Boris Zabarko, Überlebender + Historiker des Holocaust in der Ukraine, vor Tausenden im Münsterland: Erinnern für die GEGENWART

Dass der inzwischen 89-Jährige einen zweiten Krieg in seiner Heimat erleben musste, hätte er nie gedacht.

Boris Zabarko, Überlebender & Historiker des Holocaust in der  Ukraine, vor Tausenden Schüler:innen und Zuhörer:innen im Münsterland: Erinnern für die Gegenwart und gegen Geschichtsvergessenheit, Winfried Nachtwei (03.11.2024), (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Der russische Terrorkrieg gegen die Ukraine wütet inzwischen im 33. Monat. In der Medien-berichterstattung und der öffentlichen Auseinandersetzung um Waffenlieferungen an die Ukraine kommen kollektive historische Erfahrungen der Menschen in der Ukraine sehr wenig zur Sprache. Immer wieder ist die Rede von „historischer Verantwortung Deutschlands“. Der deutsche Vernichtungskrieg und Holocaust auf dem Gebiet der Ukraine ab 1941 wird dabei aber kaum wahrgenommen.  Laut einer Umfrage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt-forschung an der Uni Bielefeld von Anfang 2022 antworteten auf die Frage, welche drei heutigen europäischen Länder sie am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, nach Frankreich, Polen und Großbritannien 36,3% Russland, aber nur 1% die Ukraine und 0,1% Belarus.

Umso wichtiger war deshalb, dass in den letzten Oktobertagen der bald 89-jährige Dr. Boris Zabarko, ukrainischer Historiker, Holocaust-Überlebender und seit 2004 Präsident der ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge Ibbenbüren, Osnabrück, Münster und Hörstel besuchte. Er berichtete über seine Kindheit im Ghetto der westukrainischen Stadt Scharhorod im Oblast Winnyzja und den Holocaust auf dem Gebiet der deutsch-besetzten Ukraine ab Sommer 1941. Tief bewegt hörten 2.400 Schülerinnen und Schüler aller weiterführenden Schulen in Ibbenbüren und zweier Schulen in Osnabrück und Hörstel sowie mehr als 1.300 Interessierte bei Abendveranstaltungen in den vier Städten den Bericht des teilweise deutschsprechenden Zeitzeugen.

2005 erschien mit seinem Buch „Nur wir haben überlebt“ 60 Jahre danach (!) die erste Sammlung von ukrainischen Überlebenden-Berichten. Seit 2006 führte er mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Erinnerungsprojekte durch und war seit 2008 Projektpartner in der Freiwilligenarbeit. Kurz nach dem russischen Großangriff floh er im März 2022 mit seiner Enkelin von Kiew nach Stuttgart, Ende 2023 kehrte er wieder nach Kiew zurück. Jetzt war er als Ehrengast des Kreises Steinfurt bei der Fotoausstellung „Gegen das Vergessen“ nach Ibbenbüren eingeladen worden. Die Ausstellung zeigt Fotos und Portraits von 40 Holocaust-Überlebenden des Fotografen Luigi Toscano und ist bis zum 15. November auf dem Schulhof des Kepler-Gymnasiums in Ibbenbüren zu sehen. Das Projekt der Erna-de-Vries-Gesamtschule und des Johannes-Keppler-Gymnasiums in Ibbenbüren wurde initiiert von der katholischen Schulseelsorge Ibbenbüren.

Boris Zabarko begegnete mir erstmalig indirekt im März 2022 als Herausgeber des von ihm und Margret und Werner Müller 2019 herausgegebenen, 1152 Seiten umfassenden Werkes „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse von Überlebenden“. Das Buch ist eine „Geografie des Holocaust in der Ukraine“, das für die 26 Gebiete (Oblaste) mit ihren Bezirken (Rayons) und Orten die Berichte von 223 Überlebenden dokumentiert. Das Buch war meine Hauptquelle für zwei Beiträge zum deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg auf dem Boden der Ukraine ab 1941 im April 2022 und März 2023.[1]

