Die Militäretats der NATO-Länder betragen ein Vielfaches des russischen. Beitrag zum genauer Hinsehen.
Vergleich von Militärausgaben: Ist die NATO Russland vielfach überlegen? Winfried Nachtwei, 22.06.2024
Auf einer Debattenliste in Münster wurde folgenden Problematik angesprochen und um Klärung gebeten.
„Ich würde das gern einmal verstehen: Die Rüstungsausgaben wurden und werden durchweg in der Nato extrem hochgefahren, auch in Deutschland. https://taz.de/Rekordquoten-bei-der-Nato/!6014713/
Begründet wird das mit dem Krieg in der Ukraine. Also die „Konkurrenz“ ist Russland.
Die Nato wird in 2024 voraussichtlich 1,4 Billionen Euro für Rüstung und Militär ausgeben (=1400 Milliarden). Demgegenüber werden für Russland selten Zahlen genannt. Es heisst aber, Russland erhöhe gerade die Militär- und Rüstungsausgaben auf 6% des BIP. Das BIP von Russland wird für 2024 auf ca. 2 Billionen Dollar geschätzt. (Halb so viel wie Deutschland).6% sind 60 Milliarden Dollar, wären 56 Milliarden Euro. Lass es 60 Milliarden Euro sein.
Deutschland wird dieses Jahr schon alleine 90 Milliarden Euro dafür ausgeben. Deutschland wird permanent als militärisches Sorgenkind dargestellt, das sich unmöglich selbst verteidigen könnte. Russland hingegen ist der scheinbar unschlagbare Aggressor, mit überlegenen Mengen an Waffen, der eine Kriegswirtschaft betreibt.
Wie passen diese Zahlen zusammen?
Wieso kann eine Nato, die 2024 ca 23 Mal so viel in Rüstungsindustrie steckt mit diesem – im Vergleich – militärischen Zwerg Russland nicht im Handumdrehen fertig werden? Ich hab jetzt nicht die Zahlen für die letzten Jahre. (Und entschuldigt, dass ich nicht für jede Zahl eine Quelle angebe, ist mir gerade zu mühsam, aber es waren seriöse Quellen) Aber selbst wenn die Ausgaben der Nato da nur bei der Hälfte lagen, wäre es immer noch eine mindestens 12-fache Überlegenheit der Nato.
Ja, Russland hat Atomwaffen und wir wollen nicht, dass die zum Einsatz kommen. Aber es vergeht kaum ein Artikel, in dem Russland nicht als bis an die Zähne konventionell bewaffnet dargestellt wird, als eine Wirtschaft, in der Tag und Nacht fast nur noch Waffen produziert werden. Im Vergleich zur Nato ist das jedoch ein Witz! Ich fange ehrlich gesagt, wenn ich mir das betrachte, an, an der Objektivität der Berichterstattung zu zweifeln.
Und auch daran, dass wir die Ukraine nicht mit Lichtgeschwindigkeit retten könnten, wenn wir es wollten. Erklärt mir bitte, warum ich falsch liege. Wo ist der Fehler? Warum brauchen wir diese gigantische Aufrüstung?
Meine Stellungnahme
Danke für Deine Fragen, die angesichts der enormen Unterschiede zwischen den Militäraus-gaben der NATO und Russlands auf der Hand liegen und in der Tat sehr irritieren. Ich will versuchen etwas zur Klärung beizutragen.
Zum quantitativen Vergleich der Militärausgaben
Richtig ist, dass die 32 NATO-Länder 2023 1.300 Mrd. US-Dollar für Militär ausgaben (von 2,3 Billionen weltweit). Russland kam lt. SIPRI / Statista auf geschätzte 109,5 Mrd. (ohne nicht einsehbare Schattenhaushalte). Das wäre ein Verhältnis grob von 12 : 1. Im gerade erschienen Friedensgutachten 2024 von vier deutschen Friedensforschungsinstituten heißt es: „Je nach Vergleichsmethode betragen die finanziellen Aufwendungen (für das Militär) das Zwei- bis Vierfache der russischen Ausgaben.“ (S. 95) Der Appell „Nein zum Krieg“ vom März 2022 (Gregor Gysi, Margot Käßmann und Zehntausende Unterstützer:innen) sprach davon, „die Verteidigungsausgaben“ der NATO würden die Russlands um „fast das Zwanzig-fache“ übersteigen. Was davon der Wirklichkeit am nächsten kommt, kann ich in der Kürze der Zeit nicht klären.
