Anlass: Film über die Pazifistin + Grünen Mitbegründerin Petra Kelly und Antikriegstag
Mein Leserbrief zu einer Kolumne von Heribert Prantl in der SZ-Kolumne „Komm, Hans – Friedenstauben scheinen ausgedient zu haben. Gedanken anlässlich eines neuen Films über die Pazifistin und Grünen Mitbegründerin Petra Kelly“ (30.08.2024), die Kolumne anschließend
In seiner Kolumne erinnert Heribert Prantl an die Hoch-Zeit der Friedensbewegung vor gut 40 Jahren und die herausragende Rolle von Petra Kelly in der Umwelt- und Friedensbewegung und in der neuen Grünen Partei. Dabei verklärt er die hochverdiente Petra Kelly quasi zur Heiligen des Pazifismus, im Kontrast zum folgenden angeblichen Verrat der Grünen an Antimilitarismus und Friedenstaube.
Heribert Prantl, dessen SZ-Artikel ich seit langem sehr schätze, macht es sich hier erschreckend zu einfach. Als Friedensaktivist der 80er/90er Jahre und Friedens- und Sicherheitspolitiker seit 30 Jahren vermisse ich in Prantl`s Schwarz-Weiß-Kolumne jede Dimension von Erfahrungslernen, dem sich zumindest Parteien mit Gestaltunganspruch stellen müssen. Wer Politik in staatlicher Verantwortung betreiben will, ist dem Friedensauftrag des Grundgesetzes verpflichtet, Auftraggeber des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols, steht in Schutzverantwortung für die eigene Bevölkerung und Mitverantwortung für kollektive Friedenssicherung im Rahmen der UN-Charta. Die Völkermorde von Ruanda und Srebrenica, die mörderische Belagerung Sarajevos belegten unübersehbar, dass zum Schutz von Zivilbevölkerung vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann.
Ein ideologischer Antimilitarismus, der unterschiedslos jedes Militär ablehnt und nicht wahrnimmt, dass die deutsche Bundeswehr an den Friedensauftrag des Grundgesetzes und das Völkerrechts gebunden ist und deren Soldaten Staatsbürger in Uniform sein sollen, hat mit Friedenspolitik im Sinne der UN-Charta und des Grundgesetzes nichts zu tun. Dass die Grünen zusammen mit der SPD seit 1998 Treiber von neuen Friedensfähigkeiten der zivilen Konfliktbearbeitung waren, ist dem Autor nicht der Rede wert. (Auch die SZ berichtete leider fast nie über diese friedenspolitische Innovation.)
Laut Prantl erreichen die Grünen mit ihrer Ukrainepolitik den Gipfel ihres „Verrats“. In seiner Bildersprache stempelt er sie zu Kriegstreibern und Kriegsenthusiasten. Man kann über bestimmte Äußerungen einzelner Grüner streiten. Fakt ist aber, dass sie klar für das Völkerrecht der Selbstverteidigung und die politisch-moralische Pflicht zum Beistand für die überfallene und terrorisierte Ukraine eintreten.
Herr Prantl blendet aus, dass die Teile von Friedensbewegung, die nicht gegen den Angriffskrieg demonstrieren, weitgehend empathielos gegenüber den seit Jahren Terrorisierten agieren und militärische Überlebenshilfe gegen die Aggressoren verweigern, selbst maßgeblich zum Glaubwürdigkeitsabsturz der verbliebenen Friedensbewegung beitragen – und damit auch die kleine Minderheit praktischer und glaubwürdiger Pazifisten beschädigen.
ANHANG zum Erfahrungslernen
Bündnisgrüne Erfahrungsprozesse und Umbrüche (Auszug aus „Schlüsselfragen und Bausteine zur Friedens- und Sicherheitspolitik“ von Winfried Nachtwei, Oktober 2018)
- Was ist mit dem Grundwert Gewaltfreiheit? Erfahrungs- und Lernprozess oder Verrat?