Artikel zum Abend mit Boris Zabarko im voll besetzten St. Paulus Dom in Münster:

„Holocaust-Überlebender Zabarko im Dom: Kindheit im Ghetto“ von Thomas Mollen, 01.11.2024, https://www.bistum-muenster.de/startseite_aktuelles/newsuebersicht/news_detail/holocaust_ueberlebender_zabarko_im_dom_kindheit_im_ghetto  , und

„500 Menschen bewegt von Holocaust-Überlebendem Zabarko in Münsters Dom“ von Johannes Bernard, 31.10.2024,  https://www.kirche-und-leben.de/artikel/holocaust-ueberlebender-boris-zabarko-muenster-paulusdom-antisemitismus-hubert-wolf

Mein Bericht zum Abend mit Boris Zabarko am 31. Oktober im Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Hörstel

Nach der Begrüßung durch Landrat Dr. Martin Sommer und einführenden Worten der Moderatoren, der Sozialarbeiterin  Barbara Kurlemann und dem Schulseelsorger Christoph Moormann aus Ibbenbüren spricht Boris Zabarko aufrecht stehend und frei mehr als eineinhalb Stunden zu den mehr als 100 Zuhörerinnen und Zuhörern, anfangs auf Deutsch, dann übersetzt von Emma Agnischok (Einfügungen kursiv gemäß Zabarko 2019, S. 563 ff.)  

Er komme aus der Ukraine, seiner Heimat, aus der schrecklichen Wirklichkeit eines Krieges. Er habe selbst einen Krieg erlebt, den Zweiten Weltkrieg, und das Schrecklichste in der Geschichte, den Holocaust: Wenn die einen die anderen töten wollen. Sie wollten das ganze jüdische Volk vernichten, mein Volk! Die ganze Welt habe es gesehen, aber nicht geholfen.

Jetzt sei wieder Krieg. „Der russische Aggressor will meine Heimat liquidieren. Im Zweiten Weltkrieg waren wir allein. Jetzt sind wir nicht allein!“ Europäische Länder, Amerika, Großbritannien, Deutschland leisten den ukrainischen Streitkräften große Hilfen. „Ich danke, danke Ihnen für die Hilfe, um den Krieg schnell zu beenden.“

Viele Informationen gebe es zum Holocaust in Polen, in Russland, aber nicht zum Holocaust in der Ukraine. Zu Beginn des Krieges (1941) war er sechs Jahre alt, der Vater an der Front, wo er bald ums Leben kam. Sein Onkel musste auch an die Front und verbrannte kurz vor Kriegsende in einem Panzer.

Die 6. Armee (der deutschen Wehrmacht) habe seine Stadt Scharhorod (60 km südwestlich der Oblast-Hauptstadt Winnyzja) erobert.  Die Juden seien immer wieder belogen worden, sie sollten zu Sammelpunkten kommen. Von dort seien sie weggefahren worden und wurden erschossen. Die Kiewer Juden (wurden auf Plakaten aufgefordert, sich am 29. September 1941 um 8.00 Uhr an der Ecke zweier Straßen einzufinden. Wer nicht komme, werde erschossen) wurden zur Babi Jar-Schlucht getrieben, wo sie sich entkleiden, am Rand der Schlucht aufstellen mussten und erschossen wurden. So wurden am 29. und 30. September 33.771 jüdische Menschen vernichtet. In den folgenden Monaten wurden hier Tausende weitere Juden erschossen. So geschah es in der ganzen Ukraine. 1,5 Millionen Juden wurden erschossen, Erwachsene und Kinder!

