SCHAUT AUF CHARKIW! Seit 27 Monaten unter Beschuss, jetzt schutzlos gegen Gleitbomben von jenseits der Grenze (aktualisiert 02.06.24)

Nur 1.600 km entfernt von Berlin, Bevölkerungsgröße wie München, Berichte zum HINSEHEN.

SCHAUT AUF CHARKIW – zweitgrößte Stadt der Ukraine, Industrie- und Kulturmetropole, seit 27 Monaten unter Beschuss,  jetzt schutzlos gegen Gleitbomben von jenseits der Grenze, Winfried Nachtwei (16.05./02.06.2024) (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei , 28.4./ 16., 27.,29.5./02.06.2024)

Von Berlin nach Charkiw sind es nur 1.600 km. In Charkiw lebten zu Beginn des Angriffs-krieges ungefähr so viele Menschen wie in München.

Im Europawahlkampf fordern das „Bündnis Sarah Wagenknecht“, „Die Linke“ und die AfD die Einstellung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie behaupten, das sei ein Schritt zum Frieden in der Ukraine.

Seit einigen Wochen haben die russischen Streitkräfte ihre Angriffe auf Charkiw verstärkt: Am 22. März mit einem Raketenangriff gegen die Stromversorgung, am 22. April durch einen Marschflugkörper, der den zivil genutzten Fernsehturm zerstörte. Am Morgen des 10. Mai begann eine neue Offensive gegen die Region Charkiw. Besonders zerstörerisch und heimtückisch sind die Gleitbomben, die von russischen Kampfflugzeugen aus bis zu 70 km Entfernung von jenseits der Grenze abgeworfen werden und mit ihren 250 bis 1.500 kg Sprengstoff schwerste Schäden anrichten. (Die Gleitbomben können leicht aus freifallenden Bomben umgebaut werden, sind relativ billig und wurden bei der Einnahme von Awdijiwkas/ Oblast Donezk im Februar massenhaft eingesetzt – 250 in 48 Stunden.)   Die ukrainische Bevölkerung und Streitkräfte sind dem Gleitbombenterror weitgehend schutzlos ausgeliefert: Es fehlt an weiterreichenden Flugabwehrsystemen und Munition. (Beispiel das größte Kraftwerk in Kiew Trypilskan, das mit 11 Hyperschallraketen gleichzeitig angegriffen wurde. Von denen konnten die ersten sieben zerstört werden – dann gab es keine Abwehrraketen mehr.) Die westlichen Unterstützer sind zu langsam und zögerlich.

Inzwischen wird der alltägliche Staatsterrorismus gegen die Bevölkerung der Ukraine, unsere europäischen Nachbarn, hierzulande kaum noch wahrgenommen. Aus den Reihen der verbliebenen Friedensbewegung ist nichts an Protest dagegen zu vernehmen. (vgl. den bundesweiten Veranstaltungskalender des Netzwerks Friedenskooperative) Stattdessen wird Überlebenshilfe zur Selbstverteidigung, also Unterstützung des Völkerrechts, als Kriegs-treiberei verunglimpft. Offenbar völlig egal ist, dass einer Bevölkerung Nothilfe verweigert wird, deren Vorfahren durch den deutschen Vernichtungskrieg von 1941-43 acht Millionen Menschen verloren hatten, ein Viertel der Bevölkerung. (s. Schussteil)

Im Folgenden einige Beiträge zum gegenwärtigen Krieg im Raum Charkiw, zur Bedeutung der Stadt und den vielen Kriegen in der Region. Aktuelle Karten auf www.facebook.com/winfried.nachtwei .

  1. März 2022: „Was auf dem Spiel steht – Charkiw steht unter Beschuss

Kaum ein Ort in der Ukraine symbolisierte so sehr das Ineinander, Miteinander und Gegeneinander europäischer Geschichte. Eine Erinnerung“ von Cathrin Kahlweit, SZ 01.03.2022; vgl. http://www.kharkovinfo.com/kharkiv-city-tour-explorer.html )

Die mit eineinhalb Millionen Einwohner zweitgrößte Stadt der Ukraine liegt 40 km südlich der russischen Grenze. Gegründet 1630 als Festung gegen die Krimtataren war Charkiw „gegen Ende des Ersten Weltkrieges Teil der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik und bis 1934 Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik. (…) Im Holodomor, der großen Hungersnot während der stalinistischen Zwangskollektivierung verhungerten allein hier innerhalb weniger Monate mehr als 45.000 Menschen. In den Gefängnissen des NKWD, der sowjetischen Geheimpolizei, starben Tausende.“ Charkiw wurde Industriezentrum und Technologieschmiede der UdSSR. „Hier ging der legendäre Panzer T-34 der Roten Armee vom Band.“ Bei drei Schlachten um Charkiw im „Großen Vaterländischen Krieg“ kamen während der deutschen Besatzung fast 300.000 Menschen ums Leben.

Mit Beginn des Krieges in der Ostukraine im Frühjahr 2014 „gab es ein wochenlanges Ringen, proeuropäische Aktivisten marschierten gegen prorussische Kräfte, es gab Straßenschlachten, Terroranschläge, Tote. (…) Die Zivilgesellschaft machte mobil, sammelte Spenden für die ukrainische Armee, fuhr Hilfsgüter in die umkämpften Gebiete. (…) Charkiw war Frontstadt und weigerte sich doch, Frontstadt zu werden.“ Vor dem russischen Angriff gab es in der Stadt ein Dutzend Theater und mehrere Opern, über 40 Universitäten und Hochschulen. Eine blühende Kunstszene. (…)“

