Bei einer GeDENKveransaltung der Friedensinitiative Nottuln bei Münster hielt ich einem Vortrag zum Rigaer Ghetto, dem „Auschwitz der westfälischen Juden“. Am Schluss kam ich auf die Befreier des Vernichtslager Auschwitz zu sprechen, eine Division der 1. Ukrainischen Front …
- Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar – Wer waren die Befreier? Winfried Nachtwei, 28.01.2024 (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Am Abend des 27. Januar, dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, lud die Friedensinitiative Nottuln zu einer GeDENKveranstaltung in die Alte Amtmannei in Nottuln bei Münster ein. In meinem Vortrag „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“ berichtete ich über den Leidensweg der 390 jüdischen Menschen aus dem Münsterland, die Ende 1941 in das „Reichsjudenghetto“ Riga deportiert worden waren – wie weitere rund 25.000 jüdische Menschen aus dem damaligen Deutschen Reich.
1989 waren meine Frau Angela und ich im noch sowjetisch besetzten Riga auf die Spuren des ehemaligen Ghettos gestoßen. Im Mai 2000, vor 25 Jahren, kamen unter der Schirmherr-schaft von Bundespräsident Johannes Rau die Oberbürgermeister von 13 Hauptherkunfts-orten der Deportationen zusammen und gründeten mit Unterstützung des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge das Deutsche Riga-Komitee. Der Volksbund und das Riga-Komitee ermöglichten, dass am Ort der Ermordung von mindestens 35.000 Menschen eine würdige Gedenkstätte errichtet wurde. Inzwischen gehören dem einzigartigen Erinnerungsnetzwerk Riga-Komitee mehr als 80 Städte an, Nottuln seit 2020. Riga war – so der Historiker Diethard Aschoff – „das Auschwitz der westfälischen Juden“. (Video des Vortrags unter https://www.youtube.com/watch?v=dwBz2iP47HY ) Am Schluss erinnerte ich an den 99-jährigen Ghetto- und KZ-Überlebenden, Historiker und Freund Margers Vestermanis in Riga, dessen Eltern, Bruder und Schwester die Nazis in den ersten Monaten der deutschen Besatzung ermordet hatten und der am 9. Mai 1945 seine Befreiung durch die Rote Armee erlebte.
Vor genau 80 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die 322. Infanterie-Division der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Die sowjetischen Soldaten trafen noch auf 7.600 Überlebende. Im Magazin des riesigen Lagerkomplexes fanden sie 843.000 Männermäntel, 837.000 Frauenmäntel, 7,7 Tonnen Haare – Überreste von Hunderttausenden vergasten, erschossenen, verbrannten Menschen. (Dokumentarfilm „Die Befreiung von Auschwitz“ mit Originalaufnahmen und dem überlebenden Kameramann Alexander Woronzow vom 27. Und 28. Januar 1945, von Irmgard von zur Mühlen 1985: https://vimeo.com/126006820 )
Die 1. Ukrainische Front war eine Hauptformation („Front“) der Roten Armee, die mit drei weiteren Ukrainischen Fronten die Ukraine zurückeroberten. Ihre Vorgängerin war die im Juni 1942 aufgestellte Woronesch-Front. Sie kam erst bei der Schlacht um das über 200 Tage von der Wehrmacht besetzte russische Woronesch (unweit des Don, 490 km südöstlich Moskau und 300 km nordöstlich Charkiw) zum Einsatz, dann bei Verteidigungsoperationen gegen Angriffe der deutschen 6. Armee auf Stalingrad, dann bei der Umzingelung der 6. Armee in Stalingrad, dann der 3. Schlacht um Charkiw und der Befreiung der östlichen Ukraine. Am 20.10. 1943 wurde sie nach ihrem Einsatzraum in 1. Ukrainische Front umbenannt. Sie bestand aus Angehörigen verschiedener Völker der Sowjetunion. Die Front befreite am 06.11.1943 Kiew und dann Gebiete, wo im ersten Halbjahr der deutsche Holocaust durch Kugeln gewütet hatte: In Kiew Ende September 1941 33.771 ermordete jüdische Menschen, im September 1941 in Berditschew 19.000 und in Winniza 15.000 Menschen, im August 1941 in Kamenez Podolski 23.600, erschossen durch kleine Sonderkommandos, unterstützt von Polizeibataillonen. 1941 war die 16. Panzer-Division aus Münster über 14 Monate Teil des deutschen Angriffskrieges auf dem Boden der Ukraine, damit auch Wegbereiter des Vernichtungskrieges, und schließlich ab August 1942 „Speerspitze der 6. Armee“ beim Angriff auf Stalingrad. („Stalingrad vor 80 Jahren: Tat- und Opferspuren“, https://domainhafen.org/2023/01/09/stalingrad-vor-80-jahren-nach-14-monaten-krieg-in-der-ukraine-tat-und-opferspuren-der-16-panzer-division-aus-muenster-speerspitze-im-vernichtungskrieg-vernichtet-in-stalingrad/ )
1944 und 1945 war die 1. Ukrainische Front an den entscheidenden Schlachten in der Ukraine, Polen, Deutschland und der Tschechoslowakei beteiligt. Ihr Befehlshaber war ab Mai 1944 der Marschall der Sowjetunion Iwan Konew. Neben der nördlich von ihr operierenden 1. Weißrussischen Front war sie die größte und stärkste aller sowjetischen Fronten (rund 20 in den letzten Kriegsjahren für Frontabschnitte von 250-300 km mit einer Division auf 2-2,5 km).
