Über 40 Raketen und Marschflugkörper gegen die Ukraine, einer auf die größte Kinderklinik der Ukraine!
Verzweiflung UND Stärke: Solidaritätsmarsch und Kundgebung „Russland ist ein Terrorstaat“ nach den Raketenangriffen vom 8. Juli in Münster vorm Historischen Rathaus am 13.07.2024, Winfried Nachtwei (14.07.2024) (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Vor sechs Tagen, am Morgen des 8. Juli 2024, startete Russland einen massiven Luftangriff gegen die Ukraine in zwei Wellen. Raketen, Marschflugkörper und ballistische Raketen schlugen in Kiew, Kryvy Rih und der Region Dnipropetrowsk ein und töteten 39 Menschen und verwundeten 190. In Kiew trafen Kh-101-Marschflugkörper einen Rüstungsbetrieb und die Ohmatdyt-Klinik, die hochspezialisierte und größte Kinderklinik der Ukraine. ( https://www.facebook.com/ndslohmatdyt/ ; https://ohmatdyt.com.ua/en/slider/the-hospital-is-working-and-standing-for-life/ ) Nach bisherigen glaubwürdigen Untersuchungen – u.a, vom UNO-Menschenrechtsbüro – war der Treffer der Kinderklinik kein Fehlschuss, sondern gezielt. Ebenfalls getroffen wurden in Kiew das Zentrum für Reproduktionsmedizin Isida sowie die private Adonis-Klinik. In letzterer wurden fünf Ärzte und zwei Patienten getötet. ( https://open4business.com.ua/de/adonis-medical-group-schaetzt-den-schaden-durch-die-zerstoerte-klinik-auf-3-mio/ )
Zum kurzfristig organisierten Solidaritätsmarsch trafen sich an den Aaseekugeln mehr als Hundert Menschen, darunter auffällig viele Frauen und Kinder, alle geschmückt mit dem Gelb-Blau der Ukraine, viele mit Blumen. In der samstagsvollen Innenstadt bildeten ernste Passanten streckenweise geradezu ein Spalier für die Demonstration, in deren Mitte eine riesige ukrainische Fahne getragen wurde. Vor dem Historischen Rathaus des Westfälischen Friedens, dem zentralen Ort von Friedenshoffnung, stellte sich der Kundgebungskreis nicht wie sonst üblich Richtung Rathaus auf, um Redner:innen zuzuhören, sondern wandte sich den Passanten zu. Viele blieben stehen.
Mit kräftiger Stimme hatte die aus Winnyzja stammende Olga Stromberger beim Demonstrationszug Parolen gegen den russischen Aggressor und für „Freiheit und Frieden für die Ukraine! Frieden für Europa!“ angestimmt. Jetzt spricht sie frei, aufgewühlt, verzweifelt, eindringlich und stark zu den Menschen rundum. Zu dem erneuten Tiefschlag von russischen Raketenangriffen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, gegen die Allerschwächsten, die schwerstkranken Kinder der Ohmatdyt-Klinik in Kiew, des größten Kinderkrankenhauses der Ukraine. Zu dem Angriff auf ein Zentrum für Reproduktionsmedizin, wo Männer vor ihrer Verlegung an die Front Samenspenden für ihre Frauen hinterlassen hatten. „Ich kann nicht mehr. Ich möchte einfach, dass es aufhört.“ Es gehe um ein freies, demokratisches Leben, selbst zu entscheiden, in welche Richtung sich die Ukraine entwickle. „Dafür darf man nicht mit Raketen angegriffen werden. Das ist unsere Sache! Bei uns werden Präsidenten frei gewählt. Dafür sind wir aufgestanden – und dafür werden wir jetzt von Russland bestraft.“ Es folgt eine Schweigeminute für die zahllosen Opfer des russischen Angriffskrieges, insbesondere auch die vielen Kinder.
