeoberkommandos agieren, in den Heeresgebieten dahinter personalstärkere Einsatzkommandos. Dabei sollten als „gefährlich“ markierte Zivilisten von SS und Polizei, „verdächtige“ Rotarmisten von der Wehrmacht erschossen werden.

„Das Militär hatte die Einsatzgruppen mit Quartier, Treibstoff, Lebensmittel und ggfs. Funkverbindungen zu unterstützen. Aufgrund dieser Absprachen operierten die mobilen Tötungseinheiten im Frontgebiet in „einzigartiger“ (Hilberg) Partnerschaft mit der Wehrmacht. (…) Vor dem Einmarsch in die Sowjetunion hatten alle Einsatzgruppen die Weisung erhalten, unauffällig großangelegte Ausschreitungen der Bevölkerung gegen Juden zu „inspirieren“. (…) In den ersten zwei Wochen des Feldzuges kam es in der Westukraine nahezu flächendeckend zu antijüdischen Pogromen mit brutalsten Massenmorden. (…) Eine Schlüsselrolle spielten hierbei die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die von ihr aufgestellten Milizen.“[4]

„Es gab Massenerschießungen an 2000 Orten.“[5] Die größten Massenmorde fanden statt in (Orte, die seit 2022 Kriegsschauplätze sind, fett):

Gebiet (Oblast) Ternopil (Tarnopol): Angehöriger der Waffen-SS-Division Wiking, lokale antisemitische Kräfte ermordeten im Juli 1941 mit Unterstützung von Sicherheitspolizei und Wehrmacht 9000 Juden. Bis 1944 wurden im Gebiet 132000 Juden ermordet.

Lwiw (Lemberg): Ab 1. Juli binnen vier Tagen Ermordung von mindestens 4000 Juden durch EG C, Wehrmachtsangehörige, ukrainische Nationalisten und Bevölkerung, am 5. Juli von 2000 als „sowjetfreundlich“ geltenden männlichen Juden. (…) Bis 1944 wurden im Gebiet Lemberg insgesamt 215000 einheimische Juden ermordet. Von ihnen wurden 117000 vor allem nach Belzec deportiert.

Gebiet Schytomyr (Shitomir): Nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 2. Juli begann die Ermordung von Juden am 9. Juli. Im Juli wurden 3000, im August 10000, im September ungefähr 27000 Juden erschossen. Insgesamt wurden im Gebiet bis 1944 55000 einheimische Juden ermordet. Zwischen Juli und September 1941 war in Shitomir das SK 4a unter SS-Standartenführer Blobel eingesetzt.[6]

Ort Berdytschiw (Berditschew, Gebiet Shitomir): Das ehemalige „russische Jerusalem“ mit 1926 56% jüdischem Bevölkerungsanteil.[7] Einmarsch der Wehrmacht am 7. Juli, Ermordung von 300 Juden am 10. Juli und am 28. Juli 148 durch das SK 4a. Am 15. September Erschießung von 18.600 jüdischen Ghetto-Häftlingen durch das Polizeiregiment Süd, Reservepolizeibataillon 45 und die Stabskompanie Friedrich Jeckelns

Bezirk Kamjanez-Podilskyj (Kamenez-Podolski): Am 26.-28. August Ermordung von 23.600 Juden an riesigen Bombentrichtern durch ein Kommando des Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russland Süd Friedrich Jeckeln unter Mithilfe des Polizeibataillons 320 (Berlin-Spandau)

Gebietshauptstadt Winnyzja (Winniza): Am 19./20. September Erschießung von 15.000 Juden durch eine Einheit des EK 6 zusammen mit den Polizeibataillonen 45 und 314. Als ab Januar 1942 acht Kilometer nördlich Winniza ein neues „Führerhauptquartier“ („Werwolf“) entstehen sollte, wurde die Juden in unmittelbarer Nähe der Anlage sofort erschossen. Am 16. April 1942 wurden 5000 Alte, Frauen und Kinder zu einer Gärtnerei gebracht, wo Monate zuvor 10000 Menschen ermordet worden waren:

 „In der Anlage klaffte eine große Grube; ein mit Brettern ausgelegter Pfad und ein lächelnder deutsche Offizier, der den Damen seine stützende Hand bot, sollten den Abstieg zum Bodengrund erleichtern. (…) In drei Meter Abstand von dieser langgestreckten großen Todesgrube hatten die Deutschen noch eine kleinere, quadratische Grube von vielleicht vier Metern Seitenlänge angelegt. Bei jedem Schub von Opfern, den sie zur großen Grube trieben, verlangten sie die Herausgabe der Kinder. Sie übernahmen die Kleinen, zerrten den Müttern die Babys aus den Armen, stießen, schlugen und brüllten die jammernden Mütter an – und erschlugen oder erschossen dann die Kinder an der kleinen Grube, während sie mit den Erwachsenen in der großen Grube eine „Sardinenpackung“ machten. (…) So stellten die Deutschen sicher, dass die kleinen Juden, die sonst von ihren Müttern nicht selten mit dem eigenen Leib vor den Kugeln geschützt wurden, tatsächlich tot waren, bevor man die Gruben mit Erde abdeckte. In gleicher Absicht hatten Männer des Einsatzkommandos an jenem Morgen auch das Entbindungsheim von Winniza aufgesucht. Jüdische Mütter, die gerade erst ihr Baby bekommen hatten und noch in den Wehen lagen, wurden in einen Wald geschleppt und erschossen. Die Neugeborenen packten die Männer wie unerwünschten Katzennach-wuchs in zwei Jutesäcke und warfen sie aus dem zweiten Stock aus dem Fenster.“[8]

Im Gebiet Winniza betrug die Zahl der jüdischen Todesopfer 1941 35020, 1942 stieg die Zahl der ermordeten Juden um 90000.

Gebietshauptstadt Mykolajiw (Nikolajew): Die Stadt wurde am 16. August von der 16. Panzer-Division besetzt, am 17./18. rückte das SK 11a ein. Erschießung von 227 Personen, die verdächtigt wurden, Juden oder politische Funktionäre zu sein. Am 21.-23. September Erschießung von 7000 Juden in einer Schlucht 12 km von Nikolajew, erst der Männer, dann der Frauen und Kinder durch da SK 11a, Transport durch Wehrmachts-Lkw`s. Bis Dezember wurden im Gebiet Nikolajew insgesamt 31100 Juden ermordet, in 1942 weitere 8700.

Gebietshauptstadt Cherson: Am 29. August auf Anordnung des Stadtkommandanten Erschießung von 100 Juden und 10 Kommunisten als Vergeltungsmaßnahme; Androhung, dass bei jedem neuen Sabotageakt 100 Personen, davon 50 Frauen, erschossen würden. Am 24./25. September Ermordung von mindestens 5000 Juden durch das SK 11a unterstützt vom SK 10a und Soldaten der 72. Infanteriedivision. Im selben Zeitraum bat der „Kommandant rückwärtiges Armeegebiet 553“ um Maßnahmen gegen die desolate Lage der psychiatrischen Anstalt in Cherson. Am 20. Oktober wurden in zwei „Aktionen“ rund 1000 Menschen ermordet.[9]

Kyjiw (Kiew) Babyn Jar: Nach der Einnahme Kiews durch die Wehrmacht am 19. Septem-ber ermordete das SK 4a am 29./30. September in der Babyn Jar-Mulde 33.771 Juden, unterstützt durch das dem HSSPF Friedrich Jeckeln unterstehende Polizeibataillon 303 und einheimische Kräfte. (Jeckeln war später der verantwortliche Planer und Organisator der Liquidierung des Rigaer Ghettos, bei der am 30. November und 8. Dezember 1941 insgesamt über 27.000 Menschen ermordet wurden – um Platz zu schaffen für die angekündigten Deportationszüge aus dem Reich.) SS-Polizeieinheiten und Wehrmacht arbeiteten reibungslos zusammen: eine Propagandakompanie druckte die Plakate, die den Juden unter Androhung der Todesstrafe befahl, sich an bestimmten Punkten zu sammeln; Pioniere sorgten für das Spurenverwischen. (Am 1. März 2022 wurde die Gedenkstätte Babyn Jar durch russischen Raketenbeschuss beschädigt, fünf Zivilisten wurden getötet.)

Bezirk Uman: Am 21. September antijüdische Ausschreitungen von Angehörigen der Ukrainischen Miliz unter Beteiligung vieler Wehrmachtssoldaten. Mehr als 1000 Frauen und Kinder wurden in einen Keller getrieben, der dicht verschlossen wurde. Die meisten erstickten. Am 22. September Erschießung von 1412 jüdischen Männern durch da EK 5, am 8. Oktober von 5400 jüdischen Zivilisten und 400 jüdischen Kriegsgefangenen durch das Polizeibataillon 304 (Chemnitz).

Dnipro (Dnjepropetrowsk): Am 13. Oktober Ermordung von 10000 Juden durch Angehörige der Stabskompanie von Friedrich Jeckeln und des Polizeibataillon 314; im Gebiet Dnjepropetrowsk wurden in 1941 insgesamt 24000 Juden ermordet.

