Wider die Geschichtsvergessenheit – Auszüge aus „Mit Hitler reden -“ von Tim Bouverie

„Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg“

Wider die Geschichtsvergessenheit in vielen Friedensappellen: Auszüge aus „MIT HITLER REDEN – Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg“ von Tim Bouverie, Hamburg 2021, Winfried Nachtwei

Vorbemerkung: Putin ist ein erfahrener KGB`ler, Oberhaupt eines hybriden, mit dem organisierten Verbrechen verbündeten KGB-Kapitalismus (Catherine Belton), Diktator, großrussischer Imperialist, der Demokratie und Menschenrechte verachtet und massenhaft über Leichen geht. Er ist ein Hauptkriegsverbrecher. Ihn mit Hitler gleichzusetzen, würde aber diesen und sein nationalsozialistisches Völkermordsystem verharmlosen.

Mehr als 70 Jahre relativ wirksame Systeme kollektiver, transatlantischer Sicherheit und ein Staatenbund demokratischer Staaten in einer Weltregion, die binnen 30 Jahren zwei Weltkriege durchmachte, das enorme Anwachsen der Staatenwelt und die Globalisierung, die Existenz riesiger Atomwaffenarsenale mit ihrer Abschreckungswirkung einerseits, mit ihrem Eskalations- und Selbstvernichtungsrisiko andererseits, die digitale Revolution – all das und vieles mehr unterscheidet die Gegenwart in Europa erheblich von den 1930er Jahren. Insofern verbieten sich Analogieschlüsse aus der Hüfte.

Nichtsdestoweniger kann und muss aus Erfahrungen der damaligen Zwischenkriegszeit gelernt werden für die friedens- und sicherheitspolitische Schlüsselfrage: Wie umgehen mit aggressiven Mächten und Friedensstörern, wie sie realitätsnah erkennen und einschätzen, wie sie einhegen, ihnen wirksam widerstehen – und nicht etwa Vorschub leisten? Welche Grundfehler sind dabei zu vermeiden?

Das Buch „geht der Frage nach, wie die westlichen Demokratien auf die Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland reagierten und wie sie, obwohl alle Fakten dagegen-sprachen, weiterhin glauben konnten, dass Adolf Hitler ein Mann war, mit dem sie „von Politiker zu Politiker“ nach den üblichen Regeln zusammenarbeite könnten.“ (11)

„Was konnte angesichts des Ersten Weltkrieges verständlicher sein als der Wunsch, einen zweiten Weltkrieg zu verhindern? Es verwundert daher kaum, da es sich bei diesem Wunsch um ein weltumspannendes Phänomen handelte.“ Mehr als 16,5 Millionen Tote, in Großbritannien allein 723.000, in Frankreich 1,7 Millionen. Über Jahre war bei Trauerfeiern in den Ländern die Losung: „Nie wieder Krieg!“

„Trotz aller guten Absichten und Anstrengungen, die auf Beschwichtigung wie Abschreckung gezielt hatten, fanden sich Briten und Franzosen keine 21 Jahre nach dem Krieg, der alle Kriege hatte beenden sollen, in einem neuen Krieg wieder – mit demselben Kriegsgegner.“  (16)

„Geschichte ist selten eindeutig, trotzdem werden von Politikern und Experten insbesondere in Großbritannien und den USA immer wieder gern die sogenannten Lehren aus der Geschichte bemüht, wenn es darum geht, Interventionen im Ausland zu legitimieren – in Korea, in der Golfregion, auf Kuba, in Vietnam, auf den Falklandinseln, im Kosovo und (bereits zweimal) im Irak. Gleichzeitig wird im Gegenzug jeder Versuch, eine Einigung mit einem früheren Gegenspieler zu finden, unweigerlich mit dem berüchtigten Münchner Abkommen von 1938 verglichen. (…) Inzwischen zirkuliert das Konzept des Appeasements in gänzlich anderen Zusammenhängen: etwa dort, wo der Westen nach einer Antwort auf die schwierige Frage sucht, wie mit der russischen Politik des Revanchismus und der Aggression umzugehen sei.“ (17)

„In den 1930er Jahren war Großbritannien nominell noch immer das mächtigste Land der Welt – stolze Dreh- und Angelpunkt eines Empires, dessen Fläche ein Viertel des Weltballs ausmachte.“ (18) Die USA waren eine kommende Großmacht, hatten sich infolge des Ersten Weltkrieges aber auf eine Position des Isolationismus zurückgezogen. Frankreich hatte sich entschieden, den Briten die Führungsrolle zu überlassen.

