Rede bei der Solidaritätskundgebung für die Ukraine am 1. Jahrestag des russischen Großangriffs

vor dem Historischen Rathaus des Westfälischen Friedens in Münster: Friedenssehnsucht reicht nicht!

Rede bei der Solidaritätskundgebung zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24.02.2023 vor dem Historischen Rathaus in Münster

Winfried Nachtwei, (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nahtwei )

Guten Tag liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Ukraine, iebe Münsteranerinnen und Münsteraner,

früher hieß es, in Münster regnet es oder es läuten die Glocken. Aber das ist nicht mehr immer so. Als wir hier am 24. August 2022 zum Unabhängigkeitstag der Ukraine zusammenstanden, herrschte schönster Sonnenschein. (Anm.: Heute ist es regnerisch und kalt. In Kursiv Ergänzungen gegenüber dem gesprochenen Wort)

Ein Jahr Krieg in Europa

– wie seit 1945 nicht mehr, als alliierte Truppen den sechsjährigen Angriffskrieg Nazi-Deutschlands beendeten und Europa militärisch befreiten;

– wie kaum sonst wo auf der Welt: Ein souveräner Staat soll vernichtet, Grenzen sollen mit Gewalt verschoben werden.

Das bricht mit dem ersten Grundsatz der Charta der Vereinten Nationen: der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder, der territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit eines Staates. (Art. 2) Und das durch eine UNO-Vetomacht und Atommacht.

Ein Jahr Krieg in Europa

Überraschend war die militärische Schwäche der so übermächtig erscheinenden russischen Armee. Umso mehr wurde versucht, diese durch größte Brutalität, durch Terrorisierung der Zivilbevölkerung auszugleichen.

Für viele hierzulande war aber auch die enorme Widerstandskraft der ukrainischen Streitkräfte, der bewaffneten Kräfte und vor allem der geschlossene Widerstand der Bevölkerung überraschend. Das verdient allerhöchsten Respekt.

Sehr erfreulich ist in dem Zusammenhang, was heute in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war: Die Reform der 2014 zerrütteten ukrainische Streitkräfte wurde maßgeblich von einer hochrangigen Beratergruppe aus NATO-Staaten unterstützt, darunter Volker Halbauer, ehemaliger Generalleutnant der Bundeswehr, der 2013-2016 Kommandierender General des Deutsch-Niederländischen Corps in Münster war.[1]

ABER

Vor einem Jahr gab es mit dem russischen Angriff ein böses Erwachen.

Jahrelang war vor allem in Deutschland Putin verkannt, verharmlost worden, herrschte Wunschdenken ihm gegenüber. Warnungen aus der Ukraine, aus Polen, aus den baltischen Staaten wurden nicht ernst genommen.

Mein Eindruck ist, dass diese Verharmlosungen und dieses friedenspolitische Wunschdenken in Teilen der deutschen Gesellschaft zurückkehrt.

Gefordert werden Verhandlungen und Waffenstillstand sofort.

Das ist sehr zu wünschen! Diplomatie muss immer, auch in schwierigsten Konflikten nach Ansatzpunkten dafür suchen.

Nur wie das umsetzen angesichts eines Angreifers, der ukrainische Staatlichkeit vernichten will, Zivilbevölkerung terrorisieren, vergewaltigen, vertreiben und entführen lässt?

An Frau Schwarzer, die verdiente deutsche Feministin: Seit wann empfehlen Sie, mit Vergewaltigern zu verhandeln und Kompromisse zu machen?[2]

Gefordert wird die Einstellung von Waffenlieferungen

Das würde angeblich den Krieg verlängern.

Was würde bei Einstellung der Waffenlieferungen geschehen? Die Ukraine würde wehrlos, der Eroberer bekäme freie Bahn – und nach aller Erfahrung wäre das kein Ende der Gewalt!

Rückblick 1941 mit Münsterbezug

Beim Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion ab 22. Juni 1941 war im Süden, auf dem Boden der Ukraine die16. Panzer-Division aus Münster in Westfalen dabei. Schon wenige Wochen später, im Juli, rollte sie durch den Raum Berdytschiw (Berditschew) nördlich von Winnyzja (Winniza). (Winnyzja und Münster sind seit Dezember in einer Solidaritätspartnerschaft verbunden) In Berdytschiw wurden schon im Juli vom deutschen Sonderkommando 4a erst 300 erschossen, dann im September über 18.000. Vernichtet war damit das „russische Jerusalem“. Ein Jahr später rühmte sich die 16. Panzer-Division aus Münster, 1.000 sowjetische Panzer vernichtet zu haben.[3]

Meine Frage: Können Nachkommen der deutschen Kriegsgeneration den heute in der Ukraine Überfallenen sagen: „Ihr könnt Euch ja wehren. Aber seht, wie ihr klarkommt gegen die, die Euch überfallen, bombardieren, beschießen!“?

Hilfe zur Selbstverteidigung ist völkerrechtlich erlaubt, bei unserem Anspruch von gemeinsamer Sicherheit sogar eine Verpflichtung. Sie ist ÜBERLEBENSHILFE!

