Bloodlands Ukraine und österliche Friedensappelle: Aus Geschichte (nichts) lernen?

Die traumatischen historischen Erfahrungen der Menschen in der Ukraine kommen beim Streit um Waffenlieferungen + Waffenstillstand kaum zur Sprache …

Bloodlands Ukraine und österliche Friedensappelle: Aus Geschichte (nichts) lernen? Winfried Nachtwei, 05.04.2023

Viel wurde in den Medien seit Februar 2022 über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine berichtet, viel wurde über die angemessene und verantwortbare deutsche Politik zu diesem Krieg gestritten. Fast gar nicht zur Sprache kam dabei, dass Städte wie Bachmut (Artemowsk), Charkiw (Charkow), Cherson, Isjum, Kyjiw (Kiew), Mariupol, Mykolajiw (Nikolajew) und zahllose andere, die heute von russischen Kräften beschossen und bombardiert werden, 1941/42 Schlachtfelder des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion waren. Die deutsche Wehrmacht, Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD und Polizeibataillone wüteten damals mit einer völkermörderischen Energie und Professionalität, die systematisch Zivilbevölkerung abschlachtete, zivilen Widerstand zermalmte und nur militärisch zu stoppen war. Acht Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung der Ukraine fielen den deutschen Angreifern und Okkupanten zum Opfer.

Jahrzehntelang war dieses Kapitel der deutsch-ukrainischen Geschichte hierzulande regelrecht „unsichtbar“. Laut einer Umfrage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld von Anfang 2022 antworteten auf die Frage, welche drei heutigen europäischen Länder sie am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, nach Frankreich, Polen und Großbritannien 36,3% Russland, aber nur 1% die Ukraine und 0,1% Belarus.

(1) Neue Artikel zu Bloodlands Ukraine

In Fortsetzung meiner 1988 begonnenen Spurensuche zum deutschen Vernichtungskrieg gegen Polen und gegen die Sowjetunion auf dem Boden von Belarus und des Baltikums forschte ich seit Beginn des russischen Angriffskrieges zu den deutschen Kriegsspuren in der Ukraine. ( https://domainhafen.org/2022/04/10/zwischen-geschichtsvergessenheit-und-historischer-verantwortung-der-deutsche-vernichtungskrieg-in-der-ukraine-1941-43/ )

Jetzt sind In den Mitgliederzeitschriften des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge „Frieden“ und des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ zwei Artikel von mir zum deutschen Vernichtungskrieg in der Ukraine erschienen:

– „Nie mehr wehrlos und allein sein – Bloodlands Ukraine: von traumatischen Erfahrungen ab 1941 und ihren Folgen, die bis heute wirken“. (Ab 06.04. auf

https://www.volksbund.de/aktuell/mediathek?thema=6&s=frieden , auch www.facebook.com/winfried.nachtwei , S. 22 ff.) Ergänzend dazu die Ursprungsdokumentation mit weiteren Passagen zu Winnyzja, zu Berdytschiw, Mykolajiw, Gebiet Donezk, zur strafrechtlichen „Ahndung“ von Angehörigen des Sonderkommandos 4a, dem binnen fünf Monaten über 55.000 Menschen zum Opfer fielen, zu der Erfahrung, dass die Zahl der Toten nach dem Ende der Kampfhandlungen höher war. „Das Morden, das Versklaven, der Terror gingen weiter.“ (Franziska Davies)

– „Schwindende Erinnerung“ zu eine Panzer-Division aus Münster, die erst 14 Monate auf dem Gebiet der Ukraine wütete (und sich rühmte, binnen 13 Monaten 1.000 sowjetische Panzer vernichtet zu haben) , bevor sie als „Speerspitze der 6. Armee“ der Zerstörung Stalingrads den Weg bereitete und dort unterging.

 (2) „Nie mehr Krieg!“ Nie mehr Krieg?