24.05.2024: Über uns die Bomben – Charkiw, das bedeutet Theater im Bunker, Schule in Metrostationen, Essen, Feiern und Arbeiten, wo Putins Raketen im Idealfall nicht hinreichen. Vom Leben im Untergrund und der Frage, wie sich der Wahnsinn des Krieges aushalten lässt“ von Cathrin Kahlweit, SZ 24.05.2024, https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/charkiw-ukraine-putin-russland-bunker-krieg-e117355/?reduced=true

„(…) Seit zehn Jahren, seit Moskau seine Soldaten erst auf die Kim und in den Donbass, dann schließlich Richtung Kiew geschickt hat, ist Charkiw Frontstadt. Niemand konnte sich seither ganz sicher fühlen hier, nirgends, niemals. Jeden Tag Raketen, Bomben, Angst. Seit einige Wochen, seit Moskau eine neue Offensive im Nordosten der Ukraine gestartet hat, ist es noch schlimme geworden, als es ohnehin war: Gleitbomben und ballistische Raketen schlagen im Stundentakt in de Peripherie und im Zentrum ein. Keine Vorwarnzeit, maximale Zerstörung. Den Bewohner bleibt nur, sich zu schützen, so gut es irgendwie geht. Sich einzurichten im Krieg. Unter dem Krieg.

Deshalb steht Kateryna Kalinskaja Mitte Mai in einem Keller in Saltiwka, dem dicht besiedelte Betonberg am Stadtrand von Kiew, über den der Schriftsteller Serhij Zhadan zarte Texte geschrieben (…) hat. Der Keller jedenfalls ist für die Menschen hier so etwas wie ihre Rettung. Über er Treppe, die vom Eingang hinunterführt in die Tiefe, steht „Kinderballettstudio Prinzessin“. Kataryna Kalinskajas zehnjährige Tochter verfolgt dort ihren Traum, als Balletttänzerin mal ein TikTok-Star zu werden. Sie macht kleine Videos von sich, wenn sie tanzt, und stellt sie ins Netz. Sie würde auch gern in eine echte Schule gehen, wo man Freunde trifft, spielen und toben kann. Die Untergrundschule in der Metrostation Universität am Freiheitsplatz etwa, eine der wenigen in Charkiw mit analogem Unterrocht, arbeitet in Schichten: morgens Grundschüler, nachmittags die Älteren. Die Nachfrage ist zu groß. Vielleicht auch, weil die Ausstattung der Schule den Umständen angepasst ist: viele bunte Farben gegen die Tristesse des grauen Betons in einem Tunnel, die Fenster schalldicht, damit man das Rumpeln der Züge nicht so hört. Jede Klasse wird zusätzlich von einer Psychologin und einer Tutorin betreut. Ein Luxus und eine Notwendigkeit in Zeiten, in denen sich der Krieg als Albtraum in Kinderseelen schleicht. An den Wänden hängen aufmunternde Slogans, illustriert mit Herzchen und Blümchen: Du bist wichtig. Du kannst ein Licht in anderen anzünden. Du bist eine Künstlerin.“ (…)

Nur ein paar Hundert Meter entfernt von Katarynas Wohnung ist vor zwei Tagen eine Rakete auf einem Schulsportplatz eingeschlagen, auf dem ein paar Kinder ein bisschen Fußball spielen wollten., bei Tageslicht, an der frischen Luft. Sportunterricht gibt es längst nicht mehr. Die Schüler lerne online, seit Jahren – erst war Covid, dann kam er Krieg. Drei Kinder wurden bei dem Raketenangriff lebensgefährlich verletzt, eines hat beide Beine verloren. Allein an diesem Donnerstag starben sieben Menschen bei Raketeneinschläge in er Stadt,

Gäbe es keine Keller, keine Bunker, keine Untergrundbewegung und keine Untergrundgeist, vielleicht wäre die Stadt mittlerweile tatsächlich leer. Aber so sind auch viele von denen, die vor zwei Jahren geflohen waren, wieder zurückgekommen. Und haben sich unter der Erde mit viel Erfindungsgeist eingegraben, eingerichtet. Charkiw – da bedeutet Theater im Bunker, Konzerte und Schulunterricht in Metrostationen, Museumspädagogik in einem Tunnel, Kunst im Untergeschoss, Essen, Feiern, Musizieren und Arbeiten dort, wo Bomben im Idealfall nicht hinreichen, wo man sich für ein paar Minuten, ein paar Stunden sicher fühlt. Ein kleines Hotel im Stadtzentrum ist gerade meist ausgebucht, nachdem da erste Haus am Platz beschossen wurde: Es hat Kellerzimmer ohne Fenster.

In den ersten Kriegsmonate lebte halb Charkiw gezwungenermaßen in Kellern, Bunker und U-Bahneingängen. Wo sollten die Bewohne auch hin, als russische Soldaten schnell vorrückten?  Dann, als die Russen fortgejagt waren, kamen die Menschen heraus und schauten sich ihre Stadt an. Die Regionalverwaltung durchlöchert, Bombenkrater in Baudenkmäler, Schäden an bedeutender Architektur, Art déco, Jugendstil, Konstruktivismus. Charkiw ist immer etwas Besonderes gewesen.