„Bis weit in die 1930er Jahre waren sich die demokratisch gewählten britischen und französischen Führungspersönlichkeiten sicher, dass die Bevölkerung weder in Großbritannien noch in Frankreich eine Politik unterstützen würde, die einen neue Krieg riskierte, und handelte entsprechend. Was aber würde geschehen, wenn ein Krieg unvermeidlich würde? Was, wen Hitlers Machthunger sich als unersättlich erweisen würde? Und wenn das Bedürfnis, einen Krieg zu vermeiden, diesen nur umso wahrscheinlicher werden ließ?“ (19)

Kapitel 1 Das Experiment „Hitler“

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde in Großbritannien entspannt kommentiert. Auf die schnell losbrechende Welle von Gewalt und Terror folgten empörte internationale Reaktionen, aber auch abwiegelnde Kommentare: Berichte über die Verfolgung der Juden seien übertrieben.

Hitler ließ „keine Gelegenheit aus sich, sich als Mann des Friedens zu präsentieren“, am 17. Mai 1933 verkündete er im Reichstag seine pazifistische Einstellung.

Kapitel 2 zu Churchill

„Noch bevor Hitler an die Macht kam, warnte Churchill vor der Gefahr eines wiederbewaffneten Deutschlands. Er opponierte gegen die Abrüstungskonferenz (…). Am 23. November 1932 warnte er die Regierung in einer Rede im Unterhaus vor dem Irrglauben, dass alles, was Deutschland wolle, die Gleichstellung mit den anderen Mächten sei:

Das ist nicht das, was Deutschland anstrebt. All diese Banden von kraftstrotzenden teutonischen Jugendlichen, die mit glänzenden Augen durch die Straßen Deutschlands marschieren und nicht mehr begehren, als ihre Leidensbereitschaft für ihr Vaterland unter Beweis zu stellen, die suchen keine Anerkennung. Was sie wollen, das sind Waffen, und wenn sie die Waffen haben, glauben Sie mir, dann werden sie auf Rückgabe pochen, auf die Wiedereingliederung von verlorenen Gebieten und verlorenen Kolonien.“ (53)

Im März 1933 dankte Churchill für die Existenz der französischen Armee und forderte eine Stärkung der britischen Luftwaffe und Marine. „Die nationalsozialistische Herrschaft beruhe auf einer erbarmungslosen Diktatur, der Verfolgung der Juden und Appellen an jede Form des Kampfgeistes.“ Die Regierung forderte er auf, „die Illusion der Abrüstung zugunsten dringender Maßnahmen aufzugeben, die die britische Verteidigungsfähigkeit wiederherstellen könnten.“

In den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren waren die Weltkriegserfahrungen „Thema zahlreicher Bücher, Theaterstücke und Filme, die begeistert aufgenommen wurden. (…) 1914 hatten die Staatsmänner versagt, und die jüngere Generation wollte nicht zulassen, dass sie wieder versagten.“ Im Februar 1933 „befürworten die Mitglieder der Oxforder Studentenvertretung mit 275 zu 153 Stimmen einen Antrag, dass sie unter keinen Umständen für ihren König du ihr Land kämpfen wollten. Etliche andere Studentenvertretungen folgten.