Eine der Wurzeln der Grünen war die Friedensbewegung der 80er Jahre, ihr Protest gegen die Stationierung neuer US-Atomraketen und gegen den Wahnsinn des atomaren Wettrüstens in West und Ost. Dieser Protest hat auch im Nachhinein nichts von seiner Richtigkeit verloren. Mit der Renaissance der Atomrüstung heute bekommt er neue Dringlichkeit.
Der Fall der Mauer 1989, das Zerbröseln staatssozialistischer Macht war ein grandioser Sieg von Freiheitsstreben und Gewaltfreiheit. Er steht exemplarisch für die enorme unblutige Sprengkraft gewaltloser Freiheitsbewegungen unter begünstigenden Umständen.
Entgegengesetzt verlief der Auflösungsprozess der Bundesrepublik Jugoslawien, wo der Krieg nach Europa zurückkehrte und die europäischen Nachbarn bei der Friedenswahrung versagten.
Die Balkankriege bestätigten und bekräftigten das Drängen von Friedensbewegung, Friedensforschung und Bündnisgrünen auf energische nichtmilitärische Gewaltprävention. Eskalierte Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen gegen Unbewaffnete und Zivilbevölkerung konfrontierten aber zugleich die pazifistische Mehrheit der Bündnisgrünen und die Friedensbewegten mit dem Zielkonflikt zwischen Schutz vor Massengewalt und Gewaltfreiheit. Intensiv wie keine andere Partei stritten die Bündnisgrünen über die Legitimität und Verantwortbarkeit des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz von Zivilbevölkerung vor Massengewalt. Der hoch kontroverse Lernprozess mündete in den Feststellungen des Grundsatzprogramms von 2002: „Bündnisgrüne Politik ist Politik für Gewaltfreiheit. (…) Die Anwendung militärischer Kriegsgewalt bedeutet Leid und Zerstörung und bleibt unabhängig von ihren Zielen ein großes Übel. (…) Zugleich ist Militär im Rahmen des Völkerrechts ein legitimes Organ staatlicher und globaler Sicherheitspolitik, im Rahmen des VN-Systems kann Militär in sehr unterschiedlicher Weise eingesetzt werden“. (S. 14/161)
Mit Regierungsbeteiligung der Bündnisgrünen wurde deutlich, dass der Grundwert Gewalt-freiheit je nach politischer Rolle unterschiedlich buchstabiert werden kann bzw. muss. Einzelne BürgerInnen und Gruppen können mit guten Gründen für strikte Gewaltfreiheit eintreten. Träger des staatlichen Gewaltmonopols stehen hier und jetzt in der Verantwortung zum Schutz der eigenen Bevölkerung und – als VN-Mitglieder – der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens vor Gewalttätern und Friedensstörern im Innern und von außen.
Gewaltfreiheit auf dieser Ebene heißt Gewalt- und Krisenverhütung, Deeskalation, Schutz vor illegaler Gewalt, Rechtsdurchsetzung auch mit Hilfe des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols („rechtserhaltende Gewalt“). Die Alternative dazu wäre nicht eine – sehr wünschenswerte – gewaltfreie Gesellschaft, sondern die Privatisierung von Sicherheit und Gewalt, Schutzlosig-keit für die Schwächeren.
Ausführlich zum Erfahrungslernen anlässlich des 40. Jahrestages der größten Friedensdemonstrationen der Bundesrepublik im Oktober 2023 (und der Doku „Achtung ABC-Alarm! Der Kalte Krieg vor der westfälischen Haustür“): „Vor 40 Jahren demonstrierten 1,3 Mio. gegen neue Atomraketen, am 22. November 1983 stimmte der Bundestag mit 296:226 dafür. Die Friedensbewegung der 80er Jahre, fundamentale Umbrüche seitdem: Bemühen um Erfahrungslernen“ von Winfried Nachtwei, 28.10.2023/ 20.01.2024 https://domainhafen.org/2023/10/28/die-friedensbewegung-der-80er-jahre-aus-meiner-heutigen-sicht-nach-fundamentalen-umbruechen-bemuehen-um-erfahrungslernen/
DIE KOLUMNE VON HERIBERT PRANTL, vom 30.08.2024, 101 Kommentare
Antikriegstag: Die Friedenstaube gehört nicht mehr zu den Requisiten der Grünen. Kann man sich vorstellen, dass Petra Kelly heute noch Mitglied der Grünen wäre? Ein neuer Dokumentarfilm über sie heißt „Act Now“. Dieses Motto passt heute so wie damals.