Jetzt sind mehr als 1400 Häuser zerstört. Und alle drei Kraftwerke, die Charkiw mit Energie versorgt hatten, auch. In den meiste staatliche Gebäuden, Banken, Geschäften wurde das Fensterglas durch Sperrholz ausgetauscht. Gearbeitet wird bei künstlichem Licht. Wenn nicht gerade der Strom eingestellt ist. (…) Im Kraftwerk Nummer 5 etwa haben sie Erfahrung mit Zerstörung und Wiederaufbau und Zerstörung. Und mit Kellern auch. Im Februar2023 hatten russische Raketen einen er drei Blöcke der riesigen Anlage am Stadtrand zerschossen: schwarze Mauern, zerborstene Leitungen, geschmolzenes Metall. (…) Nach dem ersten Schlag waren Teile der Anlage noch funktionsfähig. Die Mannschaft macht sich an die Reparatur, Lettland und die Slowakei schickte Material. Dann kam er zweite Angriff, fast genau ein Jahr später. Ein Dutzend Raketen, sei 25 Meter neben ihm eingeschlagen, sagt (Chefingenieur) Koslakow (…). Er wurde verletzt – und war am nächsten Tag wieder a. Aber diesmal sei er Wiederaufbau eine Herkulesaufgabe. „Wenn wir nicht bis zum Herbst ein neues Dach haben, brauche wir mit er Reparatur der Technik gar nicht anzufangen.“ (Er steigt) über Löchre im Beton und wacklige Treffen hinab in die weiträumige Anlage im Untergrund. Zu Kriegsbeginn lebte hier wochenlang alle Arbeiter mit ihren gesamten Familien. Es gibt Betten und eine Kantine, eine Art Kinoraum und meterdicke Stahltüren. In den vergangenen zwei Jahren wurden die Bunker unter der Erde aufgehübscht und ausgestattet. Bei Luftalarm trifft man sich hier unten. Koslakow führ eine Statistik, wie viele Stunden sein Team jeweils im Bunker sitzt. Am 3. Mai zwölf Stunden, am 5. Mai en Stunden, am 8. Mai wieder zwölfeinhalb Stunden. „Die Sowjets haben das hier unten mal gebaut, um sich im Fall eines Atomkriegs vor den Amerikanern zu schützen“, sagt Koslakow. „Ironie des Schicksals, dass wir das jetzt nutzen, um uns vor den Russen zu schützen, oder?“

In Charkiw wissen sie, dass sie besonders kreativ sein müssen, wenn sie nicht verzweifeln wollen. (Zum Kunstmuseum, zur Theatergruppe „Nafta“ von Artem Vusyk) Diese „spielt in einem riesigen Schutzraum im Tiefgeschoss einer früheren Fabrik. (…) „Regenbogen über Saltiwka“ heißt ihr Stück, weil der Bezirk am meisten abbekommen hat und am meiste Hoffnung braucht. Und so stehe in der einbrechenden Dunkelheit Dutzende junge Leute für Tickets an um Yusyk in seinem Einmannstück mit Band zu bestaunen. (…) Die Zuschauer schunkeln mit, wenn Vusyk über de Metrostationen von Charkiw singt, und sie lachen, wenn er Selenskij mit verstellter Stimme spielt, der Durchhalteparolen ausgibt. (…)“

28.05.2024: Russlands Angriffe auf Charkiw: Ein Zentrum der ukrainischen Kultur ist in Gefahr. „Dieses Bauwerk ist Jazz, gegossen in Beton“ – Expedition in eine Stadt, die einmal die Zukunft war, von Thomas Avenarius, SZ, https://www.sueddeutsche.de/kultur/ukraine-krieg-charkiw-russland-1.7431577?reduced=true

„Das Derschprom (Anm.: Gebäude der staatlichen Industrie) aus der Frühzeit der UdSSR ist das bekannteste Gebäude in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine. Es ist eine Kathedrale der sowjetischen Avantgarde und des Konstruktivismus, ein Meilenstein der modernen Architektur, ein Markstein moderner Stahlbeton-Technik. (…) Das Derschprom, das mit seinen linealgeraden Linien wie ein Insekt vor dem riesigen Freiheitslatz hockt (…) war einer er ersten Wolkenkratzer der Sowjetunion. Und es stand eben nicht in Moskau, sondern in Charkiw. 16 glanzvolle Jahre, von 1919 bis 1935, war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik, ein Laboratorium für die Veränderung der Gesellschaft mit architektonischen Mitteln. Der ukrainische Autor Mikhail Ilchenko nennt Charkiw den „Ort einer der radikalsten städtischen Transformationen der Zwischenkriegszeit im ganzen östlichen Europa“. Charkiw war mehr als eine Stadt. Es war ein Blick in die Zukunft.

Nicht nur im Derschpromgebäude., aber hier in riesigem Maßstab, verzahnten die Sowjets Wissenschaft, Forschung und Technik wie Lego-Steine zu einer Gesellschaft neuen Typs. (…)“ Der Bau war „eine enorme Gemeinschaftsleistung. An allem habe es er jungen Sowjetunion gefehlt, an Geld, Geräten, Experten. Der Bau des Derschprom – eine „mission impossible“. Das Fundament musste von einer Armee von 5000 Spezialisten und Facharbeitern in Handarbeit ausgeschachtet werden – es gab nicht genug Bagger. Der Beton für den Bau in der Form des dreifache Buchstaben H wurde über Gerüste, Leitern und Winden nach oben geschafft, dort in Form gegossen. Du das auf elf Etagen: Es gab kaum Kräne. Was ab 1925 so entstand, ist ein bis heute gültiges Statement modernen Bauens. (…) Weil das Derschprom für die 5000 Fachleute und Arbeiter eine revolutionäre Fachhochschule des Bauens war, wurden rund um den Platz vor dem Derschprom und in der ganzen Stadt weitere Meilensteine des Konstruktivismus aufgetürmt“ – die Karasin Universität direkt nebenan. Ein paar Schritte nur bis zur Metro-Station, an der gleich drei Universitäten liegen – Charkiw war schon unter den Zaren eine Hochburg von Forschung und Wissenschaft, dazu eine Industriemetropole. (…)

The Museum of Ukrainian Victory:

3-D-Modell des Derschrom am Freiheitsplatz, dem größten Platz Europas

Derschprom, oder das Haus der staatlichen Industrie, ist der erste sowjetische 13-stöckige Wolkenkratzer, ein Denkmal der konstruktivistischen Architektur, einer von drei Charkiwer Wolkenkratzern, die 1925-1928 gebaut wurden. Das Gebäude befindet sich auf dem zentralen Platz von Charkiw und ist Teil des einzigartigen architektonischen Ensembles des Freiheitsplatzes. Ist auf der Vorschlagsliste der UNESCO aufgeführt.

