beim Dies Academicus anlässlich des 50-jährigen Bestehens der FüAk-Fakultät Politik, Strategie, Gesellschaftswissenschaft und ihrer Vorgängerinnen.
Sicherheitsvorsorge als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Vortrag von Winfried Nachtwei, MdB a.D., beim Dies Academicus zum 50-jährigen Bestehen der Fakultät Politik, Strategie, Gesellschaftswissenschaft (PSGW) und ihrer Vorgängerinnen an der Führungsakademie der Bundeswehr am 12.09.2024
Nach fünf Auftritten als Rollenspieler beim ressortübergreifenden Planspiel an diesem Ort freue ich mich, nun in anderer Rolle zum 50-jährigen Jubiläum der Fakultät Politik, Strategie, Gesellschaftswissenschaften der FüAk mitwirken zu dürfen. Zum Dies Academicus spreche ich nicht aus wissenschaftlicher Perspektive, sondern vor dem Hintergrund inzwischen 45-jähriger kurvenreicher Arbeit auf dem Feld der Friedens- und Sicherheitspolitik.
Meine Ausführungen sind in sieben Teile gegliedert.:
- Friedens- und sicherheitspolitische Schlüsselerfahrungen
- Der Epochenbruch des russischen Angriffskrieges
- Was hat das mit uns zu tun?
- Aspekte der Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit
- Verteidigungsbereitschaft bei Nachbarn im Nordosten
- Erfahrungslernen
- Neues Leitbild „Wehrhafter Frieden“
1. Friedens- und scherheitspolitische Schlüsselerfahrungen
In den 80er Jahren engagierte ich mich im Rahmen der damaligen Friedensbewegung intensiv gegen die geplante „Nachrüstung“, gegen Vorbereitungen auf eine „atomare Heimatverteidigung“ mit Zivilverteidigung und das atomare Hoch- und Wettrüsten. Nach dem regelrechten Wunder der gewaltlosen Auflösung des Sowjetreiches und des Ost-West-Gegensatzes erfüllte sich die Erwartung eines dauerhaften Friedens in Europa nicht. Im Oktober 1996 besuchten wir mit einer Spitzendelegation von Fraktion und Partei das kriegszerstörte Bosnien, einig im Hinblick auf humanitäre und Flüchtlingshilfe, herzlich uneinig im Hinblick auf mögliche Militäreinsätze. Da standen wir nun mit Zeitzeugen am Hang über Sarajevo, am Tatort, von dem über drei Jahre in die belagerte Stadt geschossen worden war, 10.000 Tote, zum großen Teil Zivilisten. In den Medien hatten wir davon immer wieder erfahren. Jetzt wurde für uns Gegner von Out-of-Area-Einsätzen eine unangenehme Erkenntnis zur Gewissheit: Es gibt Situationen, wo zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann. Zugleich sahen wir aber auch unsere Grundeinstellung bekräftigt, dass viel konsequenter in insbesondere zivile Krisenprävention und Gewaltverhütung investiert werden musste.
Fünf Jahre später die Terrorangriffe am 11. September 2001 gegen die USA. Groß war intern die Angst, was jetzt an weiteren Terrorangriffen folgen konnte. Erstmalig standen wir – seit drei Jahren in Regierungsmitverantwortung – in Schutzverantwortung für die eigene Bevölkerung. Umgesetzt wurde sie vor allem mit Militäreinsätzen, die die Terrorgefahr in der Ferne, insbesondere Afghanistan, bekämpfen und auf Abstand halten sollte.
Bei den Einsätzen auf dem Balkan und in Afghanistan kristallisierte sich schnell eine erste Einsatzerfahrung heraus: Keiner schafft`s alleine, kein Land, kein Ressort, kein Akteur. Entsprechend waren die Einsätze multinational und multidimensional, wurden ihre politisch-diplomatischen, militärischen, zivilen und polizeilichen Komponenten vernetzt. Die Öffentlichkeit nahm sie aber überwiegend nur als Militäreinsätze wahr.