Frieden zu wünschen ist elementar richtig und wichtig! Aber bloße Friedenswünsche reichen nicht!

Wo Frieden und Völkerrecht brutal gebrochen werden, da kann es Frieden nur durch Recht und Solidarität geben.

So steht es auch in der UN-Charta, die nur 49 Tage nach Ende des Weltkrieges als die fundamentale Schlussfolgerung beschlossen wurde. (Art. 1, 2, 33 ff., 39 ff.)

Und so hat es gestern die UN-Generalversammlung mit großer Mehrheit bekräftigt – mit viel größerer Deutlichkeit, als es bei so manchen Kundgebungen heute und morgen mit ihren bloßen Friedenswünschen geschieht.

Solidarität mit der Ukraine!

Nachbemerkung: Aufgerufen hatte zu der Kundgebung „Solidarität mit der Ukraine“ die Gesellschaft für bedrohte Völker zusammen mit der ukrainischen Community vor dem Rathaus des Westfälischen Friedens in Münster. Ebenfalls zu der Kundgebung hatte aufgerufen die CDU. Es sprachen Kajo Schukala (GfbV), Mariya Sharko / Olga Stromberger (ukrainische Community), Bürgermeisterin Angela Stähler, Weihbischof Dr. Stefan Zekorn, Simone Wendland, MdL CDU, die Osteuropa-Historikerin Rita Zimmermann, Ismet Nokta (Arche Noah), ich als ehem. MdB Bündnis 90/Die Grünen (Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung); von Svenja Schulze, MdB SPD, wurde ein Grußwort verlesen. Bei dem kalt-regnerischen Wetter kamen bis zu 250 Menschen, überwiegend ukrainische Frauen und Kinder, zusammen. Intensiv wurde den Redner:innen zugehört, eifrig Beifall gespendet, gemeinsam gerufen. Bewegung, Schmerz, Trauer wie Herzlichkeit waren unübersehbar. Anschließend gab es auf dem Domplatz Gesprächsangebote bei Tee und Kaffee, dann im Dom einen ökumenischen Friedensgottesdienst.

Für denselben Nachmittag hatten die Osnabrücker Friedensinitiative und das Friedensforum Münster zu einer Menschenkette zwischen Osnabrück und Münster aufgerufen: „Peace Now! Menschenkette von Friedenssaal zu Friedenssaal – Frieden-Gerechtigkeit-Klimaschutz“ im Gedenken an den „Vertragsabschluss zum Westfälischen Frieden vor 375 Jahren, der Geburtsstunde des Völkerrechts“, zum „Jahrestag des Überfalls Russlands auf die Ukraine“.[4] Etliche Kirchengemeinden, Organisationen und Institutionen (rund 80) hatten zur Teilnahme an der Menschenkette aufgerufen.

Im Vorfeld war in Münster am Aufruf zur Friedenskette kritisiert worden, dass er bei allgemeinen Friedensgrundsätzen stehen blieb und mit keinem Wort zu Solidarität mit der Ukraine aufrief. Dies hatten Grüne, SPD und Volt deutlich in einer gemeinsamen Stellungnahme kritisiert und dazu aufgerufen, diese Solidarität bei der Menschenkette zum Ausdruck zu bringen. Die CDU hatte textgleich den Aufruf zur Menschenkette kritisiert und nur zu der Ukraine-Kundgebung aufgerufen. (Meine Stellungnahme auf www.domainhafen.org , 27. Januar)

Für den Zeitpunkt der Schließung der Menschenkette, einer Schweigeminute für die Opfer von Krieg und Gewalt und dem Singen des Liedes „Give Peace a Chance“ wurde die Kundgebung „Solidarität mit der Ukraine“ unterbrochen und zwei Transparente („Putin: Krieg stoppen!“  + W.W. Putin Aggressor und Kriegsverbrecher …“) abgenommen.

Wie tief gespalten inzwischen unterhalb der allgemeinen Friedenswünsche die realen Friedensbewegungen sind, zeigte sich auf dem Prinzipalmarkt. In Höhe Einmündung der Salzstraße hatten die DFG-VK und Friedenskooperative Münster unter der Parole „Frieden schaffen ohne Waffen – Die Waffen nieder!“ ungefähr zeitgleich mit der Ukraine-Solidaritätskundgebung zu einer Mahnwache und zur Teilnahme an der Menschenkette mit folgenden Worten auf „Münster Tube – Münster von unten“ aufgerufen:

„In Anbetracht der Tatsache, dass Bellizisten um Winfried. Nachtwei und Dr. Kajo Schukalla vor dem Friedenssaal gleichzeitig für die Weiterführung des Krieges und eine mögliche Eskalation und dafür für die Bereitstellung von mehr Waffen durch die Bundesregierung werben wollen und dies der Solidarität mit den Kriegsopfern in aller Welt und auch der Ukraine zuwiderläuft, haben wir besprochen, uns an diesen unwürdigen Machenschaften nicht zu beteiligen und den Kriegsbeginn durch den Überfall Russlands auf die Ukraine angemessen zu begehen …“[5]