Der Freiheitsplatz, der größte Platz in Europa, war seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine zahlreichen feindlichen Angriffen ausgesetzt. Am stärksten getroffen wurden Derschproms Nachbargebäude, die staatliche Oblastverwaltung von Charkiw und das daneben liegende Freiwilligenzentrum.

Im Jahr 2018 führte das Skeiron-Team das erste 3D-Scanning mit einer Drohne durch. Im Jahr 2022 verbesserten die Reporter:innen von Gwara Media die Photogrammetrie mit Aufzeichnungen von der Bodenoberfläche, und Pixelated Realities setzten sie zu einem genaueren Modell zusammen. Bemühungen von vier verschiedenen Organisationen wurden zusammengestellt.
Dieses 3D-Modell wurde im Rahmen des Projekts ‘Kharkiv Architecture Manual’ erstellt, das vom Urban Forms-Zentrum mit Unterstützung seitens House of Europe durchgeführt wurde. Das Video wurde für das Museum des ukrainischen Sieges erstellt.

Autor:innen – Gwara media (Charkiw), Pixelated Realities (Odesa), Skeiron (Lwiw)
Name des Objekts, Scan-Standort – Derschprom, Charkiw, Freiheitsplatz (Swobody Platz)
Datum der Zerstörung – Nicht vorhanden. Der Freiheitsplatz und umliegende Gebäude wurden mehrmals beschossen
Scan-Datum – Sommer 2022, https://pixelatedrealities.org/de/portfolio/gebaeude-der-staatlichen-industrie/

Neue russische Offensive in der Region Charkiw

  1. Mai 2024 „Ukraine gerät im Osten in die Offensive“ (FAZ 16.05.2024)

„Am Mittwoch (25.05.) zog sich die ukrainische Armee aus mehreren umkämpften Orten östlich der Großstadt Charkiw zurück. (…) darunter aus der Kleinstadt Wowtschansk“. Von dort wurden heftige Straßenkämpfe gemeldet. Alle 28 Kraftwerkblöcke und 90% der fossilen Erzeugerkapazitäten von DTEK, einem der größten Energiekonzerne der Ukraine, sind z.Zt. zerstört. (taz 16.05.)

  1. Mai 2024: „Schaut auf Charkiw, nicht auf Malmö. Wir interessieren uns zu sehr für den Nahostkonflikt und zu wenig für die Ukraine. Putin schafft derweil Fakten. (Dominic Johnson, taz 13.05.2024)

„Bodentruppen sind auf dem Vormarsch in Richtung der Millionenstadt Charkiw, die ohnehin seit Wochen täglich Ziel russischen Bombenterrors ist. Grenznahe Dörfer und Gehöfte stehen in Flammen, Tausende verzweifelte Menschen sind auf der Flucht, die erschöpften ukrainischen Verteidiger sind am Limit. Russlands Präsident Putin beginnt seine dritte Amtszeit so, wie er es angekündigt hat – mit Warnungen vor einem neuen Weltkrieg, Drohungen mit einem Atomschlag und der Verkündung, Russland werde immer siegen.

Der Angriff auf Charkiw ist da nur der erste Schritt. Der Westen hat dem momentan nichts entgegenzusetzen und will davon auch nichts wissen. Die EU, die USA und Großbritannien sind sämtlich mit Wahlkampf beschäftigt, also mit sich selbst. Wenn etwas die politische Öffentlichkeit bewegt, ist es Streit über Israel. Debatten über Gaza spalten Deutschland und andere Länder verlässlicher, als es die plumpe russische Ukrainepropaganda sich je hätte träumen lassen. Der notwendige Kampf gegen Antisemitismus wird von der europäischen Rechten für Fremdenfeindlichkeit und autoritäres Staatsverständnis instrumentalisiert. Deutschland droht sich durch seine narzisstische Überidentifikation mit Israel aus der Weltpolitik zu verabschieden, ohne es zu merken. In den USA steht Biden massiv unter dem Druck der eigenen Basis, und damit steigen Trumps Siegeschancen im November, womit Putins Durchmarsch gesichert wäre.

Für die Ukraine demonstriert derweil niemand. Dabei ist die Lage so brenzlig wie seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren nicht mehr.

Die Toten von Charkiw sind auch Europas Tote. Rechtzeitige Lieferungen von Abwehrwaffen in ausreichender Menge hätten es der Ukraine ermöglicht, alle großen Städte zu schützen, nicht nur Kyjiw. Während Trumps Marionetten in den USA monatelang die Militärhilfe für die Ukraine blockierten, verschwendeten Europäer kostbare Zeit mit Dauerdebatten etwa darüber, ob die Ukraine die Ausgangspunkte russischer Angriffe zerstören darf.

Egal was Putin anrichtet – immer warnt irgendjemand in Berlin vor einer drohenden Eskalation, sobald jemand die reale Eskalation aufzuhalten versucht. Man kann aber nicht im Europawahlkampf mit „Frieden“ werben und zugleich Russlands Krieg hinnehmen. Jetzt entscheidet sich Europas Zukunft. In der Ukraine.“

Russland eröffnet neue Kriegsfront (Anastasia Magasowa, taz 13.05.2024)

„Die russischen Truppen haben ihren Vormarsch in die Region Charkiw im Morgengrauen des 10. Mai begonnen. Seitdem gibt es dort heftige Kämpfe. Am Samstag und Sonntag verkündete das russische Verteidigungsministerium, insgesamt neun Dörfer nördlich der Stadt Charkiw eingenommen zu haben. Von ukrainischer Seite gab es bis Redaktionsschluss keine Bestätigung.