Um den Vergleich der Militärausgaben realitätsnäher zu machen, müssten zuerst die Kaufkraftunterschiede einberechnet werden. In der taz vom 28.03.2022 ( https://taz.de/Studie-zu-Verteidigungsbudgets/!5844174/ ) zitiert Tobias Schulze eine Kurzstudie des Bonner Konversionszentrums BICC und den australischen Politikwissenschaftler Peter Robertson, die das taten. Robertson kam zu dem Ergebnis, das der russische, nominell bei 65 Mr. $ liegende Militäretat kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. liegen würde – der der NATO somit noch beim Sechsfachen des russischen Militäretats, der der europäischen NATO-Mitglieder beim Zweifachen.
Zum Vergleich der Fähigkeiten und Kräfte
Von den Militäretats geht ein beträchtlicher Teil in Personalausgaben, ein kleinerer Teil in Ausrüstung und Waffen: Bei der Bundeswehr gingen 2017 / 2021 49/39,1 % ins Personal, 12,2/19,9 % in Ausrüstung, 4,2/3,6 % in Infrastruktur, 35/37,4 % in Sonstiges.
Bei den russischen Streitkräften ist die Masse der Soldaten billig, nichts „wert“; in der Ukraine werden sie ohne Rücksicht auf Verluste verheizt. Überdies schwankt die Soldhöhe mit der Rekrutierungsregion: je näher an St. Petersburg und Moskau, desto höher, Soldaten aus etlichen besonders entfernten und armen Regionen erhalten gar keinen Monatssold.
Die Kosten von Waffensystemen und Ausrüstung: Der Angriffskrieg gegen die Ukraine offenbarte, dass die russischen Streitkräfte viel schlechter ausgerüstet waren – und noch sind -, als es bis dahin den Anschein hatte: Laut Schätzung von Fachleuten setzte Russland an der Front Material ein, das zu drei Vierteln aus alten Beständen stammt, darunter auch notdürftig modernisierte Panzer aus den Fünfzigerjahren. („Moskaus stotternde Kriegsmaschine“ von Katharina Wagner, FAZ 19.06.2024) „Die Bomben funktionierten zwar in dem Sinne, dass sie irgendwo in der Ukraine niedergingen. Aber die Schläge seien nicht präzise. Ein SIPRI-Experte: „Sie treffen irgendetwas, und das ist ausreichend für Russland.“
Seit der am 10. März begonnenen Offensive im Raum Charkiw werden im großen Stil „Gleitbomben“ eingesetzt. Sie können leicht aus freifallenden Bomben umgerüstet werden, sind relativ billig und richten mit ihren 250-1.500 kg Sprengstoff schwerste Schäden an. Ihr Einsatz ist besonders tückisch und zerstörerisch, weil sie von russischen Kampfflugzeugen aus bis zu 70 km Entfernung von jenseits der Grenze abgeworfen werden.
Kurzstreckenraketen und Drohnen mit einfacher Technik werden billig vor allem vom Iran produziert und massenhaft in der Ukraine wie gegen Israel eingesetzt. Die Abwehr von Quassam-Kurzstreckenraketen (bis 24 km, einige 100 $ Produktionskosten) oder der Shaheed-136-Drohne (bis 2.500 km, 20.000 $) ist oft nur mit teuren Abfangraketen möglich. Die Tamir-Raketen des israelischen Iron-Dome-Systems kosten um 100.000 $, ein Schuss mit einer Patriot kostet vier Mio. $.
Weil bei den Armeen der NATO-Mitglieder der Schutz der eigenen Soldaten und die Präzision der eigenen Waffenwirkungen einen ganz anderen Stellenwert haben als bei den russischen Streitkräften, sind ihre Ausrüstung und Waffensysteme auch enorm viel teurer. Im Fall der Bundeswehr schlug sich das auch in einem Sanitätswesen nieder, das es seinesgleichen in Europa nicht nochmal gibt. Auf Seiten der russischen Streitkräfte soll das Sanitätswesen erst beim Offizier anfangen. Die einfacheren Dienstgrade lasse man sterben, wie ich bei einer Unterrichtung durch einen hohen deutschen Sanitätsoffizier erfuhr, der tiefe Einblicke an die Lage an der Front hat.
Die Kosten der westlichen (Aus-)Rüstung werden zusätzlich dadurch angeheizt, dass die Rüstungsproduktion der europäischen NATO-Länder verzettelt ist und für dieselben Zwecke konkurrierende und umso teurere Waffensysteme entwickelt werden. In Deutschland kommt noch das bürokratisierte und schwerfällige Beschaffungswesen hinzu.