Mit überlauter Boxenmusik wurde – nach Aussage eines Beteiligten gewollt – die Kundgebung vor dem Rathaus gestört. Als Ukrainerinnen und Ukrainer eine lange ukrainische Fahne mit Bildern von Opfern ausrollten, wurden sie von Aktiven der Menschenkette bedrängt, die Fahne einzurollen. Die Botschaft war klar: Vor dem Rathaus des Westfälischen Friedens war zu dem Zeitpunkt sichtbare Solidarität mit den Opfern der russischen Aggression unerwünscht. Wer bei der Kundgebung für das Völkerrecht der Selbstverteidigung und für Überlebenshilfe für die Überlebenden, also schlichtweg für die Verteidigung der UN-Charta eintrat – wie auch Bürgermeisterin Stähler, Weihbischof Zekorn und alle anwesenden Flüchtlinge aus der Ukraine – wurde von zwei „Friedensgruppen“ als Bellizisten, also Kriegstreiber diffamiert. Das ist unsäglich.

Mein Fazit: Mein Dank an die Initiator:innen und  Organisator:innen der Solidaritäts-kundgebung. Bei aller Berechtigung und Notwendigkeit, allgemein Friedenssehnsucht zum Ausdruck zu bringen und an den Westfälischen Frieden vor 375 Jahren zu erinnern. Am Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine blieb die ausdrückliche Solidarität mit der überfallenen und terrorisierten Ukraine gegen den russischen Aggressor viel zu gering. Dass es zu ausdrücklich gegen eine Ukraine-Solidarität gerichteten Handlungen kam, ist angesichts der Solidaritätspartnerschaft Münster – Winnyzja ein Skandal. Der russische Angriffskrieg hat die Dimension eines Zivilisationsbruchs zumindest für Europa. Das ist offenbar noch viel zu wenig bewusst.

SCHAUT AUF DIESE STADT:

Am 27. Februar lief auf der ARD

Die Überlebenden von Mariupol“, Dokumentation der dreimonatigen Eroberung aus der Sicht der Bombardierten von Robin Barnwell im Auftrag von BBC, Arte und SWR, 90 Min., 27.02.2023, 23.35 Uhr

„Bis Anfang 2022 war Mariupol eine moderne europäische Stadt mit mehr als 400.000 Einwohnern. Seit im Februar 2022 Russland die Ukraine angriff, hagelte es Bomben, auch auf viele Wohnhäuser. Der Film dokumentiert die dramatischen Tage vom Kriegsbeginn bis zur Übernahme durch die russischen Truppen – aus der Sicht der Menschen, die in Bunkern um ihr Überleben fürchteten. Die Frauen stehen im Mittelpunkt des Films. TV-Moderatorin Alevtina erzählt, wie sie nach einem Bombenangriff zu Fuß fliehen konnte. Anästhesistin Oksana schildert, wie sie – getrennt von ihrem Sohn – im Krankenhaus arbeitete und Verwundete versorgte. Schauspieler Sergey erlebte hautnah den Angriff auf das Theater, wo rund 1200 Menschen Schutz gesucht hatten. Der Film erzählt eine der dramatischsten Geschichten unserer Zeit. Eine Geschichte von Kriegsverbrechen und Leid, aber auch die Geschichte eines Volkes, das angesichts der Aggression und des Angriffskrieges erstaunlichen Mut zeigt.“

Zwischen den Berichten der Überlebenden darunter der kleine Sohn von Viktoria, Handy-Videos aus den Artillerieangriffen, aus den Kellern, aus der Grasnarbe, in die sich Menschen vor den Granaten krallen, von den verwüsteten und brennenden Wohnblocks, aus dem Theater, unter dessen Trümmern um 1.000 Menschen begraben wurden; Drohnenbilder von verwüsteten Stadtteilen, vom der Trümmerwüste des riesigen Asow-Stahlwerks. In Mariupol starben mehr als 20.000 Zivilisten durch Kriegsgewalt, mehr als in jeder andere europäischen Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg.

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/die-ueberlebenden-von-mariupol/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzg4ZjliNTBiLWZkMGMtNGYyNi1iMzkwLWVjYjA3NzVjNTdlYQ

[1] Georg Mascolo, Krieg in der Ukraine – Rührt Euch, SZ 23.02.2023, https://www.sueddeutsche.de/kultur/ukraine-krieg-armee-militaer-1.5757006?reduced=true

[2] Vgl. „Manifest für Frieden“ von Schwarzer + Wagenknecht Solidaritätsverweigerung gegenüber Überfallenen – mein Kommentar“, www.domainhafen.org , 23.02.2023

[3] Ausführlich zum deutschen Vernichtungskrieg auf dem Boden der Ukraine mein Artikel „Bloodlands Ukraine und deutsche historische Verantwortung“ www.domainhafen.org 23.02.2023

[4] Friedenskette https://www.friedenskette23.de/

[5] https://muenstertube.wordpress.com/tag/dfg-vk-muenster/

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