„Die Ansicht, das Wettrüsten habe den letzten Krieg verursacht, war weit verbreitet, und die Kampagne der Linken gegen die sogenannten ´Händler des Todes` wurde bis weit in die 1930er Jahre hinein fortgesetzt. Die Liberalen hatten sich geschlossen der Abrüstung verpflichtet, während der Labour-Führer, der christlich-sozialistische George Lansbury, die Armee auflösen und die Luftstreitkräfte entlassen wollte. (…) Auf dem Labour-Parteitag im Oktober 1933 stimmten die Delegierten für vollständige Abrüstung und einen Generalstreik als Reaktion auf den Kriegsfall, um die Wirtschaft lahmzulegen und die Regierung zu stürzen.“ (55)

Im Sommer 1933 wurde die Absicht der Nationalsozialisten deutlich, eine militärische Luftwaffe aufzubauen. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der deutschen Luftwaffenaufrüstung wurde unterschätzt, ja Großbritannien, Frankreich und USA lieferten sogar Flugzeugtriebwerke nach Deutschland. (Dort wurden im März 1934 schon 60 Maschinen im Monat produziert) Der stellvertretende Labour-Vorsitzende bekannte sich zur „völligen Abrüstung und zur Idee einer Zusammenlegung alle nationalen Luftstreitkräfte als eine Art internationaler Polizeipräsenz in der Luft.“ (65)

Nachdem das von der britischen Regierung eingesetzte Komitee zur Feststellung des Verteidigungsbedarfs Deutschland als Hauptfeind identifiziert und eine Aufstockung der Landstreitkräfte empfohlen hatte, setzte Schatzkanzler Chamberlain das Gegenteil durch: Halbierung der Ausgaben für die Armee auf 20 Millionen Pfund und Aufstockung der Luftwaffe als Abschreckungswaffe.

Churchills Warnungen vor der deutschen Aufrüstung stießen auf unterschiedliche Resonanz. „Labour bezeichnete ihn als Kriegstreiber.“ (74)

Im November 1934 stellte sich heraus, „das die Deutschen nun über eine reguläre Armee von 300.000 Man verfügten, mit Plänen für eine weitere Ausweitung und durchgehende Ausrüstung mit Panzern.“ Der britische Botschafter berichtete: Die Deutschen hätten fieberhaft ihre Wiederaufrüstung zu Lande und in der Luft betrieben und niemand habe versucht, sie daran zu hindern oder auch nur zu protestieren: Der Eindruck, den Sommer und Herbst hinterlassen haben, ist der eines unaufhörlichen Marschierens und Exerzierens. Für jeden ausländischen Beobachter ist es offensichtlich, dass das deutsche Volk mit seiner angeborenen Liebe zur Disziplin und militärischen Ausbildung darin schwelgt, sich so ausleben zu können. Auch die Kundgebungen de Arbeitsfront und der Bauern erscheinen den Außenstehenden hauptsächlich als militärische Paraden. Wir müssen und der Tatsache stellen, dass, während in anderen Ländern gerne Fußball gespielt oder an kleinen Tischen unter Bäumen genüsslich Kaffee getrunken wird, deutsche Jugendliche am liebsten Soldat spielen und sich deutsche Männer auf dem Kasernenplatz am wohlsten fühlen.“ (77)

In einer Unterhausdebatte am 28. November 1934 fand die Forderung eine Mehrheit, Deutschland die Aufhebung der Aufrüstungsklausel des Versailler Vertrages (100.000 Mann, keine Luftwaffe) anzubieten und dafür die Rückkehr der Deutschen in den Völkerbund zu erwarten. Gewarnt wurde, Deutschland zum Paria zu machen. Die Alternative sei ein Wettrüsten und möglicherweise ein weiterer Krieg. Vor diesem Hintergrund „machten sich verschiedene Missionen auf den Weg, um Hitler zu bändigen.“ (80)

(Verbreitet war die Auffassung, dass Großbritannien und Frankreich mitverantwortlich für den Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus waren. Das war „entscheidend für die Mentalität, aus er sich die Appeasement-Politik entwickelte. Wenn Großbritannien und Frankreich den Nationalsozialismus ´erschaffen` hatten, dann sollten sie ihn logischerweise ´befrieden` können.“ (88)

Kapitel 3 Zum Tee bei Hitler

Besuch des stv. Außenministers Anthony Eden bei Hitler: „angetan vom Charme des Kanzlers, den er für viel mehr als einen Demagogen hielt und der aufrichtig sei.

