Zum 3. Jahrestag: KOLLEKTIVES FÜHRUNGSVERSAGEN – Was die Politik aus 20 Jahren Afghanistaneinsatz lernen sollte

Artikel in „Blätter für deutsche + internationale Politik 8/2024

Kollektives Führungsversagen – Was die Politik aus 20 Jahren Afghanistaneinsatz lernen sollte. Von Winfried Nachtwei (veröffentlicht in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 8/2024, S. 85-92, https://www.blaetter.de/ausgabe/2024/august/kollektives-fuehrungsversagen , dazu Podcast auf https://www.blaetter.de/podcast mit Karin Gothe ab 35:00 Min.)

Fast zwei Jahrzehnte lang war Afghanistan ein Schwerpunktland deutscher Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Dort fand der größte, teuerste und opferreichste deutsche Krisen- und Kriegseinsatz statt. Vor drei Jahren mündete der multinationale Einsatz in ein politisch-moralisches Desaster – ausgelöst durch die unilaterale Entscheidung der USA, die den bedingungslosen Abzug anordneten. Überhastet verließen die letzten deutschen Soldaten bereits am 30. Juni 2021 das Land am Hindukusch, die letzten US-Truppen Ende August. Seither herrscht in Kabul wieder eine Talibanregierung – mit verheerenden Auswirkungen vor allem auf Frauen und Mädchen. Einseitig und radikal brachen die westlichen Staaten mit ihrem Abzug mit dem Grundprinzip der Verlässlichkeit unter Nato-Verbündeten – aber gerade auch gegenüber ihren afghanischen Partnern und Ortskräften. Im Stich gelassen wurden insbesondere die Afghaninnen und Afghanen, die das Demokratie- und Menschenrechtsversprechen der westlichen Staaten ernst genommen hatten.

Im Juli 2022 beschloss der Bundestag die Einsetzung der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“. Die je zwölf Bundestagsabgeordneten und Sachverständigen – darunter auch ich – sollten die Gründe für das Scheitern analysieren und Empfehlungen für künftige deutsche Beteiligungen an multinationalen zivil-militärischen Kriseneinsätzen formulieren. Im Februar 2024 legte die Kommission ihren Zwischenbericht vor, im März 2025 sollen die Empfehlungen folgen. Die Enquete-Kommission ist damit die erste Institution, die eine umfassende Wirkungsanalyse des über 20 Jahre währenden Einsatzes vorlegt. Solange dieser noch lief, hatten sich die wechselnden Bundesregierungen und Koalitionsmehrheiten immer wieder geweigert, eine solche Analyse in Auftrag zu geben. Ausdrücklich hat die Enquete-Kommission auch die politisch-strategische Ebene der Auftraggeber Bundesregierung und Bundestag in den Blick genommen. Sie untersuchte die gesamte zivil-militärisch-polizeiliche Breite des Engagements und überwand damit die in der Öffentlichkeit verbreitete und verkürzte Wahrnehmung von der Afghanistanmission als einem fast nur militärischen Einsatz. Entgegen mancher Befürchtung bewies die Kommission innere Unabhängigkeit und die Fähigkeit zu einem differenzierten und auch selbstkritischen Urteil. Dass keine aktiven Abgeordneten mit Afghanistanerfahrung in der Kommission mitarbeiteten, erschwerte einerseits die Arbeit. Andererseits erleichterte dieser Umstand es der Kommission, sich ein unabhängiges Urteil zu bilden.