Kräftestrukturen
Seit Ende des Ost-West-Konfliktes und den Balkankriegen in den 1990er Jahren wurden die europäischen NATO-Streitkräfte auf sog. Kriseneinsätze umgebaut und umgerüstet. Vor dem Hintergrund einer auch von mir mitgetragenen Naivität, wir seien in Europa jetzt dauerhaft von Verbündeten und Freunden umgeben, Aggressionen seien nicht mehr möglich, wurden die Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung so umfassend abgerüstet, wie es sowas in Friedenszeiten kaum mal gegeben hat.
Stand 2022, Beispiel Bundeswehr: Die Zahl der Kampfpanzer sank von Ende der 1980er Jahre 4.500 auf 225 (z.T. einsatzbereit), der Schützenpanzer von 2.136 auf 726, die Zahl der Kampfflugzeuge von 620 auf 230, der Schiffe von 190 auf 60. Die Luftverteidigung wurde weitgehend ausgedünnt. Die Artillerietruppe umfasste 42.000 Soldaten in 81 voll ausgestatteten Artilleriebataillonen, heute sind es noch vier mit 3.500 Soldaten. Die heute noch acht Brigaden (je 5.000 Soldaten) des Heeres sind seit Minister de Maiziere nur zu 70% ausgestattet – und damit nur nach langwieriger Ausrüstungs“fernleihe“, nie aus dem Stand einsatzfähig. Die Vollausstattung einer Brigade kostet 3,5 Mrd. Euro.
Mit anderen Worten: Die Bundeswehr war bisher einsatzfähig zur Beteiligung an Kriseneinsätzen im VN-Auftrag. Sie ist aber zzt. nur zu kleineren Teilen fähig zur Beteiligung an der NATO-Vorne-Präsenz im Baltikum. Sie ist zzt. nicht verteidigungsfähig im Rahmen des durch Art. 87a vorgegebenen Verteidigungsauftrages. Das gilt genauso und z.T noch mehr für die anderen europäischen Verbündeten.
Die „Zeitenwende“ hat mehrere Dimensionen
(a) Die Dimension des Angriffskrieges: Die Tatsache des unprovozierten Angriffskrieges der VN-Vetomacht und zweiten atomaren Weltmacht gegen das europäische Nachbarland Ukraine mit der erklärten Absicht, ihre Eigenstaatlichkeit und Kultur zu vernichten, also auch Grenzen zu verschieben, bricht die ersten fundamentalen Prinzipien der VN-Charta (Achtung der territorialen Unversehrtheit + politischen Unabhängigkeit, zwischenstaatliches Gewaltverbot). Insofern übertrefft der jetzige russische Völkerrechtsbruch noch den Völkerrechtsbruch des US-geführten, auf Regimechange zielenden Angriffskrieges gegen den Irak von 2003.
Der Angriffskrieg wird mit Bodentruppen zzt. rund 500.000 in der Ukraine), mit Distanzwaffen und dem systematischen Beschuss von ziviler Infrastruktur, Wohnvierteln, Energieversorgung und Kulturdenkmälern geführt unter flächendeckendem Bruch des humanitären Völkerrechts. (vgl. „Schaut auf Charkiw!“ auf https://domainhafen.org/2024/05/16/schaut-auf-charkiw-seit-27-monaten-unter-beschuss-jetzt-schutzlos-gegen-gleitbomben-von-jenseits-der-grenze/ und www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Präsident Putin hat immer wieder deutlich gemacht, dass seine Politik auf die Wiederherstellung des früheren großrussischen Imperiums zielt, also auch auf die „Eingemeindung“ früherer Gebiete des Sowjetimperiums. Mit anderen Worten: Es geht um die Rückgewinnung eines über Jahrhunderte gewachsenen Kolonialreiches. Nachdem im 20. Jahrhundert der Zerfall der Kolonialreiche unumkehrbar war, versucht jetzt erstmalig eine Imperialmacht, souverän gewordene Reichsteile gewaltsam zurückzuholen. Dieser Sonderweg eines revanchistischen Imperialismus wird betrieben unter der Deckung des eigenen Nuklearschirms. Das ist ein Novum in der Geschichte des Imperialismus und erschwert eine wirksame Eindämmungspolitik.
Das demokratische Europa ist als Feind markiert und wird im Informations- und Cyberraum zunehmend attackiert. Dabei setzt Putin auf willige rechtspopulistische und -extreme Kräfte und Parteien als Verbündete.