Die deutsche Gesellschaft war von diesen Einsätzen nur zu kleineren Teilen betroffen, in Gestalt insbesondere der entsandten Soldatinnen und Soldaten und ihrer Angehörigen aber existentiell. Das gesellschaftliche Interesse an den Einsätzen und den militärischen und polizeilichen Einsatzkräften und Zivilexperten hielt sich sehr in Grenzen.
- Der Epochenbruch des russischen Angriffskrieges
Dass der russische Großangriff 2022 auf die Ukraine völkerrechtswidrig war, wurde auch auf den meisten Ostermärschen zugegeben. Die besondere „Qualität“ dieses Angriffs und Krieges kam aber meist nicht mehr zur Sprache:
– Das offen proklamierte Ziel, die Eigenstaatlichkeit und Kultur der Ukraine zu vernichten.
– Das weitergehende strategische Ziel der Rückgewinnung des großrussischen Kolonialreiches.
– Die Destabilisierung und Spaltung des demokratischen Europas.
– Der Bruch fundamentaler Prinzipien der VN-Charta, angefangen mit dem Grundprinzip der territorialen Unversehrtheit und nationalen Unabhängigkeit, ohne das ein friedliches Zusammenleben von Völkern und Staaten unmöglich ist.
– Die andauernde Blockade des VN-Sicherheitsrates in seiner Primäraufgabe der Wahrung von internationaler Sicherheit und Weltfrieden durch die Veto-Macht Russland.
Die Kriegführung zeichnet sich durch besondere Verachtung des humanitären Völkerrechts aus:[1]
– Neben Artillerie kommen Raketen, Marschflugköper, Drohnen und Gleitbomben so massenhaft zum Einsatz wie nie zuvor. Gegenüber solchen Distanzwaffen ist jede gewaltfreie soziale Verteidigung aussichtslos.
– Systematisch zielen militärische Angriffe auch auf die zivile Infrastruktur, auf Wohngebiete, auf Gesundheitseinrichtungen, auf Kulturdenkmäler, und insbesondere auf die Energie-versorgung. Bisher wurde die Hälfte der Energieversorgung unterbrochen. Im kommenden Winter könnten die Lebensadern weiter Teile der Ukraine zerstört und damit eine Massenflucht der Bevölkerung bewirkt werden.
– Beistand, auch militärischer, für ein überfallenes Land ist nicht nur völkerrechtskonform, sondern ein moralisch-politisches Gebot des Völkerrechts. Erstmalig in der Geschichte setzt ein Aggressor dem internationalen Beistand erhebliche Grenzen, indem er für den Fall eines direkten militärischen Eingreifens den Einsatz von Atomwaffen androht. Jürgen Osterhammel spricht hier von „nuklearem Imperialismus“.[2]
- Was hat das mit uns zu tun?
Der Großangriff vom 24. Februar 2022 war ein Schock. In Münster vereinbarten die demokratischen Ratsfraktionen für den zweiten Kriegstag eine Mahnwache. Da kommen dann nach aller Erfahrung ein oder wenige Dutzend Menschen. Es kamen 5.000. 30 Monate später hatten ukrainische Vereine zu einer Kundgebung zum Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August aufgerufen. Es kamen 300 Menschen, fast nur ukrainische Frauen, Kinder, wenige Männer, fast keine Deutsche. Herzzerreißend war, als Anwesende Papierherzen mit den Namen und Lebensdaten von im Krieg ums Leben gekommenen Nächsten in einer großen Laterne ablegten. Kaum jemand, der nicht den Tod von Angehörigen und Freunden zu beklagen hat. Kaum ein Passant bleibt stehen, die meisten gehen vorbei. Das Leid der terrorisierten ukrainischen Bevölkerung scheint für die meisten weit entfernt zu sein.
Inwiefern betrifft uns der russische Angriffskrieg dennoch?
– Gewaltsame Grenzveränderungen brechen mit jeder Friedensordnung und zerstören ein friedliches Zusammenleben von Staaten und Völkern. „Nebenkosten“ und Belastungen entstehen sofort für die Nachbarn des überfallenen Landes.
– Gegenüber überfallenen Nachbarn besteht – schon aus weitsichtigem Eigeninteresse – eine Beistandspflicht. Wird Beistand verweigert, wirkt das für Aggressoren ermutigend.
