Sehr lange hat die organisierte Friedensbewegung angesichts des russischen Terrorkrieges gegen die Ukraine geschwiegen. Ändert sich das jetzt?
Frieden und Solidarität für und zu wem? Anmerkungen zu einer bundesweiten „Friedens“demonstration“ am 3.10. in Berlin, Winni Nachtwei (30.09.2024)
„NEIN zu Kriegen! Nein zu Krieg und Hochrüstung! Ja zu Frieden und internationaler Solidarität!“ Unter diesen Forderungen ruft ein zehnköpfiges Personenbündnis, in der Mehrzahl BSW-Anhänger:innen, für den 3. Oktober zu einer „bundesweiten Friedensdemon-stration“ in Berlin auf. Der Aufruf geht von folgendem Lagebild aus:
„Die Situation in Europa und Nahost entwickelt sich gefährlich in Richtung Großkrieg. Statt sich für Frieden einzusetzen, liefert der Westen – einschließlich der Bundesregierung – immer mehr Waffen und beschleunigt die Eskalation durch die Erlaubnis, diese auch gegen russisches Gebiet einzusetzen. Atomwaffen werden wieder einsatzfähig gemacht. Die deutsche Regierung rüstet auf wie nie zuvor. Wir alle sollen kriegstüchtig gemacht werden. Eine „neue“ Wehrpflicht droht. Das Geld für die Hochrüstung fehlt bei Krankenhäusern und Pflege, Rente und Sozialleistungen, Bildung und Kitas, Bahn und Nahverkehr. Globale Herausforderungen, die weltweit nur gemeinsam gelöst werden können, um den Generationen, die uns folgen, eine lebenswerte Welt zu erhalten, werden nicht in Angriff genommen.“
Die wesentlichen Forderungen sind:
„Verhandlungen zur sofortigen Beendigung des Krieges in der Ukraine und in Gaza!
– Keine Waffenlieferungen an die Ukraine, Israel und in alle Welt!
Atomwaffen raus aus Deutschland und Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen!
– Keine Modernisierung der Atomwaffen und keine atomare Teilhabe!
Keine Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland!
Friedenserziehung an Schulen und Aufrechterhaltung der Zivilklausel an Universitäten und Hochschulen!
– Keine Bundeswehr an Schulen und keine „neue“ Wehrpflicht!
Recht auf Kriegsdienstverweigerung überall!
– Keine Zwangsrekrutierung!
Abrüstung! Geld in Bildung, Gesundheitswesen, Klimaschutz und Infrastruktur investieren, Sozialstaat ausbauen!
– Keine Milliarden in die Rüstung! (…)“
„Nein zu Krieg und Hochrüstung!“ – Von wem? „Ja zu Frieden und internationaler Solidarität!“ – Für und zu wem?
Die Großkriege in der Ukraine und in Nahost machen völlig zu Recht sehr besorgt. Für Frieden zu demonstrieren, ist deshalb wahrhaftig angebracht. Die Fragen sind nur: Gegen welche Kriegstreiber, für welche Schritte zu welchem Frieden? Wie können Verhandlungen ein München (1938) II vermeiden und einen gerechten Frieden ermöglichen? (Die folgenden Anmerkungen beziehen sich nicht auf den Krieg in Nahost/Gaza/Israel/Libanon, der mit ganzen drei (!) Worten erwähnt wird.)
Der Aufruf schweigt
– zum inzwischen seit 31 Monaten wütenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der auf die Vernichtung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit und Kultur zielt, der systematisch die Zivilbevölkerung terrorisiert und ihre Lebensgrundlagen zerstört, angefangen bei der Energieversorgung;
– zum Leid der zahllosen bombardierten, beschossenen, vertriebenen, Menschen in der Ukraine, den massenhaft Gefolterten, Vergewaltigten und Entführten;
– zum maximalen Völkerrechtsbruch dieses Angriffskrieges, zur Außerkraftsetzung von territorialer Unversehrtheit und nationaler Unabhängigkeit, zur VN-Charta und dem Völkerrecht der nationalen Selbstverteidigung;
– zum vielfach bekräftigten Willen des Putin-Regimes, das großrussische Kolonialreich zurückzugewinnen.