Nachdem die russischen Soldaten am Freitagmorgen die Grenze überschritten ­hatten, starteten sie, unterstützt von Artillerie und Luftstreitkräften, eine Offensive in zwei Richtungen – eine in Richtung der Stadt ­Charkiw und die andere in Richtung des Ortes ­Wowtschansk. Sechs ukrainische Grenzdörfer wurden in Schutt und Asche gelegt. Drei bis fünf Bataillone der neu geschaffenen Militärgruppierung „Nord“ waren daran beteiligt. (…)“

(Anm.: W. liegt direkt an der ukrainisch-russischen Grenze, 75 km nordöstlich Charkiw und hatte vor dem Krieg 19.000 Einwohner. W. wurde am 24.02.2022 von russischen Kräften besetzt, am 11.09.2022 durch die ukrainische Gegenoffensive befreit)

Ein neuer Eintrag in die Todeschronik (Florian Hassel SZ 13.05.2024)

„27 Städte und Dörfer sind in der Region Charkiw unter Beschuss. Besonders heftig angegriffen ist die fünf Kilometer von er Grenze zu Russland entfernte liegende Kleinstadt Wowtschansk. Allein am Samstag (11.05.) warfen russische Flugzeuge dem Bürgermeister zufolge mindestens 20 jeweils bis zu Hunderte Kilogramm Sprengstoff tragende Gleitbomben ab. Ganze Straßenzüge wurden dem Erdboden gleichgemacht. (…)“ Die Russen dürften versuchen, „von ihren nun teilweise nur noch schätzungsweise 30 Kilometer von Charkiw entfernten Positionen mindestens fünf Kilometer vorzurücken: Dann könnten sie Charkiw wie bisher nicht nur mit Marschflugkörpern oder Gleitbomben in begrenzter Zahl beschießen, sondern mit den massenhaft vorhandenen Artilleriegeschützen noch aus sowjetischer Produktion und eine Reichweite von typischerweise nur 25 Kilometern.“

  1. Mai 2024: Putin’s Safe Space: Defeating Russia’s Kharkiv Operation Requires Eliminating Russia’s Sanctuary, by George Barros, May 13, 2024, Institute for the Study of War (ISW), Karten auf www.domainhafen.org , https://understandingwar.org/sites/default/files/Putin%27s%20Safe%20Space%20PDF.pdf

Current US policy prohibiting Ukraine from using US-provided weapons in the territory of the Russian Federation is severely compromising Ukraine’s ability to defend itself against the renewed cross-border invasion Russia has recently launched in Kharkiv Oblast. US policy has effectively created a vast sanctuary in which Russia has been able to amass its ground invasion force and from which it is launching glide bombs and other long-range strike systems in support of ist renewed invasion. Whatever the merits of this US policy before the Russian assault on Kharkiv Oblast began, it should be modified immediately to reflect the urgent realities of the current situation.

The Russian military began an offensive operation along the Russian-Ukrainian border in northern Kharkiv Oblast on May 10 — an effort that will pose serious challenges to Ukrainian forces over the coming months. The operation seeks to fix Ukrainian forces across the theater and thin them out along the 600-mile frontline to create opportunities, specifically in Donetsk Oblast, among other significant objectives that ISW has warned about at length.[1] Russian forces will likely leverage their tactical foothold in northern Kharkiv Oblast in the coming days to intensify offensive operations and pursue the initial phase of an offensive effort likely intended to push back Ukrainian forces from the border with Belgorod Oblast and advance to within tube artillery range of Kharkiv City.[2] The operation could set conditions for a major offensive operation that seeks to seize Kharkiv City, though Russian forces’ current limited efforts do not suggest that Russian forces are immediately pursuing a large-scale sweeping offensive operation to envelop, encircle, or seize Kharkiv City.[3] Russia’s operation is still nonetheless dangerous and is already diverting some Ukrainian forces and resources from Donetsk to Kharkiv.[4] Russia’s Kharkiv operation will force Ukraine to make difficult prioritization decisions that can generate significant operational effects in favor of Russia in the coming months.

Defeating Russia’s operation in Kharkiv Oblast requires defeating Russia’s glide bomb threat. Russian forces are using glide bombs launched from Russian airspace to enable Russian ground maneuver in Kharkiv Oblast. The Russian Air Force dropped glide bombs against frontline settlements when Russia began the initial phase of its Kharkiv Operation on May 10 and dropped no fewer than 20 glide bombs against the frontline city of Vovchansk on May 11 alone.[5] Russian forces continued to strike frontline cities in Kharkiv with glide bombs on May 12.[6] Russian forces previously demonstrated the capability to use massed glide bomb strikes to destroy Ukrainian strongpoints to enable tactical maneuver during the battle of Avdiivka in February 2024.[7] The Russian military is replicating this tactic in its new Kharkiv operation.

Russia is leveraging Russian airspace as a sanctuary to strike Kharkiv Oblast. Senior US government officials have issued multiple statements throughout 2023 and 2024 that Ukraine may only use US-provided weapons within Ukrainian territory and airspace, and that the US does not encourage or enable attacks within Russia, very likely also including Russian airspace (although the US prohibition on Ukraine’s use of air defense systems around Kharkiv is less clear).[8] Ukraine cannot defend its frontline positions from Russian glide bombs so long as Ukraine cannot intercept Russian aircraft in Russian airspace with US-provided air defense systems.

Russia’s use of Russian airspace for these attacks underscores the urgent need for the US to provide more long-range air defense assets and to allow the Ukrainians to use them to intercept Russian aircraft in Russian airspace.