Kapitel 4 Abessinische Irrungen und Wirrungen

Kapitel 5 Jenseits des Rheins

Kapitel 6 Verteidigung des Reichs

Kapitel 7 Hitlers Wunderland

Kapitel 8 Auftritt Chamberlains

Kapitel 9 Jagen für den Frieden

Kapitel 10 „Die Bowlerhüte sind zurück“

Kapitel 11 Die „Vergewaltigung Österreichs“

Kapitel 12 Der letzte Zug aus Berlin

Kapitel 13 Honoratioren und Rebellen

Kapitel 14 Ein weit entferntes Land

Kapitel 15 Die Krise bricht aus

Kapitel 16 Auf einem schmalen Grad

Kapitel 17 Nur ein Stück Papier

Kapitel 18 Der Frieden für unsere Zeit

Kapitel 19 Verrat an Chamberlain

Kapitel 20 Weder Tod noch Teufel

Kapitel 21 Die letzte Saison

Kapitel 22 Letzte Stunde

Kapitel 23 Die Geister es Appeasements

Kapitel 24 Chamberlains Sturz

Kapitel 25 Das letzte Gefecht

Epilog Schuldige Männer

(…)

Die überwältigende Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg liegt selbstverständlich bei Adolf Hitler. Nur er und seine fanatischen Handlanger wollten es so. Hitler war die treibende Kraft hinter einer ganzen Reihe von Ereignissen, die letztlich zum Krieg führten. Doch während Hitler allein für die Tragödie verantwortlich war, bleibt die Frage: Wie kam es, dass ein 1918 besiegtes, verkleinertes, in der Bewaffnung seiner Armee eingeschränktes und von potenziellen Feinden umgebenes Land in der kurzen Zeitspanne von 20 Jahren in eine Position austeigen durfte, aus der heraus es wagen konnte, einen Kampf um die globale Vorherrschaft zu beginnen und dieses Ziel fast zu erreichen?“

(…)

Der ehemalige Staatssekretär im Finanzministerium, Sir Warren Fisher, der lange mit Chamberlain zusammengearbeitet hatte, kam drei Jahre nach Kriegsende zu folgendem Resümee über die britische Außenpolitik:

Im Jahr 1935 haben wir an die Italiener moralische Platituden über die Integrität Abessiniens adressiert – ohne jeglichen Vorteil für die Letzteren – und Italien lediglich in die Arme Deutschlands getrieben; und im Jahr 1936 haben wir den Deutschen einen Fragebogen nach dem anderen über ihre militärische Wiederbesetzung des Rheinlands geschickt. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, haben wir uns mit einem Nichtinterventions-abkommen etwas vorgemacht, das niemand außer uns eingehalten hat. Und 1938 haben wir die Tschechoslowakei aufgeteilt.

Diese Kurze Skizze lässt viele Dinge aus, einschließlich unseres törichten Auftritts bzw. Nichtauftritts anlässlich der (japanischen Invasion in der) Mandschurei. Aber die Konsequenzen, die sich daraus für die Zukunft ergeben, liege klar auf der Hand (…)

Hätten da britisches Empire, die Vereinigten Staaten und Frankreich sich den Tatsachen gemeinsam gestellt, so hätten die Schrecken, die mit der Vergewaltigung der Mandschurei begannen, gefolgt von den empörenden Ereignissen in Abessinien, dem umfassenden Angriff auf China, der Einnahme Österreichs und der Tschechoslowakei, die in den Jahren ab September 1939 gipfelten, verhindert werden können, und deshalb kann keines dieser Länder ein hohes Maß an Verantwortung abstreiten oder (dem entsprechenden Verdikt) entkommen.“ (595)