(b) Beistand zur Selbstverteidigung: Die Selbstverteidigung der Ukraine ist ihr laut VN-Charta „naturgegebenes“ Völkerrecht. Die Überfallenen beizustehen, ist eine sich aus dem Geist der VN-Charta und der kollektiven Sicherheit ergebene Grundpflicht und nicht weniger als Überlebenshilfe. Diese wie BSW und AfD zu verweigern, würde weitere Aggressoren beflügeln und dem Recht des Stärkeren den Teppich ausrollen.
Dieser Beistand wurde viel geschlossener und umfangreicher geleistet, als anfangs zu erwarten war. Er war zugleich zu langsam und zu zögerlich. Das hatte politische, aber auch erhebliche strukturelle Gründe: Denn wie oben angedeutet sind die Bestände an Waffen und Munition, die die ukrainischen Verteidiger brauchen, vor allem bei den europäischen Verbündeten Mangelware. Eine privatwirtschaftlich organisierte Rüstungswirtschaft kann die Produktion nicht aus dem Stand hochfahren, die Produktion von High-Tech-Panzern, Flugabwehrsystemen braucht Jahre.
Die Bundesregierung stellte der Ukraine seit 2022 Militärhilfe in der Höhe von 28 Mrd. Euro zur Verfügung bzw. für die nächsten Jahre bereit. Aus Bundeswehrbeständen wurden Rüstungsgüte für 5,2 Mrd. geliefert.
Der militärische Beistand hat zugleich klare Grenzen: Deutschland wie die NATO dürfen nicht zur Kriegspartei im völkerrechtlichen Sinne werden. Der Krieg in der Ukraine darf nicht zu einem Krieg zwischen NATO und Russland eskalieren.
Insofern sind schon Fragen (in anderen Beiträgen auf der Debattenliste) wie „die NATO könnte Russland militärisch so angreifen (…), dass Russland verliert“; „wieso kann eine NATO (…) mit diesem – im Vergleich – militärischen Zwerg Russland nicht im Handumdrehen fertig werden?“ völlig abwegig. Solche „Optionen“ wären krass völkerrechtswidrig und der Türöffner zum nuklearen Inferno.
Auch wenn die russische Terrorkriegführung und Politik keine Funken an tatsächlicher Dialogbereitschaft erkennen lassen, ist es die Grundpflicht auch deutscher Außenpolitik ständig zu sondieren und nach Gesprächsfäden und diplomatischen Ansätzen zu suchen. Bei solcher Art von Konflikten geht das nur hinter den Kulissen.
(c) Wiederherstellung der Fähigkeit zur Landes-/Bündnisverteidigung: Die gigantische Summe von 100 Mrd. Euro des „Sondervermögens Bundeswehr“ dient NICHT dem aktuellen militärischen Beistand für die Ukraine, sondern der Vollausstattung der Bundeswehr in einer Weise, dass sie ihren Kernauftrag Verteidigungsfähigkeit als Voraussetzung glaubwürdiger Abschreckung als Voraussetzung wirksamer Friedenssicherung angesichts realer Bedrohungen der europäischen Sicherheit zunehmend erfüllen kann.
Es ist äußerst bedauerlich, dass solche Riesensummen jetzt in militärische Ausrüstung und Verteidigungsfähigkeit gehen. Aber es ist für den Bestand der freiheitlichen Ordnung und Friedenssicherung in Europa unumgänglich, erst recht, wenn die Präsidentschaftswahl in den USA demnächst zum Schlimmeren ausgehen.
Geschrieben am 22. Juni 2024, dem 83. Jahrestag des Beginns des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion: Damals fielen über drei Millionen Wehrmachtssoldaten in die Sowjetunion ein, davon eine Million in das Gebiet der Ukraine. Vorne dabei die 16. Panzerdivision aus dem Raum Münster, die 14 Monate in der Ukraine wütete. Im kollektiven Gedächnis sehr vieler Menschen in der Ukraine, in Mittelost- und Osteuropa hat sich eingebrannt, was Okkupation bedeuten kann.
Nazi-Deutschland konnte der Reihe nach die europäischen Nachbarn überfallen und im Osten einen beispiellosen Vernichtungskrieg führen, weil diese das in Deutschland aufwachsende Bedrohungspotenzial nicht rechtzeitig wahrnahmen, weil sie zum falschen Zeitpunkt noch auf Abrüstung und Verhandlungen setzten, weil sie wehrlos und vereinzelt/allein waren.