Mariupol: Am 8. Oktober Einnahme, am 20./21. Oktober Erschießung von mindestens 8000 Juden durch das SK 4a. Zwischenbilanz des SK 4a Ende Oktober laut Ereignismeldung UdSSR Nr. 132 vom 12.11.1941: „Die Zahl der durch das SK 4a durchgeführten Exekutionen hat sich inzwischen auf 55.432 erhöht.“[10]

Charkiw (Charkow): Am 23. Oktober Einnahme, Anfang November für Juden Reduzierung der Brotration auf 40% (60 g Brot). Ab April starben monatlich mehr als 2000 Einwohner an Hunger. Ab 26. Dezember mehrere Massenerschießungen durch das SK 4a, unterstützt vom Polizeibataillon 314, ab 2. Januar alle noch lebenden Ghettohäftlinge. In der Schlucht von Drobyzkyj Jar wurden insgesamt 16.-20.000 Menschen erschossen, vorwiegend Juden, aber auch sowjetische Kriegsgefangene und Roma. (Am 18. März 2020 wurde der 96-jährige Borys Romantschenko in Charkiw bei einem Bombenangriff in seiner Wohnung getötet. Als 16-Jähriger war er nach dem deutschen Überfall nach Dortmund zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Er überlebte die KZ Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Am 70. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald sprach er auf dem früheren Appellplatz den Schwur von Buchenwald auf Russisch: „Der Aufbau einer Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“ Am 26. März wurde die Gedenkstätte in Drobyzkyj Jar durch russischen Beschuss beschädigt.)

Gebiet Donezk (Stalino): Am 20. Oktober Besetzung durch die Wehrmacht, ein erheblicher Teil der (1939) rund 65.500 jüdischen Einwohner konnte evakuiert werden bzw. fliehen. In Artemowsk, Kramatorsk, Jenakijewo und Stalino wurden Ghettos eingerichtet. Von Ende Dezember 1941 bis Anfang Januar 1942 wurden die Juden in den Ortschaften Konstantinowka und Krasnoarmeisk (seit 2016 Pokrowsk) ermordet. In Stalino ermordete das Einsatzkommando 6 in 450 Juden, im Dezember weitere Hunderte, bis zum 6. Februar 1942 weitere 150 Juden. Im April 1942 wurden „alle Juden des Ghettos, mehr als 3.000, erschossen oder in Gaswagen ermordet. Die Leichen wurden in den stillgelegten Schacht der Kohlegrube Kalinowka geworfen.“

In der kreisfreien Stadt Makejewka ermordete das Einsatzkommando 6 im Dezember 1941 etwa 500 Juden, weitere 100, hauptsächlich Frauen und Kinder, im Januar 1942, in der kreisfreien Stadt Gorlowka (südlich Artemowsk) im Februar 1942 alle 280 jüdischen Einwohner.

Bachmut (Artemowsk, Gebiet Donezk): Am 9.-12. Januar 1942 ermordeten Angehörige der Einsatzgruppe C etwa 3.000 Juden, indem sie diese in den Stollen eines ehemaligen Gipsbergwerkes 50-70 m unter der Erde bei lebendigem Leib einmauerten. Die Wände wurden abgesprengt, um die Tat zu vertuschen. Die 17. Armee leistete logistische Unterstützung. (Seit August 2022 steht Bachmut unter ständigem Beschuss, toben hier seit Monaten die heftigsten und verlustreichsten Kämpfe in der Ukraine)

Im gesamten Gebiet Stalino (Donezk) wurden 25.133 Juden ermordet

Mörderische Okkupation

Dem deutschen Vernichtungskrieg fielen in der Ukraine mindestens acht Millionen Menschen zum Opfer, darunter fünf Millionen Zivilisten und 1,6 Millionen jüdische Menschen, insgesamt ein Viertel der Bevölkerung.

Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies/München: „Die Vorstellung, dass, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind, der Krieg vorbei ist, stimmt nicht. Das hat die historische Forschung gezeigt. Ein Beispiel wäre das deutsche Besatzungsregime in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges. Da ist die Zahl der Toten höher nach dem Ende der Kampfhand-lungen gewesen. Das Morden, das Versklaven, der Terror gingen weiter.“[11]

Der Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, Einsatzgruppen und Polizeibataillone repräsentierte eine völkermörderische Energie und Professionalität, die jeden zivilen Widerstand zermalmte und nur militärisch zu stoppen war. Die Befreiung Europas vom NS-Terror war nur möglich dank allergrößter Widerstandsbereitschaft der Alliierten. Für die erfolgreichen Gegenoffensiven der Roten Armee, die zunächst die Hauptlast trug, waren die Waffenlieferungen der USA nach dem Leih- und Pachtgesetz von 1941 von ausschlaggebender Bedeutung.[12]

Gegen das Vergessen

Seit einigen Jahrzehnten wuchs aus den Kriegserinnerungen – gerade auch mit Hilfe des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge – „Versöhnung über den Gräbern“. Dieser Weg zum Frieden ist seit einem Jahr unter Beschuss, bleibt aber unverzichtbar.

Jetzt kommt verstärkt der zweite unverzichtbare Weg der Friedenssicherung in den Blick:

– aus dem Verständnis für die traumatischen Okkupationserfahrungen der Völker im Osten,

– aus der Einsicht, wie immens die menschlichen Opfer und wirtschaftlichen Kosten werden können, wenn Aggressoren nicht frühzeitig, wehrhaft und gemeinsam begegnet wird,[13]

– aus der elementaren Schlussfolgerung der damals von Nazi-Deutschland überfallenen Völker und Staaten, nie mehr wehrlos und nie mehr allein sein zu wollen:

  • Die fundamentale Verpflichtung kollektiver Sicherheit, dass Mitglieder der Vereinten Nationen, der NATO, der EU und anderer Organisationen gemeinsamer Sicherheit sich Beistand gegen Friedensstörer und Aggressoren versprechen, leisten – und dies nur können, wenn sie es vorbeugend organisieren. (UN-Charta Kapitel VII)

Anmerkungen zu Aufrufen und Offenen Briefen für „Waffenstillstand und Verhandlungen jetzt“ und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine

Verantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik muss vor und in allen Gewaltkonflikten immer sondieren und ausloten, wo es Gesprächskanäle, Verhandlungsansätze, Annäherungsmög-lichkeiten gibt – angefangen beim Gefangenenaustausch. Aber das geschieht primär hinter den Kulissen, weniger auf offener Bühne. Im Fall des Ukrainekriegs geht es nicht einfach um zwei Streithähne.

Wer an sich heranlässt, was der Ukraine und ihren Menschen unter deutscher Besatzung (und vorher mit dem Holodomor) an Menschheitsverbrechen angetan wurde,

  • wird verstehen, warum die ukrainischen Nachkriegsgenerationen sich gegen einen Aggressor so sehr zur Wehr setzen – erst recht gegenüber einem Putin-Regime, das auf die Vernichtung des ukrainischen Staates und der ukrainischen Kultur zielt und dafür die Zivilbevölkerung systematisch terrorisiert, stranguliert und in die Flucht treibt,
  • kann als Nachkomme der deutschen Kriegs- und Kriegergeneration den Nachkommen der Überfallenen am allerwenigsten Hilfe zum Überleben und damit zur Selbstver-teidigung verweigern.

Die Streitkräfte und Menschen der Ukraine nehmen ihr „naturgegebenes Recht zur indivi-duellen und kollektiven Selbstverteidigung“ (Art. 51 UN-Charta) wahr und setzen sich gegen den russischen Völkerrechtsbruch, gegen systematische Kriegsverbrechen und grund-sätzlich gegen den Extremismus des „Rechts des Stärkeren“ zur Wehr. Im Geiste von gemein-samer Sicherheit haben sie einen sicherheitspolitischen Anspruch auf so viel internationalen Beistand wie eben möglich. Der Ukraine diese Verteidigungs- und Überlebenshilfe zu leisten, ist ein zwingendes Gebot gerade deutscher historischer Verantwortung.

(Der Grundsatz der deutschen Rüstungsexportrichtlinien, keine Waffen in Krisengebiete zu exportieren, war in den letzten Jahrzehnten angesichts der vorherrschenden innerstaatlichen Gewaltkonflikte völlig richtig, wirkten sie da doch durchweg als Öl ins Feuer. Jetzt geht es um die Verteidigung des Völkerrechts gegen seine Zerstörer.)

Es ist das selbstverständliche Recht von Bürger:innen der Bundesrepublik Deutschland, Waffengewalt grundsätzlich abzulehnen – und damit auch Waffenlieferungen an andere Staaten. Notwendig ist, die möglichen und ggfs. ungewollten Wirkungen von bestimmten Waffenlieferungen zu bedenken.