– Östliche Verbündete fühlen sich zu Recht akut bedroht: Ihnen gegenüber wird glaubwürdige Bündnissolidarität zur Friedenspflicht.
– Was würde geschehen nach einem russischen Sieg über die Ukraine? Welche Folgen hätte das für unsere Sicherheit, für unsere Menschen- und Bürgerrechte?
Die hybride Kriegführung Russlands im Cyber- und Informationsraum zeigt ganz besonders eindringlich, dass der russische Angriffskrieg enorm viel mit uns zu tun hat.
Desinformation im Informationsraum versucht gezielt und geplant, beim Gegner mittels digitaler Technologie Unsicherheit und Verunsicherung zu verbreiten, Grundvertrauen und Zusammenhalt zu zerstören, zu destabilisieren und den gegnerischen politische Willen zu schwächen, wenn möglich zu brechen. Das geschieht äußerst schnell, flexibel, massenhaft und mit raffinierten Verschleierungsmethoden. Sehr informativ und empfehlenswert hierzu ist der neue ODISCYE Policy Report „Online Disinformation and Cyber Insecurities in International Politics.[3]
Zum Beispiel die Doppelgänger-Kampagne, die seit Beginn des russischen Großangriffs zu einer der größten Einflusskampagnen wurde: Über rund 60 gefälschte Nachrichtenportale wurde in Europa und den USA russische Propaganda verbreitet, davon acht in Deutschland mit Fake-Ausgaben von Bild, Spiegel, SZ, FAZ, Welt, Tagesspiegel, Neuem Deutschland und t-online.[4] (Anfang September wurden viele dieser Portale durch das US-Justizministerium abgeschaltet.)
Aus Insiderkreisen erfuhr ich, dass wohl einzelne Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern ihre Lagebilder zum Krieg im Informationsraum haben, dass es bisher aber kein gemeinsames Lagebild dazu gebe. Es hieß auch, die Öffentlichkeit werde mit der Begründung nicht laufend über hybride Angriffe informiert, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Ein kundiger Beamter fasste die Lage mit den Worten zusammen: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner merkt es.“
Hybride Kriegführung im Cyber- und Informationsraum eröffnet tendenziell die Möglichkeit, den politischen Willen eines als Gegner definierten Landes ohne Einsatz militärischer Kriegsgewalt zu brechen.
Diese wenigen Hinweise machen deutlich: Der russische Angriffskrieg zielt auf unsere ganze Gesellschaft und demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung. Friedens- und Sicherheitspolitik betrifft und fordert nicht mehr nur die dafür zuständige staatlichen Institutionen und ihre Einsatzkräfte, sondern alle staatlichen Ebenen und die gesamte Gesellschaft.
- Aspekte der Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit
Die Nationale Sicherheitsstrategie und die Verteidigungspolitischen Richtlinien betonen unter dem Leitmotiv Integrierte Sicherheit die Herstellung von Wehrhaftigkeit und Resilienz ausdrücklich als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für die Bundeswehr hat jetzt die Landes- und Bündnisverteidigung, also der Selbstschutz Deutschlands und des Bündnisses erste Priorität, gefolgt von der nationalen Krisen- und Risikovorsorge. Die Primäraufgabe der letzten Jahrzehnte, der Beitrag zum Internationalen Krisenmanagement, bleibt unverzichtbar, ist aber nachgeordnet. (Hier besteht das Risiko des Pendelausschlags)
Viel gesprochen wird über die materielle Seite der Verteidigungsfähigkeit. Ich kann jetzt nur auf gesamtstaatliche und -gesellschaftliche Aspekte der Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft eingehen.
Die Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr ist bisher unzureichend, erst recht im Hinblick auf einen nicht mehr auszuschließenden Bündnisverteidigungsfall in wenigen Jahren an der Ostflanke. Der „Neue Wehrdienst“ ist ein Probelauf zur Erfassung möglicher Rekrutierungs-potenziale, aber höchstwahrscheinlich noch nicht die Lösung des Rekrutierungsproblems. Die zum wiederholten Male angelaufene Debatte zur Zukunft des Wehrdienstes, zu einem Allgemeinen Gesellschaftsdienst, zu einer sozialen Pflichtzeit (Steinmeier) muss bald zu Entscheidungen führen.