(Am 22. Juli 1941 besetzten deutsche Truppen Scharhorod.) Die Soldaten verspotteten die Juden und plünderten. Hitler habe dem Verbündeten Rumänien Transnistrien geschenkt, Scharhorod kam so unter rumänische Verwaltung. Die Juden mussten ein gelbes Abzeichen auf ihrer Kleidung tragen, ihre Häuser mit einem gelben Davidstern kennzeichnen und wurden in einem Ghetto konzentriert. Kinder bis 6 Jahre wurden in einem Haus eingesperrt. Es gab nichts zu essen und zu trinken, gar nichts. Jungen versuchten Kalk von den Wänden zu essen. Ein Wehrmachtspfarrer sah das und verfasste einen Bericht an die Wehrmacht. Als Reaktion sei von der 6. Armee der Befehl gekommen, die Kinder zu erschießen. Die Kinder wurden zu einer großen Grube gefahren und dort erschossen.  Dabei halfen auch ukrainische Soldaten. Dass geschah auch an anderen Orten der Ukraine: Juden wurden (bei Pogromen von Einheimischen) in Flüsse und in Bergwerksschächte geworfen.

Seine Familie habe Glück gehabt. In ihrem großen Haus habe sich ein Wehrmachtsoffizier einquartiert, interessierte sich für die Bücher, versuchte mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Als seine Einheit abzog, hinterließ er in seinem Raum Brot, Wurst und Geld. „Ein guter Mensch.“

In Scharhorod lebten (vor der Invasion) rund 1.800 Juden, hinzu kamen etwa 3.000 Juden (aus der Bukowina und Bessarabien) und zusätzlich aus der deutschen Besatzungszone geflohene Juden, die in den Häusern und öffentlichen Gebäuden untergebracht werden mussten. Insgesamt lebten im Ghetto über 7.000 ukrainische und rumänische Juden.  Bis zu 15-20 Personen wurden in einem Raum zusammengepfercht.

— Aus Boris Zabarkos Smartphone tönt aktueller Luftalarm aus Kiew mit der Aufforderung, Bunker aufzusuchen. —

Von 18.00 bis 08.00 Uhr war Ausgangssperre. In den Häusern habe es keinen Strom, keine Heizung, keine Toiletten gegeben. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Im Winter breitete sich eine Typhus-Epidemie aus, 1.450 Menschen starben daran. Da der Boden vereist war, konnten die Toten nicht beerdigt und mussten gestapelt werden.

Wieder aktuelle Meldung aus Kiew zum Luftalarm —

Auf offenen Wagen wurden Zuckerrüben zur Fabrik gefahren. Jungen klauten Zuckerrüben mit langen Stöcken. Es habe Bauern gegeben, die dann extra langsam fuhren. Frauen versteckten ihre Männer, seine Mutter ihren Bruder. Warum tat sie es? Hätte sie ihn verraten, hätte sie nicht mehr leben können.

Zum Schluss mahnt er eindringlich zum Erinnern gegen das Vergessen – damit solches NIE WIEDER geschehe.

Die Versammelten danken Boris Zabarko stehend mit langanhaltendem Beifall.   Musikalisch eingerahmt wurde der Abend durch Piotr Rangno, Klavier, Christian Kurumlian, Akkordeon, und Leonardo Kurumlian, Violine. Piotr Rangno: „Zwei junge Menschen aus dem Libanon, spielen mit einem älteren Mann aus Polen jüdische Lieder mitten in Deutschland.“

(Vgl. „Ich will alles tun, damit die Erinnerung an die Shoah in der Ukraine wachgehalten wir“, Interview mir Dr. Boris Zabarko über seine Flucht, historische Vergleiche und Antisemitismus, in: Zeichen 2/2022, hrsg. von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, S. 32-37, file:///C:/Users/Anwender/Downloads/asf_zeichen_2_2022_Stimmen_zum_Krieg_online.pdf  )

Zum „Holocaust durch Kugeln“ und zu Pogromen, zur Beihilfe durch Schweigen und Gleichgültigkeit: Auszüge aus Boris Zabarko, „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust“, S. 27—53 (Einfügungen von mir in Kursiv)