„Dass das britische und französische Militär 1938 – in dem Jahr, in dem die Westmächte eine härtere Linie gegen die deutsche Expansion hätte einschlagen können und in dem ein Krieg beinahe ausbrach – schwerwiegende Defizite aufwiesen, steht außer Frage. Nur 29 der 52 britischen Jagdgeschwader, die für die Landesverteidigung für notwendig erachtet wurden, waren zum Zeitpunkt des Münchner Abkommens flugtauglich.“ (mehrheitlich veraltete Modelle) Aber: „Zur Zeit der tschechischen Krise besaß die Wehrmacht nur drei leicht gepanzerte Panzerdivisionen (…).“ Briten und Franzosen ließen sich von der NS-Propaganda blenden und überschätzten jetzt die Stärke des deutschen Militärs. Im September 1938 war Deutschland diplomatisch isoliert, mit einem Mangel an natürlichen Ressourcen konfrontiert und an der Westflanke exponiert. „Faktisch waren die Alliierten im Herbst 1938 jedenfalls strategisch im Vorteil – und das deutlicher als im folgenden Jahr, als Deutschland die Tschechoslowakei absorbiert und einen Pakt mit der Sowjetunion geschlossen hatte. Aber Briten und Franzosen war nicht fähig, die tatsächliche Lage zu erkennen, geschweige denn zu nutzen.

Dies ist zu einem großen Teil auf die politische und psychologische Disposition beider Nationen zurückzuführen. Die vom Ersten Weltkrieg traumatisierte und sich vor Bombenangriffen ängstigende britische und französische politische Klasse hatte sich dem Pazifismus verschrieben, wenn ihn nicht sogar zu einer Doktrin erhoben. Außerdem waren sie als Demokraten, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, davon überzeugt, dass eine sol folgenschwere Entscheidung wie die für eine Krieg die Unterstützung der Bevölkerung erforderte und dass diese nur dann gegeben wäre, wenn die britische und französische Bevölkerung da Gefühl gehabt hätte, ihre eigene Sicherheit sei direkt bedroht. Diese Einschätzung sehen viele Historiker als angemessen an.“ (596 ff.)

„Die Euphorie, die sich nach dem Münchner Abkommen abzeichnete, schien eine weitreichende Unterstützung für die Politik Chamberlains z signalisieren, dazu hatten die Commonwealth-Staaten in Übersee ihre Haltung zu einem Krieg deutlich gemacht, als sie ein Eingreifen zugunsten der Tschechoslowakei ablehnten. Damit war jedoch keineswegs das ganze Bild erfasst. (…) Eine Untersuchung zum Zeitpunkt des Bad Godesberger Gipfels ergab, dass nur 22% der Befragten für die Appeasement-Politik waren, 43% dagegen. Der rasante Stimmungswechsel, mit dem die Erleichterung über München in Gefühle der Scham und des Misstrauens umschlug, scheint (…) darauf hinzudeuten, dass die Politiker die Menschen unterschätzten. Schon der konservative Abgeordnete Paul Emrys-Evans merkte nach der Wiederbesetzung des Rheinlands an, dass sich die britische Regierung immer wieder weigerte, in solchen Fragen mit einer Haltung aufzutreten, die politische Orientierung bieten konnte, sondern stattdessen beschloss, sich hinter der öffentlichen Meinung zu verstecken. Hätten die führenden britischen Politiker klar das Ausmaß der Bedrohung aus Deutschland benannt und deutlich gemacht, warum es notwendig war, dem etwas entgegenzusetzen, so wie Churchill es tat, dann hätte die öffentliche Meinung möglicherweise völlig anders ausgesehen. Das hätte jedoch vorausgesetzt, dass die britischen Entscheidungsträger die Dimension der deutschen Bedrohung selbst voll und ganz erfasst hätten.

Den wahren Charakter des NS-Regimes und Adolf Hitlers nicht erkannt zu haben, muss als das größte Versäumnis der politischen Entscheidungsträger Großbritanniens in dieser Zeit gelten, denn daraus ergaben sich erst alle nachfolgenden Versäumnisse – das Versäumnis, ausreichend aufzurüsten, das Versäumnis, Allianzen zu schmieden (nicht zuletzt mit der Sowjetunion), das Versäumnis, die britische Machtfülle zu vermitteln, und das Versäumnis, die Öffentlichkeit aufzuklären. (…)