Russian aircraft can strike Kharkiv City indefinitely without ever leaving the sanctuary of Russian airspace. Kharkiv City lies 40 kilometers from Russia’s international border with Ukraine. Russia’s glide bombs have a glide range of 40-60 kilometers.[9] Ukraine’s air defense systems do not have the capability to intercept glide bombs once they have been launched from Russian fighter-bombers. The Russian Air Force can therefore strike Kharkiv City without ever entering Ukraine’s sovereign airspace. It is absurd to constrain Ukraine’s ability to counter Russia’s glide bomb threat in Kharkiv at this pivotal movement.

  1. April 2024: „Charkiw unter Dauerfeuer

Seit Wochen greift Russland die ostukrainische Stadt an. Jüngstes Beispiel: der zerstörte Fernsehturm. Hinzu kommen Befürchtungen vor einer Invasion.“ (Juri Larin taz 23.04.2024

„Die ostukrainische Metropole Charkiw ist eine der am stärksten von der russischen Aggression bedrohten Städte des Landes. Russlands Präsident Wladimir Putin scheint das Ziel zu verfolgen, Charkiw in eine Rui­nenstadt zu verwandeln. Exemplarisch dafür steht der Abschuss des zivil genutzten und 240 Meter hohen Fernsehturms am Montag: Ein russischer Marschflugkörper traf den unweit des Stadtzentrums befindlichen Turm und zerstörte die Konstruktion und große Teile der Telekommunikationseinrichtungen. Fotos und Videos zeigen, wie die obere Turmhälfte einknickt und Rauch aufsteigt.

Seit Wochen arbeiten die russischen Streitkräfte daran, das Leben in der Großstadt, in der vor Moskaus Angriffskrieg 1,4 Millionen Menschen wohnten, so schwer wie möglich zu machen. Nach einem Raketenangriff am 22. März ist im Gebiet Charkiw nach wie vor die Stromversorgung gestört, in der Stadt gibt es kein warmes Wasser, und der Schul- und Universitätsunterricht ist praktisch unmöglich geworden.

Durch die Zerstörung des Fernsehturms wird ein Teil des Charkiwer Gebietes nun auch Probleme beim Zugang zu Informationen haben: Im Umkreis von 40 Kilometern gibt es kein digitales noch analoges Fernsehen mehr. Betroffen ist hauptsächlich der nördliche Teil Charkiws samt Umgebung, das bereits Tage zuvor im Fokus der russischen Angriffe stand. In erster Linie betrifft das Dörfer an der Frontlinie, in denen die russische Propaganda versucht, den Empfang sämtlicher ukrainischer Fernseh- und Radio­signale zu stören.

An der Grenze zur Region Charkiw haben die Russen schon vor längerer Zeit leistungsstarke Relaisstationen installiert und damit begonnen, ihre Programme auf denselben Frequenzen auszustrahlen wie die ukrainischen. Und weil die Russen über stärkere und teurere Antennen verfügen, sind die Chancen, die ukrainischen Sender zu empfangen, im Norden des Charkiwer Gebietes faktisch gleich null. Somit bleibt den Ukrainern dort nur noch eine Informationsquelle: die russische Propaganda. (…)“

  1. März 2022: „Holocaust-Mahnmal bei Charkiw von russischer Artillerie beschossen und beschädigt“, Julian Röpcke/BILD auf /Twitter, 26.03.2022

Die vierte Schlacht um Charkiw ab Februar 2022

  1. März 2022: „Die vierte Schlacht – Charkiw im Nordosten der Ukraine steht unter Beschuss. Erinnerungen an vergangene Kriege prägen die Millionenmetropole – und die vielen Studierenden aus aller Welt, die jetzt wie die alteingesessenen Bewohner um ihr Leben bangen müssen“ (Thomas Gerlach taz 07.03.2022) https://taz.de/Millionen-Metropole-Charkiw/!5839527/

„Die Rakete am vergangenen Dienstag, dem 1. März, erreichte ihr Ziel um 8.01 Uhr. Eine Kamera hat dokumentiert, wie sie das sechsgeschossige, wuchtige Gebäude in Charkiw binnen einer Sekunde in eine Ruine verwandelte. Die Sequenz des Angriffs, bei der elf Menschen gestorben sein sollen, ist beklemmend, die Wirkung eines einzigen Sprengsatzes furchtbar. Das betroffene Gebäude ist gleichermaßen Sitz vom Stadt- und vom Gebietsparlament, es begrenzt den Freiheitsplatz in Charkiw nach Süden. Seine genaue Adresse lautet Sumska-Straße 64. (…)

Der Verwaltungsbau, den jetzt – bis auf russische Fernsehzuschauer – die ganze Welt kennt, war in der Zarenzeit das Gebäude des Semstwo, der Standesvertretung des Gouvernements Charkiw. Im Semstwo regelten im ganzen russischen Reich Vertreter des Adels, der Bürger und der Bauernschaft Belange der kommunalen Selbstverwaltung. 1932 erhielt Jakow Aronowitsch Schtejnberg, ein angesehener Kiewer Architekt, den Auftrag, das Gebäude im Stil der neuen Zeit umzubauen. Das Haus sollte Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine werden. Charkiw, nicht Kiew, war zwischen 1919 und 1934 Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das Industriezentrum mit seinen Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und einem Heer an Werktätigen schien den Bolschewiki aufgeschlossener für die Lehre vom historischen Materialismus. (…) Der Umbau des alten Semstwo-Gebäudes am anderen Ende hatte 1932 gerade begonnen, da kam der Tod über die Stadt. Hungernde Bauern strömten in die Metropole auf der Suche nach Essbarem. Andere setzten ihre Kinder aus, in der Hoffnung, die Städter würden sich ihrer erbarmen. Selbst kehrten sie zum Sterben in ihre Dörfer zurück. Stalin, der die Landwirtschaft kollektivieren wollte, hatte den Holodomor angeordnet, eine systematisch herbeigeführte Hungersnot, um den Willen der Bauern zu brechen. Stadtbedienstete räumten die Leichen von den Straßen, 250 und mehr jeden Tag, nicht wenigen war die Leber herausgeschnitten. „Sein Kind zu verspeisen ist ein Akt der Barbarei!“, ermahnte die Sowjetregierung auf Plakaten. Der italienische Konsul von Charkiw schickte grauenhafte Berichte nach Rom. (…)