„Die Vernichtung der Juden in der Ukraine erfolgte hauptsächlich durch Massenerschießungen, denen teilweise innerhalb von ein bis zwei Tagen Zehntausende Juden zum Opfer fielen. So erschoss am 26.-28. August 1941 ein Kommando des Höheren SS- und Polizeiführers Russland Süd Friedrich Jeckeln unter Mithilfe des Polizeibataillons 320 (Berlin-Spandau) in Kamenez Podolski 23.600 Juden. Dies war das erste Blutbad eines solche Ausmaßes.“ (S. 28)

Am 15. September 1941 umzingelte deutsche und ukrainische Polizei das Ghetto von  Berdytschiw (Berditschew, Gebiet Shitomir; ehemaliges „russisches Jerusalem“ mit einem jüdischem Bevölkerungsanteil von 56% in 1926). An fünf von Kriegsgefangenen bereits vorbereiteten Gruben auf einem Feld in der Nähe des Flugplatzes wurden 18.600 Juden vom Polizeiregiment Süd, Reservepolizeibataillon 45 (Aussig) und der Stabskompanie Friedrich Jeckelns erschossen.

Am 19. Und 20. September 1941 begingen eine Einheit des Einsatzkommandos 6 zusammen mit dem Polizeibataillon 45 und 314 (Wien) ein Massaker in Winnyzja und ermordeten ungefähr 15.000 Juden.

Vom 21.-23. September 1941 erschoss das Sonderkommando 11a in Nikolajew 7.000 Juden. In Cherson ermordete das Sonderkommando 11a am 24. Und 25. September 1941 5.000 Juden. An der Erschießung nahmen auch Soldaten der 72. Infanteriedivision (Trier) teil.

Nach offiziellen Berichten hat das Sonderkommando 4a, unterstützt durch das Friedrich Jeckeln unterstellte Polizeibataillon 303 (Bremen) am 29. und 30. September 1941 in Kiew, Babi Jar, 33.771 Juden ermordet. Das war die größte Massenerschießung auf dem Territorium der Sowjetunion.

In Dnjepropetrowsk erschossen Angehörige der Stabskompanie von Friedrich Jeckeln und des Polizeibataillons 314 am 13. Oktober 1941 etwa 10.000 Juden.

Am 20./21. Oktober 1941 wurden in Mariupol mindestens 8.000 Juden durch den SD ermordet. (S. 1009)

Am 6. und 7. November 1941 wurde in Rowno die schon länger geplante „Judenaktion“ durchgeführt., bei der etwa 15.000 Juden erschossen wurden. Die Organisation lag in den Händen der Ordnungspolizei. Das Außenkommando Rowno des Einsatzkommandos 5 war an den Erschießungen maßgeblich beteiligt.

    Am 16. Dezember 1941 bis 8. Januar 1942 wurden in Charkiw über 9.000 Menschen durch das Sonderkommando 4a und Angehörige der Polizeibataillone 314 und des Polizeibataillons 9 (Berlin) erschossen.

Am 09-12. Januar 1942 wurden in Bachmut (Artemowsk) etwa 3.000 Juden von Angehörigen der Einsatzgruppe C ermordet, indem sie diese in den Stollen eines ehemaligen Gipsbergwerkes 50-70 Meter unter der Erde bei lebendigem Leib eingemauert hatten. Die Wände wurden abgesprengt, um die Tat zu vertuschen.

„Der Völkermord an den Juden in der Ukraine nahm entsetzliche Formen an. Juden wurden bei Pogromen, die ukrainische Kollaborateure und Antisemiten verübten, bestialisch ermordet. Diesen Pogromen, die selbst im Kontext des Holocaust unvergleichlich an Grausamkeit waren, fielen 25.000 bis 30.000 Juden in der Westukraine zum Opfer. Sie wurden im Dnjestr und im Südlichen Bug ertränkt, in Häusern, Synagogen, Baracken und Schweineställen verbrannt, in Steinbrüchen oder Alabastergruben eingemauert, lebendig in die Kohlenschächte des Donbass und in Brunnen geworfen. Sie starben qualvoll an Hunger, Kälte, Krankheiten, Quälereien und der alle Kräfte übersteigenden Zwangsarbeit in den Ghettos.“ (S. 29 f.)