Wie steht es um die Verteidigungsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung, wenn es blutig ernst werden könnte? Die jüngste Bevölkerungsbefragung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) bekam auf die Frage, „Wären Sie bereit, Deutschland im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe zu verteidigen?“ von 19% der Männer ein Ja, 34% ein eher ja. Der Kommentar des Projektleiters: „Um die Wehrhaftigkeit der deutschen Gesellschaft muss man sich keine Sorgen machen.“ Ich halte diese Bewertung für blauäugig.
In einigen Medien kamen Pro und Contra-Stimmen zur Verteidigungsbereitschaft zu Wort. Die ZEIT eröffnete die Kontroverse mit einem jungen Podcaster und Autor. Seine Antwort: „Ich für Deutschland kämpfen? Never!“[5] In der FAZ wie in der taz folgten Gegenstimmen von jüngeren Männern, die sich zum ersten Mal mit dieser Frage auseinandersetzten und in durchdachter Weise bei sich Wehrhaftigkeit entdeckten.
Im Hinblick auf eine glaubwürdige Abschreckung durch Bündnisverteidigungsfähigkeit an der Ostflanke kommt Deutschland als Drehscheibe für schnelle Truppenverlegungen nach Osten die zentrale Schlüsselrolle zu. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Verkehrsführung von riesigen Transportkolonnen durch eine schon heute überlastete Verkehrsinfrastruktur, für die stationäre Infrastruktur, Verpflegung, Bewachung, Logistik und Sanitätsversorgung.
Wiederbelebt werden muss von den zivilen Ressorts auf Bundes- und Landesebene die Zivile Verteidigung mit ihrem vier Aufgabenfeldern Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, des Zivilschutzes, der Versorgung der Bevölkerung und der Unterstützung der Streitkräfte.[6]
Viele der über 30 verschiedenen Aufgaben der Zivilverteidigung betreffen die Bürgerinnen und Bürger direkt (z.B. der Selbstschutz, Schutz der Gesundheit, Ernährungsversorgung, Telekommunikationsleistungen, Verkehrssicherstellung, Arbeitssicherstellung) und erfordern ihre Akzeptanz und Mitwirkung. Ohne funktionierende Zivilverteidigung gibt es keine funktionierende militärische Verteidigung und keine glaubwürdige Abschreckung, also Friedenssicherung in Zeiten akuter Bedrohung.
Die seit den 1990er Jahren weitgehend abgebauten Strukturen und Fähigkeiten der Zivilverteidigung sollen wieder funktionsfähig werden, gelten zzt. aber noch als Torso. Irritierend ist, dass die im Juni 2024 in Kraft getretenen Gesamtverteidigungsrichtlinien der Informationsraum nicht einmal erwähnt wird.[7] Es ist davon auszugehen, dass bei einer künftigen Zivilverteidigung die Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Mitwirkung, aber auch für Störungen erheblich andere sein werden als im vordigitalen Zeitalter, als Gesamtverteidigungsübungen wie Wintex-Cimex im Geheimen abliefen.[8]
- Verteidigungsbereitschaft bei Nachbarn im Nordosten und Osten
Litauen ist mit drei Millionen Einwohnern das größte der drei baltischen Länder.[9] Hier wurde schon nach der Krim-Annexion umgehend die Wehrpflicht bis zum 27. Lebensjahr eingeführt. Der litauische Schützenbund bietet militärisches und medizinisches Training für Zivilisten an und hat mehr als 50.000 Mitglieder, dreimal mehr als die Armee. Noch vor fünf Jahren war man darauf bedacht, Militär aus den Schulen herauszuhalten. Das hat sich inzwischen völlig geändert. Der Schützenbund bietet – nicht verpflichtend – in Schulen Kurse in Erster Hilfe, Verhalten in Extremsituationen und Übungen in Überlebenstraining an. Am 20. Juni beschloss das litauische Parlament mit großer Mehrheit mehrere Steuererhöhungen (Körperschaftssteuer um 1%, erhöhte Besteuerung von Alkohol und Tabak, Erhöhung des Spritpreises um 6 Cent) zugunsten der Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auf 3% der Wirtschaftsleistung und darin auch der Finanzierung der Infrastruktur für die deutsche Kampfbrigade.