Am 27. Januar 1945 befreite die 322. Infanterie-Division der 60. Armee der 1. Ukrainischen Front 7.600 schwer kranke Überlebende im evakuierten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Für viele kam jede Hilfe zu spät. Etwa 56.000 marschfähige Häftlinge aus dem Stammlager, Birkenau, Monowitz und vielen Nebenlagern waren vorher von der SS auf Todesmärsche abgeführt worden. Nach jüngsten Forschungen wurden von 1940-1945 mindestens 1,3 Millionen Menschen nach Auschwitz deportiert, 1,1 Millionen von ihnen starben. Die meisten wurden nach ihrer Ankunft mit Giftgas ermordet und verbrannt. Andere wurden zu Tode gefoltert, erschossen, mussten arbeiten bis zum Tod vor Entkräftung und Hunger. Etwa eine Million der Getöteten waren jüdische Menschen. Auch mindestens 70.000 Polen, 21.000 Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene und 10.000 Tschechen, Belarussen und andere Opfer kamen in Auschwitz ums Leben – der größten „Todesfabrik“ der Nationalsozialisten.
Am 16. April 1945 begann die Schlacht zur Eroberung Berlins, wo sich noch zwei Millionen Zivilisten befanden, mit dem Angriff der 1. Weißrussischen Front vom Osten/Norden und der 1. Ukrainischen Front von Südost mit über 2 Mio. Soldaten, über 6.000 Panzern, 7.500 Flugzeugen. Am 25. April schlossen die 1. Ukrainische und 1. Weißrussische Front im Wesen den Ring um Berlin. Bei Torgau an der Elbe trafen Truppen der 1. Ukrainische Front erstmalig auf US-Truppen. Am 26. erreichten Truppen der 1. Ukrainischen Front Tempelhof und Neukölln, am 27. die Potsdamer und Kurfürstenstraße, am 28. das Stadtzentrum. Der bis zum 2. Mai dauernden Schlacht um Berlin fielen allein mindestens 30.000 Soldaten der 1, Ukrainischen Front insgesamt über 170.000 Soldaten sowie mehrere zehntausend Zivilisten zum Opfer. (vgl. den Dokumentarroman „Berlin“ von Theodor Plevier, erstmalig 1954 erschienen. Der Autor des Romans „Stalingrad“ hatte hierfür Hunderte Menschen interviewt, die den Kampf um Berlin erlebt hatten.) Nach der Kapitulation Berlins befehligte Konew seine Truppen nach Böhmen, die am 9. Mai in Prag einmarschierten. Erst im Kontext des Zerfalls der Sowjetunion wurde bekannt, dass die Befreiung Prags vom deutschen Terror unter Konew mit massiven Kriegsverbrechen einherging, darunter der Verschleppung von mehr als zehntausend Tschechen in Straf- und Arbeitslager.
Am 26. Juni 1945, drei Monate nach der Befreiung von Auschwitz und 49 Tage nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands, unterzeichneten 50 Gründungsstaaten in San Franzisko die Charta der Vereinten Nationen. Vielen war bewusst, dass in den Dreißigerjahren
– viel zu wenige das rasant anwachsende Bedrohungspotenzial Nazi-Deutschlands erkannt und die meisten es verdrängt hatten, in den politischen Eliten wie in den Gesellschaften;
– die Nachbarn Deutschlands vereinzelt agierten, nicht zusammenfanden und militärisch untergerüstet und wehrlos waren.
So wurde das hochgerüstete, kriegsfähige und fanatische Nazi-Deutschland regelrecht eingeladen, die europäischen Nachbarn, einen nach dem anderen, zu überfallen, zu besetzen, im Osten mit Vernichtung zu überziehen. Nach dem internationalen Versagen bei rechtzeitiger kollektiver Friedenssicherung konnte der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg nur unter immensen Anstrengungen und Opfern gestoppt und das fanatische NS-Terrorsystem besiegt und vernichtet werden. Die Sowjetunion, die Menschen ihrer vielen Völker trugen die bei weitem größte Last des Verteidigungskrieges.
Die Charta der Vereinten Nationen bringt die zentralen Schlussfolgerungen aus Weltkrieg und Völkermorden auf den Punkt:
– Internationales Gewaltverbot!
– Friedenspflicht mit der Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, internationaler Zusammenarbeit und Problemlösung, friedlicher Streitbeilegung
– Aber auch: Vorkehrungen für wirksame Kollektivmaßnahmen, um Bedrohungen der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens zu verhüten, zu beseitigen und Angriffs-handlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken, und sich dabei gegenseitig zu unterstützen und beizustehen: Kollektive Friedenssicherung!
Das völlig richtige NIE WIEDER bleibt ein frommer Wunsch, wenn er nicht das NIE WIEDER WEHRLOS! NIE WIEDER ALLEIN! einschließt. Demokratie UND Frieden müssen wehrhaft sein.
Bei der Nottulner Gedenkveranstaltung berichtete dann der ehemalige CDU-Ratsherr Günter Schulze Bisping lebhaft von zwei eindrücklichen Riga-Reisen, den Spuren einer düsteren Vergangenheit, aber auch der Schönheit und Buntheit der alten Hansestadt. (Video auf https://www.youtube.com/watch?v=dmmNsa8n_NQ