Der Vater einer Freundin war im Ruhrgebiet zu Hause und ein ebenso begeisterter wie liebevoller Taubenzüchter. Als er schon sehr betagt war, nannte er jede Taube „Hans“. Wann immer er irgendwo eine verirrte beringte Taube entdeckte, der die Heimkehr missglückt war, lockte er sie mit zärtlichem Pfeifen und dem schmeichelnden Ruf: „Komm, Hans, komm.“ Das ist ein besonders schöner Satz, wenn man im Kopf hat, dass die Taube das Symbol des Friedens ist, und wenn man weiß, dass der Frieden nicht einfach von selbst kommt – dass man ihn also locken, dass man ihn stiften muss.
Der alte Herr war einst, als er ein paar Monate vor Kriegsende 18 Jahre alt wurde, von Hitlers Armee nach Nordnorwegen befohlen worden; und er hatte, seit es ihm abgenommen worden war, kein Gewehr mehr angefasst; er hat sogar den örtlichen Schützenverein gemieden. Er ist mir eingefallen beim Nachdenken über den Weltfriedenstag, der am kommenden Sonntag begangen wird; es ist diesmal der 85. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Zehn Jahre später wurde die von Pablo Picasso geschaffene Lithografie einer Taube das Plakatmotiv für den Pariser Weltfriedenskongress von 1949. Seitdem hat die Taube bei Demonstrationen gegen Gewalt und Krieg ihren Auftritt.
Es waren große Auftritte vor gut vierzig Jahren, es gab damals die größten Demonstrationen, die es bis dahin in der Bundesrepublik gegeben hatte. Hunderttausende demonstrierten gegen die Nachrüstung und „für ein atomwaffenfreies Europa“, sie propagierten „Kampf dem Atomtod“ und hielten die nukleare Aufrüstung für eine furchtbare Bedrohung. Das war sie auch. In dieser Zeit handelt ein Film, der jetzt in die Kinos kommt und in der kommenden Woche im Berliner Filmpalast Delphi Premiere hat. Es ist eine Arbeit der Dokumentarfilmerin und früheren SZ-Kollegin Doris Metz über Petra Kelly, er heißt „Act Now“. Dieses Motto passt heute so wie damals.
Kelly war die weltweit beachtete Symbolfigur der damals kraftvollen deutschen Umwelt- und Friedensbewegung, sie war die Gründungsfrau der grünen Partei; ohne sie, ohne ihr Charisma, ohne ihre messianische Ausstrahlung würde es womöglich die Grünen heute gar nicht geben. Der Film zeigt sie als hellsten Stern der frisch gegründeten Partei, er zeigt sie als Aktivistin, als Feministin, als Utopistin, als Visionärin; er zeigt ihre kleinen und großen Auftritte vor und mit dem Tauben-Transparent, er zeigt sie als Rednerin im Bundestag, in den sie mit ihrer Partei 1983 einzog; er zeigt sie als Demonstrantin auf dem Roten Platz in Moskau; er zeigt sie als hartnäckig-provokante Gesprächspartnerin von Erich Honecker. Der Film dokumentiert ihren furiosen Einsatz für eine antimachistische Politik; er zeigt aber auch, wie Petra Kelly in ihrer Partei mehr und mehr zur Einzelkämpferin wird, weil andere dort mehr und mehr das Sagen bekommen – Joschka Fischer zuvorderst. 1992, da ist sie 44 Jahre alt, wird Kelly von ihrem Lebensgefährten und politischen Mitstreiter, dem Ex-General Gert Bastian, in der gemeinsamen Wohnung in Bonn erschossen; Bastian tötet sich anschließend selbst. Es ist ein furchtbar-tragisches Ende eines atemlosen politischen Lebens.