Vor den Kundgebungsteilnehmer:innen wird eine große Folie mit dem Grundriss der Ukraine ausgerollt. Auf diese setzen sich Kinder, werden Blumen, Puppen und Spielsachen niederlegt. Die Kinder zeichnen mit Kreide die Grenzen der Ukraine auf das Kopfsteinpflaster. Dutzende halten selbstgefertigte Aussagen hoch:
„Wir brauchen kein Mitleid, wir brauchen Gerechtigkeit!“
„Russland wird töten bis wir es stoppen!“
„Wir sind stärker, wenn wir vereint sind“
„Wohin schaut ihr Völker der Welt?“
„More than 3 million children cannot study because of constant russian shelling“
„Ukrainische Kinder haben ein Recht auf Leben!“
„Helfen Sie mit, die Ukraine vor russischem Terror und Völkermord zu schützen!“
„We need weapons not toys!“ „Taurus for Ukraine!“ „“Let Ukraine strike back!“
„Kriegsverbrecher vor Gericht!“
„ Google #Ohmatdyt“
Eine Fototafel: „622 ukrainian kids were killed by russia since february 24, 2024“
Eine Russischkundige verweist auf aktuelle russische Desinformation: Im Netz ist sie auf einen Artikel der Moskivskkij Komsomolez vom 11.07. gestoßen. Die Überschrift „Deutschland hat einen Plan eines Krieges gegen Russland ausgearbeitet.“ Dieser Plan sehe „die Verlegung der NATO-Truppen und das Einrichten von Lagern für Kriegsgefangene“ vor.
Zwischendurch im Wechsel Sprechchöre und gemeinsame Lieder: Mit Wut und Verzweiflung „Russland ist ein Terrorstaat! Russland ermordet unsere Kinder, jeden Tag und jede Nacht!“ Zugleich mit ungebrochenem Willen und Hoffnung „Hände weg von der Ukraine! Sieg für die Ukraine! Freiheit und Frieden für die Ukraine, Frieden für Europa!“
Da wegen der Kürze der Zeit keine anderen Redner:innen eingeladen wurden, fragt Olga, ob sonst noch jemand sprechen wolle. Sie sprach so persönlich, so existentiell und eindringlich – was soll da noch die Spontanrede eines Politikers! Aber da sich kein Altdeutscher meldet, nehme ich doch das Mikrofon:
Im Westen, in Deutschland wird der seit fast 29 Monaten tobende Angriffskrieg gegen die Ukraine von vielen immer weniger wahrgenommen. Der Raketenangriff auf die größte Kinderklinik der Ukraine vor fünf Tagen blitzte kurz in den Medien auf. Das war`s. Aber stellen Sie sich vor, die Münsteraner Uni-Klinik wäre von einer Rakete aus Holland getroffen worden. Was dann los gewesen wäre. Selbstverständlich wäre dann die Erwartung gewesen, dass Hilfe von außen kommen würde, dass gegen solche Bedrohungen gemeinsam vorgegangen werden muss. Der Angriff auf die Kinderklinik war kein Einzelfall. Der russische Angriffskrieg richtet sich schon lange gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung. Im März begann die russische Offensive im Raum Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Die russischen Angreifer setzten hier neue Waffen ein, Gleitbomben, billig herzustellen, große Zerstörungskraft, abgeworfen von jenseits der russischen Grenze. Den Einsatz westlicher Waffensysteme gegen die Startorte dieser Angriffswaffen untersagten die westlichen Unterstützerstaaten über mehrere Monate. So war die ukrainische Luftverteidigung wehrlos. In Charkiw wurden der Fernsehturm und damit die Kommunikation insgesamt, die Stromversorgung, ein Baumarkt zur besten Einkaufszeit, die größte Druckerei des Landes bombardiert. Die Ukraine erhält aus dem Westen erhebliche militärische Unterstützung. Aber zu oft erfolgt sie noch zu zögerlich und langsam. Die Wiederherstellung der territorialen Integrität, die Rückgewinnung von Frieden und Sicherheit in der Ukraine und damit in Europa braucht Überlebenshilfe mit Konsequenz!
Nach mir werben eine Ukrainerin und ein Ukrainer vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen vehement für eine verlässliche Ukraine-Solidarität. Yaroslaw aus der Region Luhansk (Ostukraine) erinnert daran, wie schnell man im Jahr 2014 kurz nach dem Kriegsbeginn und der Krimannexion in großen Teilen der ukrainischen Gesellschaft (Anm. W.N.: und im Westen sowieso) zum „normalen“ Leben zurückgekehrt sei.