„Mehrere europäische Länder gingen Bündnisse mit Deutschland ein und beteiligten sich an der Judenverfolgung. (…)

Aber auch das Schweigen und die Gleichgültigkeit der Welt haben zum Holocaust beigetragen. Das Ausmaß des Völkermordes hätte zumindest verringert werden können, wenn die westlichen Staaten sich zu einer Zeit eingemischt hätten, als Hitler die Tschechoslowakei und Österreich besetzt, wenn Amerika mehr Flüchtlinge aus Europa aufgenommen hätte, wenn Großbritannien mehr Juden nach Palästina gelassen hätte und wenn die Alliierten die nach Auschwitz-Birkenau führenden Gleise bombardiert hätten, als die ungarischen Juden dorthin gebracht wurden. (…)

Nachrichten über das gigantische Ausmaß des Mordens an den europäischen Juden erreichten Großbritannien und die USA bald nach Beginn der Vernichtungsaktionen. Der nichtjüdische Verbindungsmann des polnischen Untergrunds ging auf Bitte der jüdischen Untergrundorganisationen zweimal in da Warschauer Ghetto, wo er miteigenen Augen die schrecklichen Szenen beobachten konnte, die sich dort zutrugen. In der Uniformeines ukrainischen Wachmanns hielt er sich im Oktober 1942 im Lager Izbica Lubeska, einem Außenlager des Vernichtungslagers Belzec, auf. Über Frankreich, Spanien, Gibraltar erreichte er im November 1942 Großbritannien, wo er unter anderem mit Außenminister Anthony Eden zusammentraf. Von Juni bis August 1943 hielt er sich in den USA auf, wo er von Präsident Franklin D. Roosevelt empfangen wurde. In Großbritannien und in den USA beichtete er, wie die Deutschen ihren Plan der vollständigen Vernichtung der Juden umsetzten, und erklärte den Alliierten, dass allein ihre Einmischung die „Endlösung der Judenfrage“ stoppen könne. (…) Aber alles war vergebens – so schätzte Karski selbst die Resultate seiner diplomatischen Bemühungen ein. (…) Auch die Kirchen schwiegen, als es erforderlich gewesen wäre, gegenüber dem Völkermord unüberhörbar Stellung zu beziehen. (…) Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bewahrte lange Zeit sein Schweigen, obwohl es über Wissen aus erster Hand über die “Endlösung der Judenfrage“ verfügte. Erst 1990 wurde die ungeheuerliche Tatenlosigkeit der humanitären Organisation zugegeben.“ „Leider waren unter den „unbeteiligten Beobachtern“ auch internationale jüdische Organisationen und jüdische Gemeinden in der freien Welt.“ (S. 30 ff.)

„Die Gleichgültigen beteiligten sich nicht an den Morden – aber auch nicht an der Rettung. Aber, und dies beweist die Geschichte, neutrale, gleichgültige Menschen spielen stets den Aggressoren, den Unterdrückern du Henkern in die Hände, nicht den Opfern. (…) erinnern wir uns an die Worte von Albert Einstein: „Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben – nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen.““ (S. 47)

Der Kontext des deutschen Vernichtungskrieges und Bezüge zum Münsterland

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht mit über drei Millionen deutschen Soldaten in 113 Divisionen und hunderttausenden verbündeten Soldaten die Sowjetunion. Es war die größte Angriffsstreitmacht der Weltgeschichte. Die Heeresgruppe Süd griff mit 998.000 Soldaten den Großraum der heutigen Ukraine an, darunter die 6. Armee mit 14 Divisionen. Diese Verbände zogen 14 Monate lang eine Kriegsspur durch die Ukraine, bevor sie Stalingrad angriffen und dort vernichtet wurden. Zur 6. Armee gehörte die 16. Panzer-Division aus Münster, die im Sommer 1940 mit Masse aus der 16. Infanterie-Division (weitere Standorte u.a. Soest, Hamm, Rheine) gebildet worden war.[2] In diesen Oktobertagen vor genau 83 Jahren stieß die Münsterländische Division nach den Kesselschlachten von Kiew und am Asowschen Meer in den Raum südöstlich von Donezk.