Die 2014 gegründete Initiative „Blue/Yellow“ zählt heute zu den zehn größten Nichtregie-rungsorganisationen weltweit zur Unterstützung der Ukraine. Verbreitet ist die Einstellung, wenn Putin in der Ukraine erfolgreich sei, sei Litauen als nächstes dran.
Auch in Schweden wurde über Jahrzehnte die Möglichkeit eines Krieges in Europa ausgeschlossen und massiv am Militär gespart.[10] Seit dem russischen Großangriffs wurde schnell umgesteuert und der Verteidigungshaushalt in den letzten Jahren verdoppelt. Die Streitkräfte umfassen nur 18.000 Soldatinnen und Soldaten, gelten aber als extrem gut ausgestattet. (z.B. 110 Leopard-2, Bundeswehr 313) Jährlich werden zzt. 8.000 Wehrdienstleistende (rd. sieben Prozent eines Jahrgangs) eingezogen, die für mindestens acht Jahre grundbeordert bleiben, regelmäßig üben müssen und ein Reserve-Potenzial von 64.000 Soldaten ermöglichen. Hinzu kommen 29.000 Soldaten der Heimatgarde. Über die Wehrpflicht hinaus gibt es in Schweden auch eine Zivilpflicht und eine allgemeine Dienstpflicht für den Notfall. Ihre Realisierung befindet sich im Anfangsstadium.
In der Ukraine ist die starke und kreative Zivilgesellschaft eine unverzichtbare Säule der Wehrbereitschaft, Verteidigungsfähigkeit und Resilienz. Zivile Graswurzelarbeit agiert komplementär zur militärischen Verteidigung und hat strategisches Gewicht.[11]
- Erfahrungslernen
6.1 Bei östlichen Nachbarn
Woher kommt diese breite Wehrbereitschaft in Litauen, Schweden – und anderen Ländern des nördlichen und östlichen Europas? Ausschlaggebend dafür sind kollektive historische Erfahrungen in diesen Ländern und ihre geografische Lage.
Die Schlüsselerfahrungen der 1930er Jahre: In seinem sehr empfehlenswerten Buch „Mit Hitler reden – Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg“ schildert der britische Historiker Tim Bouverie, wie die nach dem Gemetzel des Ersten Weltkrieges zu Recht verbreitete Friedenssehnsucht in breiten Kreisen der westlichen Politik und Gesellschaft einherging mit einer Verkennung der in Deutschland aufwachsenden Bedrohung. „Daraus ergaben erst alle nachfolgenden Versäumnisse – das Versäumnis, ausreichend aufzurüsten, das Versäumnis, Allianzen zu schmieden, das Versäumnis, die britische Machtfülle zu vermitteln, und das Versäumnis, die Öffentlichkeit aufzuklären.“[12]
Berechtigte Friedensehnsucht, die trotz vieler Warnungen auf realistische Bedrohungs-wahrnehmung verzichtete, mündete in Friedenswunschdenken und die Illusion, mit Zugeständnissen auf Kosten schwächerer Dritter das aggressive Nazi-Deutschland beschwichtige zu können. So konnte ein diktatorisch und propagandistisch gleichgeschaltetes Deutschland die wehrlosen und vereinzelten europäischen Nachbarn der Reihe nach angreifen, besetzen mit Terror und Vernichtung überziehen.