Aus den traumatischen Kollektiverfahrungen mit völkermörderischen Angreifern und Okkupanten entstand bei vielen Völkern in Osteuropa die elementare Einsicht, dass „Nie wieder Krieg“ und „Nie mehr wehrlos und nie mehr allein sein!“ untrennbar zusammen gehören: Das Fundamentalinteresse an gemeinsamer und kollektiver Sicherheit, deren Grundprinzipien in der VN-Charta festgelegt sind, darunter die Achtung der territorialen Unversehrtheit, das Völkerrecht der nationalen Selbstverteidigung und das Recht, Überfallenen Beistand zu leisten. (Teile der deutschen Gesellschaft begnügen sich mit dem notwendigen, aber nicht hinreichenden „Nie wieder Krieg!“, das so in Gefahr ist, zum frommen Wunsch zu schrumpfen.)

Auf der Hand liegt eigentlich, dass die Nachkommen der deutschen Kriegs- und Kriegergeneration den Nachkommen der Überfallenen am allerwenigsten Hilfe zum Überleben und damit zur Selbstverteidigung verweigern dürften. Wir stehen da unabweisbar in besonderer historischer Verantwortung – gegenüber den Menschen in der Ukraine und gegenüber der VN-Charter als der Schlussfolgerung der Staatengemeinschaft aus Weltkrieg und Völkermorden.

(3) Österliche Appelle zu Waffenstillstand: Verhandlungen first!

Beim deutschen Streit um Waffenlieferungen an die Ukraine, um Verhandlungen und Waffenstillstand sofort kommen die kollektiven historischen Erfahrungen der Menschen in der Ukraine (und in Polen und dem Baltikum) nur äußerst wenig zur Sprache. Durchgängiges Merkmal aller „Friedensappelle“ gegen Waffenlieferungen und für Waffenstillstand sofort ist, dass die Kriegs- und Leidenserfahrungen aller nichtrussischen Völker in Osteuropa notorisch ausgeblendet bleiben.

Das trifft leider auch für die jüngsten Appelle zu, sogar für einen, der von vielen prominenten (Sozial-)Demokraten und Gewerkschaftern unterstützt wird:

– Am ersten April erschien in der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau „Frieden für die Ukraine: Ein Friedensappell aus der Mitte der Gesellschaft – Frieden schaffen: Waffenstillstand, Verhandlungen und gemeinsame Sicherheit„, unterstützt von über 200 ehemaligen hochrangigen SPD-Politikern und Gewerkschaftern (darunter Norbert-Walter Borjans, Herta Däubler-Gmelin, Bärbel Dieckmann, Hans Eichel, Herbert Schmalstieg, Wolfgang Thierse, Günter Verheugen, Andrea Ypsilanti, Christoph Zöpel; die ehem. DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann und Michael Sommer, Detlef Hensche, Marlies Tepe, Klaus Wiesenhügel, Margot Käßmann, Konstantin Wecker u.v.a.; https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/frieden-fuer-die-ukraine-ein-friedensappell-aus-der-mitte-der-gesellschaft-li.332707 )

– Am selben Tag erschien in der taz eine anderthalbseitige, von 1.383 Personen und 66 Organisationen und Gruppen unterstützte Anzeige zu über 100 Ostermarschaktionen „FRIEDEN muss verhandelt werden„. https://www.friedenskooperative.de/sites/default/files/anz_taz_284x430_284x215_4c_230328_print.pdf

(4) Fragen zu den Appellen: Aus Geschichte lässt sich nicht 1 zu 1 wie aus einem Rezeptbuch lernen. Aber in der demokratischen deutschen Gesellschaft und Politik und ihrer entwickelten Erinnerungskultur war zentraler Konsens, aus der deutsch-europäischen Unfriedens- und Kriegsgeschichte für Gegenwart und Zukunft zu lernen, friedens-, sicherheits- und demokratiepolitisch. Dieser Konsens scheint gerade zu zerbrechen.

– Warum diese Empathielosigkeit gegenüber den Leidenserfahrungen der Menschen in der Ukraine bei vielen, die nach ihrem Selbstverständnis ganz besonders aus dem deutschen Angriffskrieg gelernt zu haben meinen?

– Warum die Verdrängung der Tatsache, dass im Zweiten Weltkrieg die größte Angriffsstreitmacht der Weltgeschichte und ihre Massenmordkommandos nur militärisch gestoppt und Europa vom Nazi-Terror befreit werden konnte, dass ziviler Widerstand, der in vielen anderen Kontexten wirksam sein kann und viel mehr Beachtung verdient, in den Vernichtungsgebieten des Ostens aussichtslos war?