Den Fronttruppen der Wehrmacht waren Wegbereiter der ihnen unmittelbar folgenden Einsatzgruppen (EG) von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst, die EG C (700 Mann) mit vier Sonder- bzw. Einsatzkommandos in der nördlichen und mittleren Ukraine, die EG D mit fünf Kommandos im Süden. Das Sonderkommando (SK) 4a (etwa 70 Mann) zog hinter bzw. neben der 6. Armee durch die Ukraine.

Geplant war ein neuer „Blitzkrieg“: Panzerverbände der Wehrmacht stießen schnell in die westliche Sowjetunion vor und schlossen in Kesselschlachten sowjetische Verbände mit hunderttausenden Sowjetsoldaten ein: bei Uman gerieten im August 1941 über 100.000 in deutsche Gefangenschaft, bei Kiew im August/September angeblich über 600.000 (51 Divisionen), bei der Schlacht am Asowschen Meer im September/Oktober über 100.000, bei der (zweiten) Schlacht bei Charkow im Mai 1942 um 240.000 Gefangene. Die 16. Panzer-Division aus Münster war beteiligt an den (Kessel-)Schlachten von Umam, Kiew, am Asowschen Meer, bei Charkiw. Bis Januar 1942 gerieten an der Ostfront 3,2 Mio. Menschen in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die Art der Unterbringung (oft in Erdhöhlen), unzureichende Ernährung und medizinische Versorgung führten im Lagersystem zu einem „kalkulierten Massensterben“, so Dieter Pohl. In manchen Lagern starben Ende 1941 2.000 Gefangene täglich. Die meisten Gefangenen gingen dem Historiker zufolge in der besetzten Ukraine zugrunde – mindestens 800.000. Bestimmte Gruppen von sowjetischen Kriegsgefangenen, vor allem Politfunktionäre und Juden, wurden sofort erschossen.

Die Ermordung der Juden war von Anfang an eng mit der Kriegsführung der Wehrmacht verbunden. Vereinbart war eine Arbeitsteilung zwischen Wehrmacht und SS- und Polizeieinheiten. Im vorderen Armeegebiet sollten kleine Sonderkommandos unter Kontrolle der Armeeoberkommandos agieren, in den Heeresgebieten dahinter personalstärkere Einsatzkommandos. Dabei sollten als „gefährlich“ markierte Zivilisten von SS und Polizei, „verdächtige“ Rotarmisten von der Wehrmacht erschossen werden.

„Das Militär hatte die Einsatzgruppen mit Quartier, Treibstoff, Lebensmittel und ggfs. Funkverbindungen zu unterstützen. Aufgrund dieser Absprachen operierten die mobilen Tötungseinheiten im Frontgebiet in ´einzigartiger` (Hilberg) Partnerschaft mit der Wehrmacht. (…) Vor dem Einmarsch in die Sowjetunion hatten alle Einsatzgruppen die Weisung erhalten, unauffällig großangelegte Ausschreitungen der Bevölkerung gegen Juden zu ´inspirieren`.“[3]

Die von Boris Zabarko aufgeführten Großmassaker an der jüdischen Bevölkerung stehen für ein Meer der Massenvernichtung an insgesamt 2.000 Orten auf dem Territorium der Ukraine. In der ersten Tötungswelle bis Ende 1941 ermordeten mobile Einheiten annähernd 100.000 Opfer pro Monat. Hier wurde der Holocaust durch Kugeln so schnell und radikal vollstreckt wie wohl in keinem anderen Abschnitt des deutschen Vernichtungskrieges. Führender Planer und Organisator war hier der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russland-Süd und General der Polizei Friedrich Jeckeln. Als HSSPF Russland-Nord und Ostland organisierte er am 30. November und 8. Dezember 1941 im besetzten Lettland die Liquidierung des Rigaer Ghettos mit der Ermordung von 27.500 jüdischen Menschen im Wald von Rumbula – um Platz zu schaffen für die angekündigten Deportationszüge aus dem „Großdeutschen Reich“. Aus Ibbenbüren wurden Klara Dieckmann mit dem Münsteraner Zug, Ella Goldschmidt mit dem Kölner und Felix Rosenthal mit dem Düsseldorfer Zug nach Riga verschleppt. Dort sind sie verschollen, durch Haftbedingungen oder Erschießungen ermordet worden.