Die zweite Schlüsselerfahrung mussten die Völker Polens und des Baltikums ab 1939/1940 durchleiden: Die sowjetische Besetzung Ostpolens 17 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen auf Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939. Dann die sowjetische Besetzung der baltischen Staaten ab Juni 1940, die wie die Ostpolens sofort in Zwangssowjetisierung, Massenerschießungen und Deportationen mündete, gefolgt ab 22. Juni 1941 vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion und mehr als dreijährigem Naziterror. Allein auf dem Boden der Ukraine fielen dem deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg mindestens acht Millionen Menschen zum Opfer, darunter fünf Millionen Zivilisten und 1,6 Millionen jüdische Menschen, insgesamt ein Viertel der Bevölkerung.[13]
Seit 1989 stieß ich im noch sowjetischen Riga auf die Spuren des ehemaligen „Reichsjuden-ghettos“, der Deportationen 1941/1942 aus dem „Großdeutschen Reich“ dorthin, die Orte der Massenerschießungen – und in den Jahren danach auch auf die Spuren der sowjetischen Okkupation 1940/1941 und 1944-1991. Aus der Nähe erlebte ich die singende, gewaltlose und erfolgreiche Bewegung für die nationale Unabhängigkeit Lettlands.
Im Okkupationsmuseum gegenüber dem Rigaer Rathaus sind die kollektiven Leidens-erfahrungen von mehr als 50 Jahren brutaler Okkupationen eindringlich nachzuvollziehen.[14] Was hier im kollektiven Gedächtnis der lettischen Bevölkerung unvergessen, ja bei vielen eingebrannt ist und durch die aktuelle russische Aggression wieder reaktiviert wurde – die Erfahrung existentieller Bedrohung -, wird in Deutschland relativ wenig zur Kenntnis genommen – im Unterschied zu einem verbreiteteren „Russlandverstehen“.
6.2 In Deutschland
In der deutschen Politik und Gesellschaft erschütterte der russische Großangriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 elementare friedens- und sicherheitspolitische Gewissheiten. Wie damit umgehen: Umdenken? Aus Erfahrungen lernen? Oder nach dem ersten Schock lieber an den bisherigen Gewissheiten festhalten, sie bekräftigen?
– Die Bedrohungswahrnehmung: Einen solchen Angriffskrieg in Europa hatten die meisten, auch Bundesregierungen, nicht mehr für möglich gehalten. Wie bei anderen Großkrisen der letzten Jahre (z.B. Corona, dem strategischen Scheitern in Afghanistan) offenbarte sich wieder eine verbreitete Neigung, solche Worst-Case-Szenarien zu verdrängen, die nicht ins eigene Welt- und Menschenbild passen. Überfällig ist eine rücksichtslos nüchterne und realistische Bedrohungswahrnehmung, ohne Beschönigungen und Wunschdenken einerseits, ohne Dämonisierungen andererseits. Sie muss einhergehen mit einer systematischen Chancenwahrnehmung, um kommunikative Zugänge und eventuelle Friedensoptionen bestmöglich nutzen und Eskalationsspiralen vermeiden zu können.
– Feindbildabbau, Versöhnung, Frieden durch Dialog, durch Abrüstung, Frieden schaffen ohne Waffen: Das alles bleiben richtige und wichtige Grundprinzipien und Ansätze. Erhalt von Kommunikationskanälen und Aufmerksamkeit gegenüber Dialogmöglichkeiten sind generell geboten. Aber die o.g. Ansätze wirken nicht gegenüber jedem Akteur, zu jeder Zeit und an jedem Ort friedensförderlich. Aggressoren können diese Ansätze auch als Schwäche und Ermutigung wahrnehmen, so dass solche „einseitige“ Friedenspolitik auch ihr Gegenteil erreichen kann. Die Appeasement-Politik der 1930er Jahre steht exemplarisch dafür. Entscheiden ist immer, das Spezifische eines Konflikts zu erkennen: vom Beziehungs- und Interessenkonflikt, wo Kompromisse möglich sind, bis zu einem antagonistischen Konflikt, wo die eine Seite die andere vergewaltigen oder total vernichten will.
– „Militär löst keine Konflikte!“ Viele Gewaltkonflikte können in der Tat letztendlich nur politisch, nicht militärisch gelöst werden. Im Rahmen der VN-Charta agierendes Militär kann aber Kriegsgewalt eindämmen und Voraussetzungen zur politischen Konfliktlösung schaffen. Der Angriffs- und Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands konnte aber nur durch den totalen Sieg der Alliierten gestoppt und damit das NS-System als zentrale Konfliktursache beseitigt werden.