– Warum die Verdrängung der zentralen Rolle des internationalen Beistands für Bedrohte / Überfallene gegen Aggressoren: der verweigerte Beistand gegen das aggressive Nazi-Deutschland in den 1930er Jahren, die Schlüsselrolle der Waffen- und Rüstungslieferungen der USA ab Februar 1941 für die Widerstandsfähigkeit der Sowjetunion und anderer Alliierter?

– Warum die selektive Wahrnehmung der VN-Charta, die „künftige Geschlechter von der Geißel des Krieges bewahren“ will, für internationale Zusammenarbeit, friedliche Streitbeilegung und internationales Gewaltverbot eintritt, aber zugleich Vorsorge trifft, gegen Friedensbrüche und Angriffshandlungen vorzugehen, im äußersten Fall mit „Waffengewalt im gemeinsamen Interesse“? Wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa waren die Schöpfer der VN-Charta eindeutig keine Pazifisten, aber visionäre und realistische Kriegsgegner, Pioniere gemeinsamer Sicherheit und Friedenspolitiker.

– Warum die selektive Bedrohungswahrnehmung, die richtigerweise vor Eskalationsgefahren warnt und zu Eskalationsverhütung mahnt, aber das Bedrohungspotenzial des Putin-Regimes, seinen Vernichtungswillen gegen die ukrainische Staatlichkeit, Nation und Zivilbevölkerung, seinen großrussischen Imperialismus und seine militante Verachtung demokratischer Werte auf die zweimalige Benennung des „russischen Angriffskrieges“ herunterdimmt?

– Warum die Verweigerung von Überlebenshilfe für ein überfallenes, terrorisiertes und vergewaltigtes Volk, warum solches von Menschen aus friedensbewegten und linken Kontexten, für die traditionell (internationale) Solidarität mit Unterdrückten und Opfern ein Grundwert war?

– Warum die Gleichzeitigkeit von Verständigungsbereitschaft mit Putin-Russland und Hinweggehen über die erklärten sicherheitspolitischen Interessen und Konsense in den von Russland angegriffenen und bedrohten Nachbarstaaten? Wo ist da der Unterschied zu Schröders „Moskau-Connection“? ( https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/russland-und-die-spd-gerhard-schroeders-langer-schatten-18743125.html )

– Es ist völlig richtig und elementar, dass „unsere Welt auf Gegenseitigkeit angewiesen“ ist. (Appell „Frieden schaffen“) Aber wie soll Gegenseitigkeit mit einem Hauptkriegsverbrecher, einem Angreifer auf die europäische Friedensordnung und VN-Charta und Verbündeten rechtspopulistischer Bewegungen in Europa funktionieren?

(vgl. dazu meine Auszüge aus „Mit Hitler reden – Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg“ von Tim Bouverie auf www.domainhafen.org , aber auch Erfahrungen mit Verhandlungsprozessen, die zur Beendigung vieler innen- und zwischenstaatlicher Kriege führten)

Trotzdem: Die Suche nach Verhandlungschancen und -ansätzen bleibt unverzichtbar

All diese Fragen ändern aber nichts an der Notwendigkeit, dass dem Frieden und gemeinsamer Sicherheit verpflichtete Außen- und Sicherheitspolitik immer auch ausloten muss, wo es Gesprächskanäle, Verhandlungsansätze, Annäherungsmöglichkeiten gibt – meist erst zu Sekundärthemen -, dass geeignete Vermittler aktiv gesucht werden, dass meistens irgendwann mit Gegnern geredet werden muss. Aber das geschieht primär hinter den Kulissen, nicht auf offener Bühne, darf nicht über die Köpfe der Angegriffenen hinweg laufen. Das braucht Zeit. Aber zugleich drängt die Zeit! Denn jeder weitere Kriegstag zerstört menschliches Leben und Gesundheit.

Aber Frieden entsteht nicht durch Kapitulation der Überfallenen oder Einstellung der Überlebens- und Verteidigungshilfe, wie es die Ostermärsche jetzt fordern.

Frieden gibt es nur mit Recht und Solidarität.

 

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