In der Rückschau zeigte sich zwar, dass der Einsatz das Terrornetzwerk Al Qaida schwächen konnte; ob dadurch Anschläge in Deutschland verhindert werden konnten, bleibt aber Spekulation. Fest steht dagegen: Eine nachhaltige Bekämpfung des internationalen Terrorismus gelang nicht. Teilweise wurde dieser durch unterschiedslose und exzessive Antiterroroperationen noch beflügelt. So entfielen 2019 41 Prozent aller Terrortoten weltweit auf Afghanistan.[1] Auch die Ausbreitung der Terrororganisation „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ in Afghanistan, Pakistan und Südasien seit 2021 ist beunruhigend. Damit wurde das primäre Ziel der Nato, im UN-Auftrag zu einem sicheren Umfeld und zur Stabilisierung des Landes beizutragen, trotz Anfangserfolgen klar verfehlt: Seit 2002 starben über 67 000 afghanische Soldaten und Polizisten, ebenso wie weit über 47 000 Zivilisten im Kontext des bewaffneten Konflikts.[2] Angesichts dieser Zahlen kann wohl kaum von Sicherheit und Stabilität die Rede sein.

Die Bilanz bei Aufbau und Entwicklung wiederum fällt gemischt aus: Kleinere, lokal eingebettete Projekte zur Basisversorgung in den Bereichen Gesundheit, Grundbildung und Infrastruktur waren am effektivsten und nachhaltigsten. Stabilisierungsmaßnahmen hingegen trugen nicht zur Verringerung der Gewalt und zu effizienteren Verwaltungsstrukturen bei. Die meisten der ehrgeizigen, mit kulturellem Wandel verbundenen Ziele wie der Aufbau verlässlicher Institutionen, das Erreichen von Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Entwicklung und Geschlechtergerechtigkeit wurden verfehlt. Exzessive Korruption und Klientelismus unterhöhlten den Staatsaufbau. Und die schlechte Regierungsführung gilt als ein wichtiger Faktor, der den Taliban Anhänger zutrieb.

Selbst wenn man wie die Enquete-Kommission die grundsätzlichen Intentionen des UN-legitimierten Afghanistaneinsatzes nicht infrage stellt, muss man festhalten, dass sich schon nach wenigen Jahren auch unter Befürwortern und Einsatzpraktikern die Warnungen vor einem möglichen Scheitern häuften. Die Gründe des strategischen Scheiterns offenbarten sich also nicht überraschend am Einsatzende. Vielmehr benannten Insider und Beobachter schon früh immer wieder wesentliche Fehler und Fehlentwicklungen. Die politisch Verantwortlichen haben diese Warnungen aber beharrlich ignoriert.

In der Gesamtschau lassen sich sechs Gründe auf der Seite der intervenierenden Staaten benennen, die für das strategische Scheitern ausschlaggebend waren – mit unterschiedlichen Anteilen der beteiligten Länder:

Erstens zählt dazu ein mangelhaftes Kontext- und Konfliktverständnis: Vor allem die Leitungsebenen zeigten große Unkenntnis und großes Unverständnis für die afghanische Gesellschaft in ihrer Breite, Geschichte, Kultur und ihren Konflikten. Das „Bonner Übereinkommen“ vom Dezember 2001 proklamierte die „Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen“ in einer Gesellschaft, die vor allem durch starke Personen, deren Beziehungen und informelle Machtstrukturen geprägt war.

Kulturelle Überheblichkeit und Wunschdenken führten dazu, dass die Verantwortlichen die eigenen Wirkungsmöglichkeiten in dem hochkomplexen, schwer durchschaubaren afghanischen Umfeld überschätzten und massiv unterschätzen, wie schwierig die Terror- und Aufstandsbekämpfung bei gleichzeitigem Institutionenaufbau sein würde. Eine Hybris militärischer Stärke seitens der größten Militärmacht der Welt und technokratische Machbarkeitsillusionen bei denjenigen, die auf eine gesellschaftlich-politische Stabilisierung setzten, wirkten hier zusammen. Zwar betonte die Bundesregierung, dass sie den Unterstützungsansatz verfolge und der afghanischen Gesellschaft nichts überstülpen wolle. In der Praxis wurden trotzdem westliche Modernisierungsansätze importiert, ohne dass ausreichend an die lokalen Lebenswelten angeknüpft worden wäre. So nahmen Politiker, Institutionen und Organisationen viel zu wenig zur Kenntnis, dass mehr als drei Viertel der afghanischen Bevölkerung auf dem Land leben, und orientierten sich vorwiegend am städtischen Afghanistan. Besucher aus Deutschland kamen am ehesten mit städtischen Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft in Kontakt, fast nie mit der ländlichen Bevölkerung.