Der wahre Charakter des NS-Regimes war (…) offensichtlich. Die Unterdrückung der politischen Gegner und die Verfolgung der Juden begannen innerhalb weniger Wochen nach Hitlers Machtübernahme, dazu hinterließen die ´Nacht der langen Messer` und der massive Ausbau der Konzentrationslager einen tiefgreifenden Eindruck bei der internationalen Öffentlichkeit. Für diejenigen, die vor der Realität des Regimes nicht die Augen verschlossen – eines Regimes, dessen Fahnenträger Totenschädel und gekreuzte Knochen an den Mützen trugen und das seine Jugend zu Kriegern erzog und mit dem Glauben an ihre rassische Überlegenheit impfte -, war die Vorstellung, dass friedliebende Demokraten jemals eine freundschaftliche Übereinkunft mit dem nationalsozialistischen Deutschland erzielen könnten, immer eine Illusion.“ (598 ff.)

Sir Horace Rumbold, 1928-1933 britischer Botschafter in Berlin und früher Warner vor der NS-Bedrohung, schrieb Sir Neville Henderson, 1937-1939 britischer Botschafter in Berlin

„(…) aber aus zwei Gründen konnte niemand in Berlin Erfolg haben. Diese Gründe sind: a) der besondere Charakter der Bestie, mit dem jeder Repräsentant Großbritanniens hätte umgehen müssen, und b) der törichte Glaube Chamberlains und vermutlich seiner gesamten Regierung, dass es im Jahr 1937 möglich sein könnte, durch eine Politik der Beschwichtigung in Deutschland irgendwas zu erreichen. Hitler ist ein ruchloser Mann, und sein Regime und seine Philosophie sind ruchlos. Man kann mit dem Bösen schlichtweg keine Kompromisse eingehen.“ (600)

Kontrafaktische historische Betrachtungen sind spekulativ. Aber es falle nicht schwer, „sich vorzustellen, dass eine entschlossene Außenpolitik ein besseres Ergebnis hätte erzielen können als das, mit dem die Welt im September1939 konfrontiert war.

Hätten die Brite und Franzosen die Klauseln des Versailler Vertrages zur Begrenzung von Rüstungsgütern und Truppenstärkendurchgesetzt, hätte sie Mussolinis Bluff durchschaut und die Royal Navy benutzt, um die Eroberung Abessiniens zu verhindern (um so den Völkerbund zu erhalten und eine wichtige Botschaft an Hitler zu senden), hätten sie Hitlers Inszenierung der Rheinland-Besetzung durchschaut und die dort eingesetzten 22.000 deutsche Soldaten vertrieben, hätten sie eine internationale Koalition zur Verhinderung weiterer deutscher Angriffe gebildet, anstatt Hitler zu erlauben, dass er sich seine Opfer eins nach dem anderen vornahm, und wären sie bereit gewesen, sich Hitler entgegenzustellen und gegebenenfalls während der tschechischen Krise in den Krieg zu ziehen, dann wäre die Geschichte möglicherweise anders verlaufen. Sehr wahrscheinlich hätte es trotzdem Krieg gegeben. Solange Hitler an der Macht war, war das Risiko eines Krieges permanent extrem hoch. Aber dieser Krieg hätte nicht so enorm raumgreifend, so immens langwierig und so heillos grausam sein müssen.“ (601)

Es war nicht so, dass Chamberlain nicht alle Fakten zur Verfügung gestanden hätten. Er hatte Auszüge aus Mein Kampf sowie Stephen Roberts 1937 veröffentlichte Analyse des NS-Staates Das Haus, das Hitler baute gelesen. Aber da Chamberlain mehr an sein eigenes Urteilsvermögen glaubte und ein von Grund auf optimistischer Mensch war, ignorierte er die Warnsignale. Würde ich die Schlussfolgerungen des Autors akzeptieren, müsste ich verzweifeln, schrieb er nach der Lektüre von Roberts` Darstellung, aber das tue ich nicht und werde ich auch nicht.“