Es ist nicht der erste Krieg, auf den das Haus mit seinen schwarzen Fensterhöhlen blickt. Der Freiheitsplatz von Charkiw misst heute zwölf Hektar. Vor den Zweiten Weltkrieg war er größer. So groß, dass zeitweilig Flugzeuge der Wehrmacht dort landeten. Um die Stadt wurde im Oktober 1941 erbittert gerungen. Es war die erste Schlacht um Charkiw. Auf deutscher Seite kämpfte die 6. Armee; jene, deren Reste Anfang 1943 in Stalingrad zerrieben wurden. Im Mai 1942 fand die zweite Schlacht um Charkiw statt, im Frühjahr 1943 die dritte. Im August 1943 wurde die Stadt endgültig befreit. Es ist ein Wunder, dass es sie überhaupt noch gibt.

Immer wieder Krieg

Warum immer wieder Krieg? Warum immer wieder Tod und Zerstörung? Als hätte Charkiw, als hätte die ganze, doch so abgelegene Gegend nicht schon genug gelitten. Überall ragen Denkmäler auf, die an Kriege erinnern. Das gewaltigste ist der Koloss für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges beim Städtchen Isjum. Weit erheben sich die Betonbrocken über das Land, von dort kann man tief in den Donbass blicken. Das schönste ist der klassizistische Denkmalskomplex in Poltawa. 1709 besiegte Peter der Große bei Poltawa entgegen allen Erwartungen die Schweden. Das russische Reich wuchs in der Folge zur europäischen Großmacht heran. Die Ukraine hingegen musste ihren Traum von Selbstständigkeit für Generationen begraben.

Charkiw liegt in der Sloboda-Ukraine, ein beschaulicher Landstrich mit Weizenfeldern, Sonnenblumen und Dörfern. Die Gasthäuser heißen Schynok, man sitzt hinter Flechtzäunen und lässt sich Schaschlik bringen oder Borschtsch, ein Eintopf mit Roter Bete und Kohl. Die Zaren haben sich wenig für die damalige Südwestgrenze des Reiches interessiert, solange aus der Steppe keine Reiterheere drohten. Kosaken siedelten sich als Wehrbauern an, haben im 17. Jahrhundert Städte gegründet, darunter auch Charkiw. (…)

Gogol und der Kosake Taras Bulba

Wer die Gemütsart der Gegend verstehen will, sollte Nikolai Gogol lesen, seine frühen Werke „Abende auf dem Weiler bei Dikanka“ und „Mirgorod“. Gogol wurde 1809 in der Sloboda-Ukraine geboren. Seine Geschichten handeln von gutmütigen Imkern, von Jahrmärkten, Wasserpfützen, aber auch von Teufeln, Hexen und Fabelwesen. Eine Erzählung berichtet vom Kosaken Taras Bulba, der sich mit seinen Söhnen dem Aufstand gegen die Polen anschließt. Der brave Kerl verwandelt sich im Laufe der Erzählung in einen grimmigen Krieger, der sein eigenes Leben nicht schont. In Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kiew, scheint der Kosak Taras Bulba beklemmend real wiedergeboren.

Natürlich ist Charkiw keine pazifistische Stadt. Auf dem Konstytutsiji-Platz, einem der belebtesten Orte im Stadtzentrum, stehen seit Jahrzehnten Panzer. Das Historische Museum präsentiert auf der Freifläche seinen ganzen Stolz, den T-34. Der Tank wurde im Konstrukteursbüro für Maschinenbau entwickelt und in der Lokomotivfabrik „Komintern“ gebaut. 50.000 Stück wurden im Laufe des Krieges montiert. Viele im Ural, aber Charkiws Ingenieure haben ihn erdacht. Das Büro entwickelt immer noch Panzer, und die Fabrik „Komintern“, heute das Malyschew-Werk, baut sie, wenn auch nur wenige.

Was in Charkiw an Wissen zusammengetragen wurde, zieht junge Menschen aus aller Welt zum Studium an den Universitäten an

Es sind aber nicht nur Panzer. Es sind Traktoren, Kraftwerksturbinen, Flugzeuge. Es scheint eine Stadt voller Ingenieure zu sein. Hinzu kommt Grundlagenforschung, in der Sowjetunion wurde sie systematisch erweitert. In den dreißiger Jahren lehrte und forschte der junge Lew Landau fünf Jahre lang am Physikalisch-Technischen Institut der Charkiwer Universität. Er gilt als Begründer der theoretischen Physik in der Sowjetunion, arbeitete an der Wasserstoffbombe, wurde zeitweilig vom sowjetischen Geheimdienst inhaftiert und erhielt 1962 als erster sowjetischer Forscher den Nobelpreis für Physik.

Was in Charkiw an Wissen zusammengetragen wurde, zieht junge Menschen aus aller Welt an. Viele kommen aus Marokko, Nigeria, China, die mit Abstand meisten aus Indien. Sie lernen an Dutzenden Universitäten, Hochschulen, ­Instituten. Sie studieren Maschinenbau, Luftfahrt, Radioelektronik, IT-Wissenschaften, Wirtschaft, Landwirtschaft, Medizin. Sie bringen Weltläufigkeit in die Stadt und natürlich Geld. Sie tragen es in Studentenkneipen, in Clubs, zu Konzerten, in Kinos, in Fitnessstudios. Es gibt viele ukrai­nische Großstädte, die wirken überaus beschaulich – Krementschuk, Poltawa, Cherson. Charkiw, die Millionenstadt, ist quirlig. Das heißt, sie war es.