In der grünen Partei konkurrierten Fragen der Gerechtigkeit
Die grüne Partei war in ihren frühen Jahren ein Sammelbecken für Gerechtigkeitsfragen aller Art, die oft miteinander konkurrierten. Die Klärung dieser Konkurrenzen bestimmt die Geschichte dieser Partei. Diese Klärung beginnt mit der Entkellysierung und der Verfischerung der grünen Partei noch zu Lebzeiten Kellys. Das feste Bündnis zwischen der Friedens- und Umweltbewegung verlor erst seine Festigkeit und verlor sich dann ganz. Die von Joschka Fischer als Außenminister der rot-grünen Regierung des Kanzlers Schröder betriebene deutsche Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovo-Krieg markierte den Abschied der grünen Partei vom Antimilitarismus. Rot-Grün führte Deutschland 1999 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in einen Krieg; man nannte ihn aber nicht Krieg, sondern „humanitäre Intervention“. Christian Ströbele und Antje Vollmer, die noch die Friedensfahne hochgehalten hatten, haben keine Nachfolger. Ströbele ist 2022, Vollmer 2023 gestorben.
Der Abschied der Grünen vom Antimilitarismus wurde in der Ukrainepolitik vollendet. Aus der grünen Partei, die einst in der Friedensbewegung zu Hause war, ist eine Falknerei für Menschenrechte geworden. Die Friedenstaube gehört nicht mehr zu den grünen Requisiten – und wenn, dann trägt sie wohl keinen Olivenzweig, sondern eine US-Tomahawk-Rakete im Schnabel. Kann man sich vorstellen, dass Petra Kelly noch Mitglied einer solchen Partei wäre? Vielleicht hätte sie eine neue Partei gegründet, vielleicht wäre sie heute in der „Letzten Generation“ zu Hause. Vielleicht würde sie mit ihrem feministischen Scharfsinn den unerträglichen Männlichkeitswahn eines Putin oder Trump sezieren. Vielleicht würde sie die Frage stellen, ob es klug ist, 85 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs den Pazifismus in Deutschland so zu diskreditieren, wie es gegenwärtig geschieht.
„Soldaten sind Mörder“ – so formulierte es Kurt Tucholsky 1931
Der Pazifismus hatte es in der Bundesrepublik selten so schwer wie heute. Wenn das Bundesverfassungsgericht heute entscheiden würde, dass der Satz „Soldaten sind Mörder“ nicht strafbar ist – der Protest wäre noch viel lauter als im Jahr 1995, als Karlsruhe dieses Straflosigkeitsurteil fällte. Die höchsten Richter stellten sich damals nicht hinter diesen Satz; sie teilten nicht die Aussage, sondern sie schützten den, der sie macht, vor strafrechtlicher Verfolgung – nicht mehr, nicht weniger. Wären nämlich nur solche Meinungen von der Meinungsfreiheit geschützt, die von der Mehrheit geteilt werden, dann müsste die Meinungsfreiheit künftig Mehrheitsmeinungsfreiheit heißen. Es mag sein, dass der Satz heute, in der Kriegstüchtigkeitsrenaissance, die Mehrheit so aufbringt wie damals, 1931, als Tucholsky ihn formulierte. Aber selbst damals kam das Kammergericht Berlin im folgenden Jahr zu einem Freispruch: Straffrei bleibt, wer sich mit dem Krieg als solchem und seiner verrohenden Dynamik auseinandersetzt.
Das blutige Handwerk wird durch Drohnen und Marschflugkörper nicht weniger blutig. Wer sich wünscht, dass es ausstirbt, ist ein pazifistischer Mensch. Wer sich wünscht, dass die Tauben einen Ölzweig im Schnabel tragen, ist auch einer. „Act Now“ ist ein gutes Motto.