Dem deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg fielen in der Ukraine mindestens acht Millionen Menschen, ein Viertel der Gesamtbevölkerung, zum Opfer darunter fünf Millionen Zivilisten, 1,5 Millionen Juden – ein Viertel der europäischen Holocaust-Opfer.

Nie wieder wehrlos, nie wieder allein! Historische und friedenspolitische Verantwortung statt Geschichtsvergessenheit und Holocaust-Ignoranz

Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies/München: „Die Vorstellung, dass, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind, der Krieg vorbei ist, stimmt nicht. Das hat die historische Forschung gezeigt. Ein Beispiel wäre das deutsche Besatzungsregime in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges. Da ist die Zahl der Toten höher nach dem Ende der Kampfhand-lungen gewesen. Das Morden, das Versklaven, der Terror gingen weiter.“[4]

Der Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, Einsatzgruppen und Polizeibataillone repräsentierte eine völkermörderische Energie und Professionalität, die jeden zivilen Widerstand zermalmte und nur militärisch zu stoppen war. Die Befreiung Europas vom NS-Terror war nur möglich dank allergrößter Widerstandsbereitschaft der Alliierten. Für die erfolgreichen Gegenoffensiven der Roten Armee, die zunächst die Hauptlast trug, waren die Waffenlieferungen der USA nach dem Leih- und Pachtgesetz von 1941 von ausschlaggebender Bedeutung.[5]

Das völlig richtige „Nie wieder!“ mündet in Deutschland meist in Aufrufen gegen Krieg, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Diese Aufrufe sind notwendig und richtig, aber unzureichend. Denn sie bleiben bei der Auseinandersetzung um Grundeinstellungen und Aufklärungsarbeit stehen, lassen aber außer Acht, was notwendig ist gegenüber Akteuren und Machthabern, die ihren Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Demokratieverachtung rücksichtslos und mit Gewalt durchsetzen.

Bei den von Nazi-Deutschland überfallenen und – vor allem östlichen – verheerten europäischen Nachbarn ist aus den 1930er und 1940er Jahren bei vielen eine Konkretisierung des „Nie wieder!“ eingebrannt: „Nie mehr wehrlos sein, nie mehr allein sein!“ – zum Schutz der eigenen territorialen Unversehrtheit, nationalen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. In der VN-Charta von 1945 schlug sich die Schlüsselerfahrung der Überfallenen schon in Artikel 1 nieder, wo als erstes Ziel der VN genannt wird, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.“  In Deutschland ist diese Grunderfahrung der europäischen Nachbarn bemerkenswert wenig präsent.

Erinnerungsarbeit und -politik läuft oft unter der Überschrift „Erinnern für die Zukunft“. Die jüngere Losung „Nie wieder ist JETZT!“ macht deutlich, dass jetzt dringend auch „ERINNERN FÜR DIE GEGENWART!“ gefragt ist: Wer wahrnimmt, was deutsche Krieger und Massenmörder den Menschen in der Ukraine ab 1941 angetan haben, sollte erkennen, dass die Nachkommen der deutschen (Mit-)Täter-generation den Nachkommen der ukrainischen Überfallenen am wenigsten Hilfe zur Selbstverteidigung verweigern dürften, ja dass vor allem sie zu verlässlicher und konsequenter Solidarität und Überlebenshilfe verpflichtet sind.