Die Grundstimmung gegenüber Russland, dessen Grenze vierzig Kilometer nördlich verläuft, war in Charkiw immer freundlich, zugewandt. Als Ende 2013 die Menschen in Kiew zum Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, strömten und EU-Fahnen schwenkten, blickten viele in Charkiw skeptisch auf die Hauptstadt. In Lwiw wiederum, dicht an der ukrainischen Westgrenze und durch Habsburg eng mit Polen und Europa verwoben, rümpften sie über Charkiw die Nase. Charkiw? Was willst du in Charkiw?, hat man mich gefragt, als ich Freunden meine Reiseroute präsentierte. Für einen Reiseführer in Charkiw recherchieren? Überflüssig. Sehenswürdigkeiten gibt es hier, nicht in einer Industriestadt im Osten.

In Überlegungen der russischen Führung galt das Gebiet Charkiw im Jahr 2014 als die Region, die sich, neben dem Donbass, von der Ukraine abspalten könnte. Auf den Straßen in Charkiw wurde russisch gesprochen, nicht ukrainisch. Die Separatisten setzten sich nicht durch. Die Maidan-Aktivisten allerdings auch nicht. Es war wie ein Patt. Am ersten Jahrestag der tödlichen Schüsse auf dem „Euromaidan“, als am 20. Februar 2014 mehr als hundert Menschen starben, explodierte in Charkiw eine Bombe, vier Menschen kamen ums Leben.

Lange hat die Stadt mit sich gerungen. Vielleicht hatte Wladimir Putin tatsächlich geglaubt, in Charkiw würden seine Truppen mit Brot und Salz empfangen. Es kam anders. Als „zehn Tage Hölle“ bezeichnete eine Charkiwerin am Samstag ihr Leben seit Kriegsbeginn. Nun heißt es, die Stadt werde von der russischen Armee eingekreist.

Wie sollen die Menschen auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Grenze, oft genug Freunde und Verwandte, jemals wieder zusammenfinden?

Oktober 1941 – August 1943: Vier Schlachten um Charkiw/Charkow, Massenmorde hinter der Front

Mit Beginn des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion bahnte die Heeresgruppe Süd der Wehrmacht mit 1 Millionen Soldaten dem deutschen Vernichtungskrieg auf dem Boden der Ukraine den Weg. Die Wehrmacht besetzte am 24. Oktober 1941 Charkow (Charkiw), die zweitgrößte Stadt des Landes (1. Schlacht von Charkiw). Auf Befehl von Generalleutnant Alfred von Puttkamer wurde an 14. Dezember ein Judenghetto eingerichtet, aus dem täglich 250-300 jüdische Gefangene in die Schlucht von Drobyzkyi Jar gebracht und dort vom Sonderkommando SK 4a unter Paul Blobel erschossen wurden.  Insgesamt sollen in der Schlucht 16.000 Menschen ermordet worden sein. Schon die Ereignismeldung UdSSR Nr. 132 vom 12.11.1941 meldete, das SK 4a habe bisher 55.432 Exekutionen durchgeführt.

Charkow-Kessel im Mai 1942 (2. Schlacht von Charkow): Offensive der Roten Armee zur Rückeroberung von Charkiw mit 765.000 Soldaten, Einkesselung durch die 17. Armee der Wehrmacht von Süden und der 6. Armee von Norden, die Rote Armee verlor 29 Divisionen, 170.000 Rotarmisten fielen oder gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, über 100.000 werden verwundet. Das Oberkommando der Wehrmacht meldete 240.000 Gefangene. Das deutsche Lagersystem führte zu einem „kalkulierten Massensterben“. In der besetzten Ukraine kamen laut Dieter Pohl mindestens 800.000 gefangene Sowjetsoldaten ums Leben. Bei der 16. Panzerdivision aus Münster, die später als „Speerspitze der 6. Armee“ galt, als erste Stalingrad erreichte und dort unterging, gerieten allein 31.500 Gefangene in Gefangenschaft, eigene Verluste laut Divisionsgeschichte 700 Mann. (Die erste Schlacht um Charkow zwischen der 6. Armee und der Roten Armee fand im Oktober 1941 statt, die dritte im Frühjahr 1943. Im August 1943 wurde die Stadt endgültig befreit.)

Insgesamt fielen in der Ukraine mindestens acht Millionen Menschen dem deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg zum Ofer, darunter über fünf Millionen Zivilisten, 1,6 Millionen jüdische Menschen – ein Viertel der Bevölkerung.

Gegenoffensive der Roten Armee

Befreiung von KiewBeteiligung der 1. Ukrainischen Front an der Schlacht am Dnepr August bis Dezember 1943 (insgesamt 280.000 sowjetische Gefallene)

Schlacht um Berlin: Finale Offensive der Roten Armee (16.04.-02.05.1945) zur Einnahme der Hauptstadt Nazideutschlands durch die 1. Weißrussische Front (von Norden und Osten) und die 1. Ukrainische Front (von Süden und Südwest) mit knapp 2 Millionen Soldaten und 5.000 Panzern. 78.300 gefallene sowjetische Soldaten, 274.000 Verwundete.

An anderen Frontabschnitten waren die 2., 3. und 4. Ukrainische Front eingesetzt. Soldaten aus der Ukraine und anderen Teilen der Sowjetunion trugen wesentlich und unter höchsten Opfern zur Befreiung Europas und Deutschlands vom Naziterror bei.

 

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