„Chamberlain verabscheute den Krieg, in einem Maß wie sonst nur aktive Pazifisten, und obwohl der Spott darüber, dass er aus der Kommunalpolitik kam, meistenteils ungerecht war (…), betrachteten Chamberlain als auch seine rechte Hand Horace Wilson Außenpolitik aus derselben Warte, von der aus sie auf Handels- oder Tarifkonflikte schauten.“

„Chamberlain war (als Oberbürgermeister) in Birmingham nie jemandem begegnet, der auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Adolf Hitler aufwies. Die Menschen, die er getroffen hatte, sei es in der Wirtschaft oder in der örtlichen Verwaltung, waren seiner Erfahrung nach nicht sehr viel anders als er selbst – sie waren vernünftig und ehrlich, und es war immer möglich gewesen, mit einem gewissen Grad an Geben und Nehmen eine Übereinkunft zu erzielen, die für beide Seiten zufriedenstellend war.

Dese Diktatoren, das war seine Annahme, müssten auch vernünftige Männer sein. Sie wollten bestimmte Zugeständnisse, und es gab bestimmte Zugeständnisse, die Großbritannien machen konnte. Und je früher er sie damit in den Griff bekommen konnte, desto besser. Das Motiv war nicht unehrenhaft, die Methode nicht unangemessen. Sein Fehler war vergleichbar mit dem des kleinen Jungen, der mit dem Wolf spielt, weil er denkt, der Wolf sei ein Schaf – ein verzeihlicher zoologischer Fehler -, der jedoch für denjenigen, er ihn begeht, tödlich enden kann.“ (so Duff Cooper 1939 über seinen ehemaligen Chef; 603)

Bei aller Komplexität und Dilemmata der damaligen politischen Prozesse sind die

zentralen friedens- und sicherheitspolitischen Lehren offenkundig:

  • Friedenssehnsucht ist äußerst begründet, vernünftig und ein zivilisatorischer Fortschritt. Wo sie aber in Friedenswunschdenken mündet, ist sie akut in Gefahr, das Gegenteil des ersehnten Friedens zu erreichen – Aggressoren und Friedensstörern zu ermutigen, gar Vorschub zu leisten (was nichts an der Hauptverantwortung von Aggressoren ändert).
  • A + O sind eine nüchterne, realistische, differenzierte Lage- und Bedrohungsanalyse (auch Chancenanalyse!), ohne Schönrednerei einerseits und Dämonisierung andererseits (ohne Feindbilddenken, aber mit der Fähigkeit, feindliches Verhalten zu wahrzunehmen) sowie strategische Vorausschau und funktionierende Krisenfrüh-erkennung.
  • Eine lageentsprechende Diplomatie, strukturelle und operative Krisenprävention und eine Verteidigungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit, die Vorlauf braucht;
  • Bündnispolitik, kollektive Sicherheit und Bereitschaft und Fähigkeit zum Beistand.

Wer richtigerweise und konsequent „Nie wieder Krieg!“ will, braucht neben friedlichem Interessenausgleich, Kooperation, Verständigung und Integration auch militärische, und gesellschaftliche Wehrhaftigkeit und kollektive Sicherheit: Nie mehr wehrlos, nie mehr allein!

Diese Grundprinzipien beschlossen 1945 die 51 Gründungsnationen mit der VN-Charta und unterschrieben seitdem weitere 142 Staaten.

Heute, nach mehr als 13 Monaten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und Terrorisierung seiner Zivilbevölkerung, gibt es in Deutschland wohl eine Mehrheitsmeinung, aber keinen weitgehenden Konsens zur Einschätzung des Putin-Regimes und zur Wiederherstellung von Verteidigungsfähigkeit. Die österlichen Friedensappelle wie das Schwarzer-Wagenknecht-Manifest formulieren minimale Verurteilungen des Angriffskrieges und klammern die systematisch das humanitäre Völkerrecht verletzende Kriegsführung wie die imperialistische Stoßrichtung gegen Nachbarstaaten und das demokratische Europa aus.

Die Frage drängt sich auf, wie sich diese Art von Friedensbewegten in den 1930er Jahren, gar ab 1939 positioniert hätten.

 

 

 

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