– Das „Nie wieder!“ bleibt in Deutschland oft beim „Nie wieder Krieg!“ stehen und endet meist in Aufrufen zur innenpolitischen Bekämpfung von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, gruppebezogenen Menschenfeindlichkeit. In vielen von Deutschland ab 1939 überfallenen Nationen wird das „Nie wieder!“ aber weiter buchstabiert und konkretisiert: „Nie mehr wehrlos, nie mehr allein sein!“ – zum Schutz der eigenen territorialen Unversehrtheit und nationalen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.
Diese Grunderfahrung wurde festgehalten in der Charta der Vereinten Nationen, die am 26. Juni 1945, nur 49 Tage nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, von ihren 50 Gründungsstaaten unterzeichneten wurde. Als grundlegende Schlussfolgerung aus Weltkrieg und Völkermord bestimmt die Charta in Artikel 1 als erstes Ziel der Vereinten Nationen, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen (…)“
Mein Eindruck ist, dass in Deutschland die fundamentale Lehre von „Nie mehr wehrlos, nie mehr allein sein!“ viel weniger präsent ist als bei vielen europäischen Nachbarn. Kaum bewusst ist, dass den Deutschen „im Gegensatz zu den meisten Mitgliedsstaaten von EU und NATO (…) eine entscheidende Erfahrung mit Krieg (fehlt): Sie haben noch nie als Demokratie ihr Land gegen eine fremde Macht militärisch verteidigen müssen. Deutschlands Nachbarn haben die gegenteilige Erfahrung gemacht: Sie mussten sich in ihrer Geschichte immer wieder als Demokratien zur Wehr setzen – nicht zuletzt gegen die Deutschen. Sie haben, bis auf wenige Ausnahmen wie Großbritannien, darüber hinaus erfahren müssen, was es bedeuten kann, wenn die militärische Verteidigung gegen einen Aggressor von außen nicht gelingt. (…) Krieg als Verteidigungskrieg einer Demokratie gegen eine von außen angreifende Diktatur kennen die Deutschen nicht.“[15]
- Neues Leitbild „Wehrhafter Frieden“[16]
Seit mehr als 30 Monaten wütet der russische Terrorkrieg gegen die Ukraine und ihre Zivilbevölkerung. Die systematische Bombardierung der Energieversorgung soll das Leben in der Ukraine im Hinblick auf den Winter regelrecht erwürgen.
Das demokratische Deutschland und Europa war seit vielen Jahrzehnte nicht so bedroht wie heute. Die sicherheitspolitische Stimmung in Deutschland hat sich seit dem Februar 2022 erheblich verändert, bisher aber nur begrenzt in einem Wandel von Einstellungen und Verhalten der Gesellschaft und Politik niedergeschlagen – am ehesten in der militärischen Sicherheitspolitik. Der Stimmungsverschiebung wird inzwischen relativiert durch Ermüdung und Wegsehen, ja konterkariert durch Polarisierung und Entsolidarisierung gegenüber dem Überlebenskampf der Ukraine in wachsenden Teilen der Gesellschaft.
Der Epochenbruch ist noch längst nicht in der Breite angekommen und Sicherheitsvorsorge als gesamtgesellschaftliche Aufgabe nur in Teilen der deutschen Gesellschaft erkannt und verankert.
Wehrhafter Frieden braucht weiterhin Friedensfähigkeit, die jetzt neben Diplomatie wieder Abschreckung durch kollektive Verteidigungs-, Schutz- und Wehrfähigkeit, militärische Kriegstüchtigkeit einschließen muss, aber keineswegs darauf verengt werden darf.
Die Forderung nach Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr steht für Klartext zu einem Einsatzszenario, auf das sich die Truppe vorbereiten muss, damit es nicht eintritt, und ist vor allem für die operative und taktische Ebene gerechtfertigt. Zu warnen ist aber vor einer Tendenz, die Forderung nach Kriegstüchtigkeit zu verabsolutieren, in der Kommunikation vom Abschreckungsauftrag und vom Friedensauftrag des Grundgesetzes zu lösen – und damit einen Eindruck zu erwecken, als sei der Frieden schon verloren. Eine so kommunizierte Kriegstüchtigkeit hätte kontraproduktive Folgen. Sie würde die notwendige gesamtgesellschaftliche Wehrhaftigkeit nicht stärken, sondern zurückwerfen.