Die Auseinandersetzung um das Für und Wider (bestimmter) Waffenlieferungen an die Ukraine und die Notwendigkeit und Möglichkeit von Verhandlungen mit dem Aggressor sind legitim und notwendig. Nach mehr als zweieinhalb Jahren des russischen Terrorkrieges gegen die Ukraine verfestigt sich aber bei mir der Eindruck, dass für einen großen Teil der Gegner von Waffenlieferungen und Befürwortern von Verhandlungen die traumatischen Erfahrungen der Menschen in der Ukraine mit dem stalinistischen Holodomor und dem nazistischen Holocaust und Besatzungsterror praktisch keine Rolle spielen. Gegenüber der Ukraine wird geradezu eine Holocaust-Ignoranz fortgesetzt, wie sie in der Zeit der Sowjetunion praktiziert wurde. Anders kann ich mir die gnadenlose Empathielosigkeit gegenüber der überfallenen Ukraine nicht erklären, wie sie am 3. Oktober bei einer „bundesweiten Friedensdemonstration“ in Berlin mit Sarah Wagenknecht als Hauptrednerin zum Ausdruck kam.[6]

Als höchst irritierend und beunruhigend empfinde ich, wie sehr im Westen, auch in Deutschland die Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine schrumpft. Vor dem dritten Kriegswinter wird die Lage der Überfallenen zunehmend kritisch: Im Oktober eroberten die Invasionstruppen knapp 480 Quadratkilometer, in ganz 2023 waren es 600. Der gezielte Beschuss der Energieinfrastruktur zerstörte bzw. beschädigte 80% der Kraftwerke. Den Verteidigern fehlt es an Soldaten, Waffen und Munition. Der russische Angreifer erhalten reichlich Drohnen aus dem Iran, Munition und Waffen aus Nordkorea – und inzwischen auch rund 10.000 Soldaten für den Kriegseinsatz. Die „Achse der Autokraten“ legt zu bei ihrer Beihilfe zum Angriffskrieg. Reichweitenbegrenzungen für die gelieferten Waffen sind nicht erkennbar.

Näheres zu Shoa-Überlebenden in der Ukraine: https://kontakte-kontakty.de/shoa-ueberlebende-in-der-ukraine/

[1] Winfried Nachtwei, Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung – Deutscher Vernichtungskrieg in der Ukraine 1941-43 und russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt, 11.04.2022, https://domainhafen.org/2022/04/10/zwischen-geschichtsvergessenheit-und-historischer-verantwortung-der-deutsche-vernichtungskrieg-in-der-ukraine-1941-43/ ; Ders., Nie mehr wehrlos und allein sein – Bloodlands Ukraine: von traumatischen Erfahrungen ab 1941 und ihre Folgen, die bis heute wirken, 03.03.2023, https://domainhafen.org/2023/04/06/bloodlands-ukraine-und-oesterliche-friedensappelle-aus-geschichte-nichts-lernen/

[2] Winfried Nachtwei, Stalingrad vor 80 Jahren nach 14 Monaten Krieg in der Ukraine. Tat- und Opferspuren der 16. Panzer-Division aus Münster, Speerspitze im Vernichtungskrieg, vernichtet in Stalingrad, 12/2022, 23 Seiten, www.domainhafen.org

[3] Werner Müller in Boris Zabarko a.a.O., S. 58

[4] Interview in der taz vom 12.04.2022, https://taz.de/Osteuropa-Expertin-zu-Russlandpolitik/!5845124/

[5] Sven Felix Kellerhoff, US-Hilfe – Stalins amerikanische Laster, Welt 24.04.2009, https://www.welt.de/kultur/article3618336/US-Militaerhilfe-Stalins-amerikanische-Laster.html

[6] Winfried Nachtwei, Frieden und Solidarität für und zu wem? Anmerkungen zu einer „bundesweiten Friedensdemonstration“ am 3. Oktober in Berlin, 30.09.2024, https://domainhafen.org/2024/09/30/frieden-solidaritaet-fuer-und-mit-wem-anmerkungen-zu-einer-bundesweiten-friedensdemonstration-am-3-oktober-in-berlin/

 

Translate »