Von der Bundesregierung und Parteien in staatliche Verantwortung aber zu fordern, der Ukraine keine Waffen zu liefern – wie es in Offenen Briefen und Aufrufen geschieht -, bedeutet Verweigerung von Überlebenshilfe, d.h. Verteidigungshilfe für ein europäisches Land, Absage an den Geist des Völkerrechts und gemeinsamer Sicherheit – und gnadenlose Geschichtsvergessenheit gegenüber einem Land, wo vor 80 Jahren deutsche Truppen völkermörderisch wüteten. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass nach der Denkweise der o.g. Aufrufe auch die ab 1939 von Nazi-Deutschland überfallenen Länder hätten verhandeln und Kompromisse schließen müssen, dass die – fürchterlich opferreiche – militärische Befreiung Europas durch alliierte Truppen nicht zu rechtfertigen war.

„Als die Deutschen kamen …“ So beginnen viele Erzählungen älterer Ukrainer über die russischen Soldaten, die ihre Dörfer besetzt haben. Dass die Älteren die Russen nimtsi nennen – das ukrainische Wort für die Deutschen -, davon hörte ich zuerst von der Mutter eines Kollegen, dann von einem anderen Reporter. Ich begann, selbst darauf zu achten. Und tatsächlich, die nimtsi waren überall, um Kiew, um Tschernihiw und anderswo. (…) Ich bin Tausende Kilometer gefahren. In jedem kleinen Dorf in diesem großen Land gibt es Checkpoints, an denen die Männer aus dem Ort stehen und ihn verteidigen. Es ist der Krieg des ganzen ukrainischen Volkes, aus einem einfachen Grund. Der Krieg richtet sich gegen das Recht der Ukrainer, zu existieren und friedlich so zu leben, wie sie es für sich entschieden haben. (…) Die meisten modernen Konflikte haben ihre Grauzonen. Irgendeinen historischen Grund. (…) Im Fall der Ukraine – und das ist einzigartig in der jüngeren Geschichte – bittet die reguläre Armee einer demokratisch gewählten Regierung um militärische Hilfe.“ (Die ukrainische Journalistin Nataliya Gumenyuk in der ZEIT vom 13. April 2022. Sie berichtet vor allem aus Kriegs- und Krisengebieten und ist Gründerin des Public Interest Journalist Lab

[1] Jan Pfaff, Auf den Spuren der Täter, taz 18.02.2023, https://taz.de/NS-Verbrechen-in-der-Ukraine/!5913858/ ; der Historiker Johannes Spohr betreibt den Archivrecherchedienst „present past“ für Recherchen zum Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft, 2021 erschien seine Dissertation „Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende“, Metropol-Verlag, http://gesternistjetzt.de/johannes-spohr/

[2] Winfried Nachtwei, Stalingrad vor 80 Jahren nach 14 Monaten Krieg in der Ukraine. Tat- und Opferspuren der 16. Panzer-Division aus Münster, Speerspitze im Vernichtungskrieg, vernichtet in Stalingrad, 12/2022, 23 Seiten, www.domainhafen.org ; Bernd Boll/Hans Safrian, Auf dem Weg nach Stalingrad – Die 6. Armee 1941/42, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 260 ff.

[3] Dieter Pohl, Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945, Gebhardt Handbuch er Geschichte Band 20, Stuttgart 2022, S. 140

[4] Boris Zabarko / Margret Müller / Werner Müller, Leben du Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse von Überlebenden, Berlin 2019, S. 58

[5] Pfaff 2023; bis 1996 waren mehr als 600 Vernichtungsorte in der Ukraine bekannt geworden. Zabarko a.a.O. S. 23

[6] Zum Darmstädter Einsatzgruppenprozess 1965-1968, Sondereinsatzgruppe 4a, Ankläger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, https://www.fritz-bauer-forum.de/archive/verbrechen-der-wehrmacht/

[7]  Robert Schlickewitz, Berditschew, das „jüdische Jerusalem“ im deutschen Lexikon, 8.12.2022, https://www.hagalil.com/2022/12/berditschew/

[8] Zabarko a.a.O., S. 331 f

[9] Zabarko a.a.O. S. 935

[10] Boll/Safrian  a.a.O. S. 269

[11] Interview in der taz vom 12.04.2022, https://taz.de/Osteuropa-Expertin-zu-Russlandpolitik/!5845124/

[12] Sven Felix Kellerhoff, US-Hilfe – Stalins amerikanische Laster, Welt 24.04.2009, https://www.welt.de/kultur/article3618336/US-Militaerhilfe-Stalins-amerikanische-Laster.html

[13] Vgl. Tim Bouverie, MIT HITLER REDEN – Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg, Hamburg 2021

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