Strategiemangel und strategischer Dissens

Zweitens mangelte es an einer gemeinsamen Strategie der intervenierenden Akteure. Weder die Führungsmacht USA noch wichtige Verbündete, geschweige denn die Staatengemeinschaft insgesamt entwickelten eine kohärente Strategie, mit deren Hilfe strategische Ziele planvoll über einen längerfristigen Zeithorizont auf politischen, militärischen und zivilen Handlungsfeldern mit den notwendigen Mitteln hätten verfolgt werden können. Ein tiefer Dissens bestand zwischen dem auf US-Seite dominierenden Ansatz des internationalen war on terror – oft jenseits des humanitären Völkerrechts – verbunden mit dem Postulat, die afghanische Aufstandsbewegung militärisch zu besiegen, und dem bei der UNO sowie etlichen europäischen Verbündeten, darunter Deutschland, vorherrschenden Ansatz von Stabilisierung, Staatsaufbau und Entwicklung mit dem Ziel der Terrorprophylaxe.

Doch es war nicht nur dieser innere Dissens, der den Anspruch der Staatengemeinschaft, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern, konterkarierte und ihn unglaubwürdig erscheinen ließ. Dazu trug auch die „Partnerauswahl“ bei. Dabei bevorzugten die Interventen überwiegend Machthaber und Warlords, die weitgehend korrupt agierten und zum Teil für Kriegsverbrechen verantwortlich waren. Und auch im militärischen Agieren selbst offenbarte sich eine strategische Kurzsichtigkeit: So verschaffte die schnelle Schwerpunktverlagerung des US-Engagements mit dem Beginn des Irakkriegs den Taliban Raum zur Reorganisation.

Drittens handelten viele innerhalb der Regierungen der Verbündeten – so auch in Deutschland – nicht primär, um die proklamierten sicherheitspolitischen Ziele wie Eindämmung internationaler Terrornetzwerke, Stabilisierung und Institutionenaufbau zu erreichen. Vielmehr war das ausschlaggebende Motiv die Bündnisloyalität gegenüber den USA. Hinter dieses Primärinteresse trat eine konsequente Wirkungsorientierung zurück. Vielen Beobachtern drängte sich der Eindruck auf, dass bündnis- und innenpolitische Erwägungen auf höchster Regierungsebene eine schonungslose Realitätswahrnehmung behinderten, die eine Zustimmung des Parlaments zum Bundeswehreinsatz hätte aufs Spiel setzen können. Unter dem Primat der Bündnisloyalität wurde das heikle Dilemma hingenommen, einerseits von den USA gerade in kritischen Situationen abhängig zu sein, und andererseits deren Politik und Operationsweise mitzutragen, die man selbst in Teilen als ausgesprochen kontraproduktiv und nicht selten sogar als völkerrechtswidrig einschätzte.