Der Aufruf verweigert
– der Ukraine nicht nur jede Solidarität. Er denunziert die völkerrechtlich legale, ja gebotene Überlebenshilfe für die Überfallenen durch Waffenlieferungen sogar als Eskalationstreiberei.
Der Aufruf suggeriert,
– der Westen und die Bundesregierung seien die Schuldigen an der Eskalation des Krieges in der Ukraine und erwähnt mit keinem Wort, dass einzig und allein Putin den Angriffskrieg und den Bruch der europäischen Friedensordnung verschuldet hat.
Der Aufruf lässt außer Acht
– mit der Forderung nach „Verhandlungen zur sofortigen Beendigung des Krieges in der Ukraine“, dass Putin seit Monaten bekräftigen lässt, dass es keine Verhandlungen gebe, solange die russischen Kriegsziele nicht erreicht wären;
– dass zwischen der Ukraine und Russland nicht eine Art Beziehungskonflikt tobt, sondern dass Russland die jetzige Ukraine vernichten will und sie dafür regelrecht erwürgt und vergewaltigt.
Der Aufruf schweigt
– zur russischen Hochrüstung durch Kriegswirtschaft, wo inzwischen sieben Prozent der Wirtschaftsleistung in den Militärapparat gehen. Das Bemühen der Bundesregierung, die durch eine gravierende Abrüstung seit den 90er Jahren verlorene und mit Art. 87a Grundgesetz verfassungsrechtlich gebotene Verteidigungsfähigkeit wiederherzustellen, wird wahrheitswidrig als eine Hochrüstung „wie nie zuvor“ denunziert.
Wem nutzt eine Demonstration mit einem solchen Aufruf?
Die Einstellung aller Waffenlieferungen an die Ukraine würde die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine schnell schwächen und dem Vormarsch und Sieg der Aggressionstruppen den Weg bereiten. Die Lehre: Aggression lohnt sich! Vorwärts mit dem Recht der Brutalsten!
Der Verzicht auf eine Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands hieße im Klartext, auf kollektive Friedensicherung durch glaubwürdige Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit gegenüber einem imperialistischen Russland zu verzichten. Osteuropäische Verbündete müssen vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen mit sowjetischen Okkupationen, ihrer geografischen Lage und erklärter russischer Absichten begründet befürchten, „als nächste dran zu sein“
Der Aufruf offenbart eine gnadenlose Empathielosigkeit gegenüber terrorisierten europäischen Nachbarn und Ignoranz gegenüber den Grundprinzipien der VN-Charta. Er zielt auf Entsolidarisierung gegenüber der überfallenen Ukraine, auf Wehrlosigkeit gegenüber der russischen Aggression, die im Bündnis mit rechtspopulistischen Kräften schon längst einen hybriden, vor allem Informationskrieg gegen das demokratische Europa führt.
Es liegt auf der Hand, mit wem hier internationale Solidarität propagiert wird. Es liegt auf der Hand, welche Art von Frieden dabei herauskäme.
Glaubwürdige Friedensbewegung – für verantwortliche Friedenspolitik unverzichtbar
Das bleibt meine Grundüberzeugung nach 45-jährigem friedens- und sicherheitspolitischem Engagement. Der Aufruf zum 3. Oktober aber markiert einen Glaubwürdigkeitsabsturz sondergleichen und ist ein weiterer Schritt der Selbstzerstörung von organisierter Friedens-bewegung, der durch Zulauf von BSW- und AfD-Wähler:innen nicht gutzumachen ist.
Ein schwacher Lichtblick ist, dass die DFG-VK als traditionsreichste Friedensorganisation und Pax Christi auf Bundesebene den Aufruf nicht unterstützen. Einige Sozialdemokraten wie MdB Ralf Stegner u.a. beabsichtigen, mit einem eigenen Aufruf friedenspolitisch glaubwürdi-gere Akzente zu setzen.