Wehrhafte Friedenssicherung und Friedensdurchsetzung brauchen genauere Realitäts- und Bedrohungswahrnehmung, Lernen von Nachbarn, Mentalitätswandel, Entschlossenheit und Besonnenheit und sind nur gemeinsam zu schaffen
[1] Winfried Nachtwei, Schaut auf Charkiw! Seit 27 Monaten unter Beschuss, jetzt schutzlos gegen Gleitbomben, 16.05.2024, www.domainhafen.org
[2] Jürgen Osterhammel, Versuch, Putins Endspiel zu verstehen, FAZ 19.06.2024
[3] ODISCYE Project Policy Compendium, Online Disinformation and Cyber Insecurities in International Politics von Lucas M. Schubert, , University of the Bundeswehr, München November 2023, https://www.unibw.de/politikwissenschaft/professuren/lehrstuhl-ikf/news-collection-ikf/odiscye-brochure_online_2.pdf ;
[4] Vgl. Ole Kaiser, Die russischen Klone, FAZ 07.08.2024; Unheimliche Doppelgänger, SZ 10.06.2024; Sebastian Erb, Saladin Salem, Jörg Schmitt, Lina Verschwele, Lea Weinmann, Propaganda vom Fließband (Auswertung interner Datenbestände der russische Social Design Agency), SZ 17.09.2024, S.8-9;
[5] Ole Nymoen, Für Deutschland kämpfen? Never! ZEIT 25.07.2024; Artur Weigandt, Wenn ich kämpfe, dann für Europa, ZEIT 15.08.2024; Leon Holy, Zu den Waffen Genossen! taz 17.08.2024; Ole Kaiser, Will ich für mein Land kämpfen? FAZ 22.08.2024
[6] Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bericht zur Risikoanalyse für den Zivilschutz 2023, Bundestagsdrucksache 20/10476, 19.02.2024; Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Zivile Verteidigung und Zivilschutz, Psychosoziales Krisenmanagement, April 2018
[7] Bundesregierung, Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung, 05.06.2024, S. 48 f.
[8] Winfried Nachtwei, Schwachstellen in der offiziellen Zivilschutz-/Zivilverteidigungskonzeption – Ansatzpunkte für Argumentation und Aktion, November 1988
[9] Die Informationen zu Litauen entstammen der Reportage von Stefan Locke „Warum zögert ihr noch?“ FAZ 17.08.2024.
[10] Die Informationen zu Schweden entstammen der Reportage von Julia Egleder „Vorbild Schweden?“ in LOYAL 9/2024
[11] Zur zivilgesellschaftlichen Entwicklung im Krieg vgl. Susan Stewart, Die Ukraine im russischen Angriffskrieg: Binnenentwicklungen im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsverfahren, SWP-Studie Juni 2024, S. 26 ff.; Winfried Nachtwei, Möglichkeiten und Grenze ziviler Konfliktbearbeitung angesichts kriegsbereiter Autokraten, 02.03,2024, www.domainhafen.org
[12] Tim Bouverie, Mit Hitler reden, Hamburg 2021
[13] Winfried Nachtwei, Nie mehr wehrlos und allein sein – Leid in der Ukraine: von traumatischen Erfahrungen ab 1941 und ihre Folgen, die bis heute wirken, in: Frieden – Zeitschrift des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge 01/2023, S. 22 ff., https://www.volksbund.de/aktuell/mediathek/detail/zeitschrift-frieden-16
[14] Winfried Nachtwei, Besuch im Lettischen Okkupationsmuseum: Lektionen für die Gegenwart, 23.08.2023, www.domainhafen.org
[15] Thomas Speckmann, Die Angst vor sich selbst, ZEIT 08.12.2022, https://www.zeit.de/2022/51/ukraine-demokratie-verteidigung-militaer
[16] Renate Köcher, Institut für Demoskopie Allensbach, Neues Leitbild „Wehrhafter Frieden“ – Der Ukrainekrieg hat die Stimmung völlig verändert, FAZ 27.05.2022