Viertens dominierte bei vielen Verbündeten, so auch in Deutschland, ein Tunnelblick auf den eigenen Verantwortungsbereich und Kabul. Was in anderen Landesteilen wie etwa den intensiven Kriegszonen im Süden geschah, blendete man weitgehend aus. Vor Ort in Kunduz und Mazar gewannen die Obleute des Verteidigungsausschusses – zu denen ich von 1994 bis 2009 gehörte –, noch am ehesten realistische Lagebilder. Nach oben hin aber verdichteten sich Strukturen und Mechanismen der Schönfärberei, befördert durch eine mangelnde Fehlerkultur und Karrieredenken einerseits sowie politischen Erwartungsdruck und notorisch verweigerte Wirkungsanalysen andererseits. Die „Afghanistan Papers“ von Craig Whitlock, dem preisgekrönten Reporter der „Washington Post“[3], offenbarten auf Basis von über tausend vertraulichen Interviews mit Offizieren, Diplomaten und weiteren Experten die völlige Ahnungslosigkeit von Topdiplomaten und Spitzenmilitärs hinsichtlich des Afghanistaneinsatzes. Die Wahrheit über die Erfolglosigkeit am Boden sei immer wieder benannt, aber abgekanzelt und durch ein „Gebräu von Schönfärberei, wolkigen Erfindungen und dreisten Lügen“ übertüncht worden.[4] Anhaltspunkte für dreiste Lügen der Bundesregierung sind mir während meiner Langzeitbeobachtung des Einsatzes und in der Enquete-Kommission zwar nicht begegnet, aber Schönfärberei und Wegsehen waren auch in Deutschland verbreitet.

Fünftens fehlte es an Ansätzen der politischen Konfliktlösung und gesellschaftlichen Friedensförderung. Besonders kurzsichtig war es, insbesondere von den USA, viel zu lange Vereinbarungen mit den nationalorientierten und nicht dem globalen Dschihadismus verpflichteten Taliban zu blockieren. Sie bedienten sich zwar terroristischer Methoden, waren aber auch eine soziale Bewegung. Verhandlungen nahmen die USA – und dann im Alleingang – erst auf, als die strategische Überlegenheit der Taliban bereits offenkundig war und man möglichst gesichtswahrend nur noch „raus“ wollte.

Auf dem Feld gesellschaftlicher Friedensförderung von unten etablierte die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Afghanistan zwar das umfassendste Landesprogramm des deutschen Zivilen Friedensdienstes (ZFD), der in seiner Art international einmalig ist. Fachkräfte des Dienstes konnten in Kooperation mit örtlichen NGOs zur Konfliktschlichtung auf der lokalen Mikroebene beitragen. Potenziale für eine systematische Friedensförderung wurden aber nicht genutzt. Beziehungen wurden primär zu „zugänglichen“ und „nahestehenden“ Reform- und Dialogpartnern aufgebaut, kaum jedoch zu traditionellen und religiösen Multiplikatoren.

»Billig-Peacekeeping«

Schließlich fehlte es, sechstens, an einer realistischen Personal- und Finanzplanung. Deutschland versuchte es zunächst mit einer Art „Billig-Peacekeeping“, sprich: Der Einsatz von Personal und Geld war anfänglich sehr zurückhaltend bemessen und in der militärisch-zivilen Mischung unausgewogen. Als 2007/08 zunehmend Aufständische in den Raum um Kunduz und andere Gebiete einsickerten, erhielten die Bundeswehreinheiten dort erst spät Verstärkung. Eine frühere Aufstockung der Kampftruppe und Bewaffnung hätte die eigene Durchsetzungskraft und den Selbstschutz kräftigen, an der strategischen Überlegenheit der Taliban aber wohl nichts ändern können.

Einen größeren Unterschied hätte dagegen vielleicht mehr Polizeihilfe machen können. Im ersten Einsatzjahrzehnt waren das German Police Project Team (PRT) und die deutsche Diplomatie für ihre Führungsrolle bei der internationalen Polizeihilfe und der Förderung verlässlicher Staatlichkeit personell massiv unterausgestattet. Doch die regelmäßigen Mängelanzeigen der PRT-Kommandeure besaßen für deutsche Medien keinen Nachrichtenwert.