Nach dem kräftigen Singen der ukrainischen Nationalhymne werden die Schilder, Puppen, Spielzeuge, Kerzen, Blumen und die Fototafel auf der Rathaustreppe zu einer kleinen Gedenkstätte gestaltet. Links neben der Rathaustür haben – nach ihrem Selbstverständnis – „Friedensbewegte“ zwischen Topfblumen ihre Botschaften hinterlassen:
– „Nie wieder Krieg / Waffenstilstand in der Ukraine und in Gaza / Stoppt die Waffenlieferungen / Give Peace a Chance“;
– „Diplomatie statt Kriegsspiele der Bundeswehr / Friedensverhandlungen und Waffenstillstand – sofort – / Aufhebung aller Sanktionen gegen Russland, sie schaden Deutschland! FRIEDEN“
Darunter ein Foto von einem Kind mit verbranntem Gesicht. Die Unterzeile: „Zweijähriges Kind nach dem russischen Raketenangriff auf das grö0ßte Kinderkrankenhaus Ohmatdyt in er Ukraine, Kyiw, 8.07.2024
Die Realität der zahllosen und oft völlig wehrlosen Opfer des russischen Angriffskrieges, einer Distanzkriegführung mit regelmäßigen Kriegsverbrechen scheint solche Art von Friedensbewegten nicht zu interessieren, geschweige zu bewegen. Zu den Angriffen vom 8. Juli, den Angriffen auf Charkiw, auf Odessa, die Sprengung des Kachowka-Staudammes vor einem Jahr – gab es dazu aus deren Reihen irgendwas an Protesten?
Nachruf vom 12. Juli auf die Ärztin Svitlana Lukgyanchik, die bei dem Raketenangriff auf die Kinderklinik getötet wurde https://www.facebook.com/ndslohmatdyt/ )
Ewige Erinnerung an unsere tote Ärztin Svitlana Lukgyâncik. Die Mitarbeiter des Krankenhauses „ohmatdit“ drückt den Angehörigen und Freunden unseres Kollegen ihr Beileid aus
Gestern wird für immer ein Zeichen im Leben von Ohmatdita hinterlassen. Unter all den Schmerzen, Chaos und Schäden haben wir einen irreversiblen Verlust – eine russische Rakete nahm unsere Ärztin Svetlana Lukgyanchik das Leben.
Svitlana wurde in lviv geboren und wuchs ohne Eltern auf. Nach dem Abschluss ihres Studiums an der Bogomolts National Medical University ging sie als Doktor-Nephrologe in der Abteilung für intensive und eferentennoí ̈-Therapie der chronischen Vergiftung von NDSL „Okhmatdit“ an. Dies ist die einzige Abteilung in der Ukraine mit der Möglichkeit eines stationären Aufenthalts, in der Kinder mit chronischer Nierenerkrankung aller Art und Schweregrad behandelt werden. Das war erst gestern Morgen. An diesem Punkt ist es immer noch ruiniert.
Das Abteilungsteam besteht aus 4 Ärzten, sowie einem Transplantationskoordinator, einer Krankenschwester und einem Erzieher. Mit dem Tod des Lichts verlor unser Krankenhaus nicht nur einen Teil des Teams, sondern auch seine Seele. Sie war mitfühlend, freundlich und offen gegenüber Menschen. Wir werden ihre Professionalität und ihren Einsatz vermissen.
Laut Kollegen evakuierte der Arzt zum Zeitpunkt des Aufpralls in die Unterkunft der Dialysekinder. Alle Patienten der Einheit sind glücklicherweise intakt. Svitlana ist jedoch nicht mehr unter uns. Wir werden niemanden vergessen, der in diesem Krieg gestorben ist. Wir werden Svitlana nicht vergessen, die bis zum letzten Moment eine medizinische und menschliche Pflicht erfüllt hat, Leben zu retten.
Wir laden Sie ein, das Gedenken an Svitlana Lukg ân čik zu ehren. Abschied findet am 10. Juli um 14:00 Uhr statt: Lviv, Teatralna Straße 11.
Neben unserem Arzt starb an diesem Tag in Ohmatdít ein Besucher des Krankenhauses. Es gibt auch viele Opfer. Wir sprechen allen unser aufrichtiges Beileid aus
Zum Angriff vom 8. Juli 24
– Putins „Verhandlungsangebot“ zum „nationaler Familienfeiertag“ – Marschflugköper gegen die größte Kinderklinik der Ukraine, 10.07.2024, https://domainhafen.org/2024/07/10/putins-verhandlungsangebot-zum-nationalen-familienfeiertag-marschflugkoerper-gegen-die-groesste-kinderklinik-der-ukraine/ ; Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei , 10. Juli
– Rede bei der Kundgebung zum 32. Tag der Unabhängigkeit der Ukraine am 24.08.2023 in Münster, www.domainhafen.org
Rede bei der Solidaritätskundgebung mit der Ukraine am 1. Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine vor dem Historischen Rathaus Münster, 24.02.2023, auch in Ukrainisch, www.domainhafen.org
– Rede bei der Kundgebung „Für Frieden und gegen die russische Aggression in der Ukraine“ am 25.02.2022 vor dem Historischen Rathaus in Münster, https://domainhafen.org/2022/02/25/166/