Zur Erinnerung: Der Aufruf zum 3. Oktober steht für Solidaritätsverweigerung gegenüber einer Bevölkerung, deren Vorfahren ab 1941 einen beispiellosen Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, von Einsatzgruppen und Polizeibataillonen durchleiden mussten. Acht Millionen Menschen, davon fünf Millionen Zivilisten, 1.6 Millionen jüdische Menschen wurden dabei getötet und ermordet, ein Viertel der Bevölkerung. Bei den Generationen in der Ukraine hat sich eingebrannt, was Okkupation bedeutet. In ihr kamen mehr Menschen um`s Leben als bei den Kampfhandlungen! Deshalb wollen die Menschen in der Ukraine – wie in vielen anderen von Nazi-Deutschland überfallenen Ländern – nie mehr wehrlos und nie mehr allein sein. Wer eine besondere historische Verantwortung Deutschlands für Frieden und internationale gemeinsame Sicherheit anerkennt, darf diese Jahre der deutsch-ukrainischen Geschichte nicht ignorieren.
Für die Aufrufer zur Demonstration am 3. Oktober ist der einmütige Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung offenbar keine Beachtung wert. Im Aufruf ist nichts zu spüren von Empathie gegenüber einem Volk mit einer von Nazi-Deutschland verursachten Leidensgeschichte, nichts zu spüren von der linken Tradition einer internationalen Solidarität mit Angegriffenen, Verfolgten, Unterdrückten. Auch das ist eine Art „Schlussstrich“!
Aufrufe und Artikel
Pascal Beucker, Friedensbewegung und Russland: Kein bisschen Frieden, taz 29.09.2024, https://taz.de/Friedensbewegung-und-Russland/!6036589/
DFG-VK, Stellungnahme zur geplanten Demonstration am 3. Oktober 2024 in Berlin, https://dfg-vk.de/stellungnahme-zur-geplanten-demonstration-am-3-oktober-2024-in-berlin/
Kooperation für den Frieden, Aufrufe und Statements zur Demo am 3. Okt. Von Mitgliedern, https://www.koop-frieden.de/artikel-erstellen/aufrufe-und-statements-zur-demo-am-3-okt-von-mitgliedern
„Unser Ziel: Frieden in der Welt!“ Aufruf von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zur Friedensdemonstration am 03.10.2024 in Berlin https://www.blog-der-republik.de/unser-ziel-frieden-in-der-welt/
Aufruf „Nein zu Kriegen“ zum 3. Oktober 2024 in Berlin, https://nie-wieder-krieg.org/
Michael Jäger, Friedensdemo am 3. Oktober: Wolfgang Thierse geht mit Sarah Wagenknecht auf die Straße, der Freitag 24.09.2024, https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/friedensdemo-am-3-oktober-wolfgang-thierse-macht-bei-sahra-wagenknecht-mit
Winfried Nachtwei, Facebook-Posts zum Terrorkrieg gegen die Ukraine und zur Solidarität mit den Überfallenen, 21.07.2024, https://domainhafen.org/2024/07/21/facebook-posts-zum-terrorkrieg-gegen-die-ukraine-zur-solidaritaet-mit-den-ueberfallenen/
W.N., Wider die Geschichtsvergessenheit – Auszüge aus „Mit Hitler reden-“ von Tim Bouverie, 06.04.2023, https://domainhafen.org/2023/04/06/wider-die-geschichtsvergessenheit-auszuege-aus-mit-hitler-reden-von-tom-bouverie/
W.N., „Manifest für Frieden“ von Schweizer und Wagenknecht: Solidaritätsverweigerung gegenüber Überfallenen – mein Kommentar, 23.02.2023, https://domainhafen.org/2023/02/23/manifest-fuer-frieden-von-schwarzer-wagenknecht-solidaritaetsverweigerung-gegenueber-ueberfallenen-mein-kommentar/