Freilich tragen die entsandten deutschen Soldaten, zivilen Kräfte und Polizisten keine Verantwortung für dieses Scheitern. Sie haben im Rahmen ihres legalen und grundsätzlich sinnvollen, wenn auch zu unklaren Auftrages ihre Aufgaben mit hohem Einsatz, Mut und Professionalität verlässlich erfüllt. Auch militärische Gewalt setzten die Bundeswehrsoldaten insgesamt kontrolliert ein und nahmen bei Gefechten am Boden Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.[5] Das ergaben die Ermittlungen der von mir geleiteten Unabhängigen G36-Kommission, die erstmalig alle Schusswechsel und Gefechte untersucht hat, in die deutsche Soldaten in Afghanistan verwickelt waren. Daher gebührt den nach Afghanistan entsandten Frauen und Männern in Uniform wie in Zivil für ihre Leistungen Anerkennung und den Verwundeten verlässliche Fürsorge.

Das strategische Scheitern war vielmehr ein kollektives politisches Führungsversagen – ein „Gemeinschaftswerk“ der Verantwortlichen in vielen Hauptstädten, angefangen in Washington, Kabul und Islamabad, mehr oder weniger mitgetragen von anderen Hauptstädten, auch Berlin, wo man sich zwar um mehr Bevölkerungsnähe des Einsatzes bemühte, die politische Auseinandersetzung mit den Verbündeten über die strategische Ausrichtung, allen voran mit den USA, aber scheute.

Scheitern als Gemeinschaftswerk

In diesem gemeinschaftlichen Scheitern spielt auch der Deutsche Bundestag eine Rolle. Er war im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen Mitauftraggeber des Einsatzes. Die zentrale Aufgabe einer politisch-strategischen Einsatzkontrolle nahm der Bundestag aber kaum wahr, obwohl ihm dies über seine Fachausschüsse möglich gewesen wäre. Die notwendige Evaluierung der Wirkungen des Einsatzes setzten wechselnde Koalitionsmehrheiten nicht durch. Insofern trägt der Bundestag Mitverantwortung für das deutsche strategische Scheitern in Afghanistan.

Die Enquete-Kommission kam zu dem Ergebnis, dass das deutsche Parlament in seiner jetzigen Aufstellung mit seiner Kontrollfunktion beim Afghanistaneinsatz strukturell überfordert war. Die großen Medien ignorierten diese ungewöhnliche parlamentarische Selbstkritik allerdings in ihrer Berichterstattung – ein bedauerliches Versäumnis, denn es war eine zentrale Aufgabe der Kommission, strukturelle Schwächen aufzudecken. Eine Enquete-Kommission ist kein Untersuchungsausschuss, der nach persönlichen Verantwortlichkeiten für gravierende Fehlentscheidungen sucht. Die Suche nach „Schuldigen“ hätte das Aufdecken von strukturellen Ursachen auch erheblich erschwert. So aber bleiben Verantwortlichkeiten für Fehlentwicklungen und -entscheidungen anonym. Während die Soldaten für den Auftrag ihre Gesundheit und ihr Leben riskierten, stand in der deutschen Politik keine Führungsperson für den Einsatz ein, kein Kanzler, keine Kanzlerin, kein – eigentlich federführender – Außenminister.

Dabei hätten die Fraktionen, ergänzend zur Enquete-Kommission, ihre Afghanistanpolitik selbstkritisch überprüfen können. Diese Chance wurde aber – zumindest bis jetzt – nicht genutzt. Bei der öffentlichen Anhörung der Ministerinnen und Minister für Auswärtiges, Inneres und Entwicklung vor der Kommission gab es keinerlei Selbstkritik. Von der Union, die 16 Jahre die Kanzlerin stellte und das Verteidigungsministerium leitete, von der SPD, die zwölf Jahre die Außenminister stellte, kein Wort des Bedauerns darüber, dass ihre Regierungsmitglieder jede umfassende Wirkungsevaluierung verweigert hatten. So bleibt es vor allem bei der Aufarbeitung der Fehler anderer. Auch ich selbst muss mein damaliges Handeln kritisch hinterfragen. Als sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen bis 2009 beteiligte ich mich daran, den plausiblen Ansatz einer ursachenorientierten Terrorbekämpfung mit überambitionierten Zielen zu überfrachten, und auch ich habe das Gewaltpotenzial in der afghanischen Gesellschaft unterschätzt. Mit meinen relativ frühen Warnungen war ich insgesamt zu leise. Zwar trug ich anhand meiner Materialien zur Sicherheitslage in Afghanistan ab 2007 ein laufend aktualisiertes Datengerüst über den Krieg zusammen.[6] Aber das war nur Papier, keine persönliche Erfahrung. Bei Besuchen überwiegend im Norden und in Kabul begegneten mir durchweg die „Vorzeigeseiten“ des Einsatzes. Trotz aller Kenntnis der verheerenden Kriegssümpfe in Helmand, Kandahar, Kunar und anderen Regionen hat das meine Gesamtwahrnehmung des Einsatzes geschönt und auch bei mir Wunschdenken nicht verhindert.

Erstaunliche Einigkeit, aber auch Lücken

Erstaunlicherweise schaffte es die Enquete-Kommission, einen sehr differenzierten Zwischenbericht zum hochkomplexen Afghanistaneinsatz zu erarbeiten und im Konsens zu verabschieden – eine bemerkenswerte Gemeinschaftsleistung von Abgeordneten, Wissenschaftlern und Erfahrungsträgern des Einsatzes. Selbstverständlich bleibt im Einzelnen Dissens bestehen, etwa beim Themenfeld Sicherheit und Stabilisierung. Kritische Passagen zu Operationsweisen von US-Kräften im Zwischenbericht unterzubringen, erforderte mitunter einen besonderen argumentativen Aufwand. Die Unterwelt der „black operations“ von CIA, anderen Diensten und Söldnergruppen wurde nicht thematisiert. Manchmal drängte sich gar der Eindruck auf, dass das gegnerfixierte Besatzerverhalten bestimmter Verbündeter rücksichtsvoller beurteilt wurde als das eher bevölkerungsorientierte Agieren deutscher und anderer Kräfte.

Auch andere wichtige Aspekte haben es nicht in den Bericht geschafft. So kritisierte der Journalist Emran Feroz in der „taz“ zu Recht, dass nirgendwo die geschätzte Gesamtzahl der Todesopfer des Krieges in Afghanistan genannt wird. Vermutlich sind etwa 240 000 Menschen in dem Krieg gestorben, neben den bereits genannten afghanischen Soldaten und Polizisten sowie den über 47 000 Zivilpersonen, rund 120 000 Taliban und andere Aufständische, über 2440 US-Soldaten, mehr als 3800 ausländische Söldner und Sicherheitskräfte, 1140 andere ausländische Soldaten, 444 humanitäre Helfer und 72 Journalisten.

Auch eine wichtige Information aus einer Anhörung zu den Taliban schaffte es nicht in den Bericht. Eine Sachverständige beschrieb diese dort als „sehr lernfähig“, weil es um ihr Überleben gehe. Angesichts des im Westen verbreiteten Bildes der Taliban als „Steinzeitkrieger“ und der beharrlichen Lernschwäche bis -verweigerung der Interventen auf der politisch-strategischen Ebene eine erhellende Aussage, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Eine weitere Lücke im Bericht offenbarte eine Diskussionsveranstaltung zu „Afghanistan: Frieden ohne Religion?“ Die Kommission hatte die religiöse Dimension nur minimal berücksichtigt. Das hiesige Verständnis von Religion als Privatsache, also vom politischen Prozess zu Trennendes, häufig verbunden mit dem Glauben, Religion sei ein Auslaufmodell, dominierte die Weltsicht der Kommissionsmitglieder. Aus säkularer Arroganz übersahen sie – übersahen wir –, welche Kraft und Dynamiken Religionen weltweit entfalten, und unterschätzten, wie wichtig das volksnahe religiöse Narrativ der Taliban für ihren Sieg war.

Weder Schlussstrich noch Schönfärberei

Der Hauptzweck der Enquete-Kommission ist es, dass die Politik aus den Fehlern und Erfahrungen Lehren für künftige Krisenengagements zieht. Dass dies erreicht wird, ist allerdings längst nicht ausgemacht. Bisherige Enquete-Kommissionen produzierten in der Regel voluminöse Berichtswälzer, die – über den engen Expertenkreis hinaus – eher überforderten als ein Lernen beförderten und häufig in den Ablagen verschwanden. Deshalb muss es das Ziel dieser Kommission sein, die jetzt anstehenden Handlungsempfehlungen so zu formulieren, dass sie nicht in den Schubladen verschwinden. Dieses Risiko ist groß, denn für viele ist es verlockend, die Kommission als Schlussstrich unter die so krachend gescheiterte deutsche Afghanistanpolitik zu begreifen und sich von einer aktiven Afghanistanpolitik zu verabschieden. Daneben gibt es hier und da auch die Tendenz, das konstatierte strategische Scheitern im Nachhinein zu relativieren.

Schon seit dem Abzug der internationalen Schutztruppe ISAF vor zehn Jahren hat sich in der deutschen Öffentlichkeit und auch in der Politik eine Afghanistanmüdigkeit breitgemacht. Das zeigte sich auch daran, dass keine für den Afghanistaneinsatz mitverantwortlichen älteren Abgeordneten in der Enquete-Kommission mitarbeiten, die wertvolles Wissen hätten einbringen können. Die Tatsache, dass sich in der Kommission so viele neuere Abgeordnete auf Afghanistan eingelassen haben, bietet zugleich die Chance, dass daraus ein neues, bleibendes Interesse erwächst. Verbunden mit der Einsicht, dass nach dem strategischen Scheitern des teuersten und opferreichsten deutschen Kriseneinsatzes und dem Verrat an den im Stich gelassenen Verbündeten nicht einfach ein Schlussstrich unter das Kapitel Afghanistan gezogen werden darf – angesichts der gigantischen humanitären Katastrophe und des stillen Massensterbens dort und angesichts des internationalen Sicherheitsrisikos, dass einzelne afghanische Provinzen mehr und mehr zu einem Rückzugsgebiet der afghanischen IS-Filiale werden.

Die Haltung, die Bundesrepublik könne sich bei ihrem künftigen Afghanistanengagement mit bloßer humanitärer Hilfe begnügen, ist sicherheitspolitisch kurzsichtig und mit dem Anspruch einer werte- und interessenorientierten Außenpolitik nicht vereinbar. Vielmehr muss Deutschland gegenüber Afghanistan weiter Verantwortung übernehmen. Dafür ist es unabdingbar, heute in Afghanistan auch unter einer Talibanregierung genauer hinzusehen und hinzuhören. Die Einrichtung eines deutschen Verbindungsbüros in Kabul ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Denn: Aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, darf keinesfalls heißen, sich abzuwenden.

[1] Institute for Economic & Peace, Global Terrorism Index 2020, Sydney 2020, S. 13.

[2] Natalie Weniger, Andrea Spalinger, Patrick Zoll: Die grausame Bilanz des 20-jährigen Krieges in Afghanistan, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 19.8.2021.

[3] Craig Whitlock, Die Afghanistan-Papers: Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg, Berlin 2021.

[4] Bernd Greiner, Operation Desaster, „Süddeutsche Zeitung“, 19.10.2021.

[5] Die Bombardierung von zwei Tanklastern im Jahr 2009 mit zahlreichen zivilen Opfern, darunter auch Kinder, war seitens der Bundeswehr eine Ausnahme und eine menschliche und politische Katastrophe. Im Oktober 2011 legte der Kundus-Untersuchungsausschuss des Bundestages eine umfassende Untersuchung dazu vor, deren Bewertung im Parlament und der Öffentlichkeit strittig blieben. Bundestagsdrucksache 17/7400 vom 25.10.2011, https://dserver.bundestag.de/btd/17/074/1707400.pdf

[6] Die meisten dieser Materialien finden sich mittlerweile online auf nachtwei.de.

 

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