Er war von 2004-2010 der neunte deutsche Bundespräsident. Er starb am 1. Februar 2025.
Großer Verlust für eine Welt, die dringend Vereintere Nationen braucht – Erinnerungen an Begegnungen mit Bundespräsident Horst Köhler , Winfried Nachtwei (02.02.2025)
Von 2004 bis 2010 war Dr. Horst Köhler der neunte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Er starb am 1. Februar 2025. Am 23. Mai 2004 und 2009 war ich Mitglied der Bundesversammlung und an der Bundespräsidentenwahl beteiligt. Wie meine Fraktion stimmte auch ich damals für Gesine Schwan und nicht für Horst Köhler.
Bundespräsiden Frank-Walter Steinmeier nannte jetzt Horst Köhler zu Recht „Ein Glücksfall für unser Land“, der viel Anerkennung und Sympathie erwarb, sich konkret für soziale Gerechtigkeit und internationale Verantwortung einsetzte und insbesondere leidenschaftlich für Afrika eintrat. Horst Köhler war glaubwürdig dem globalen Gemeinwohl verpflichtet und stand als solcher im konträren Gegensatz zu den Egozentrikern der Macht, die inzwischen weltweit gegen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und gemeinsame Sicherheit aufmarschieren.
Ich durfte ihm zweimal näher begegnen: Am 21. Oktober 2015 anlässlich 70 Jahre Vereinten Nationen und am 6. Oktober 2009 im Schloss Bellevue bei einem Gespräch zum Afghanistaneinsatz.
Große Rede von Altbundespräsident Köhler beim DGVN-Festakt zu 70 Jahren Vereinte Nationen, Winfried Nachtwei, MdB a.D., Vorstandsmitglied der DGVN (24.10.2015) http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=1&catid=29-99-120-134&aid=1375
Die Vereinten Nationen wurden vor 70 Jahren „nicht gegründet, um der Menschheit den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu bewahren“ – so der britische Premierminister Winston Churchill und der zweite UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Heute sind die VN dringlicher denn je: Wirksamere Vereinte Nationen gegen die Kriegsbrände, humanitären Großkatastrophen und globalen Herausforderungen.
Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hielt auf dem Festakt der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) zum 70-jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen am 21. Oktober 2015 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche die Festrede vor ca. 500 Gästen, darunter Botschaftern bzw. Gesandten aus 36 Ländern: „Abschied vom Menschheitstraum? Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert“. Es war eine herausragende, wirklich große Rede, eine nachdenkliche, selbstkritisch-ehrliche, ermutigende Ruck-Rede an die Regierungen und Zivilgesellschaften, die Chancen der Vereinten Nationen endlich besser zu nutzen.
„Die Gründung der Vereinten Nationen vor 70 Jahren war kein Selbstläufer, sondern sie war das Ergebnis von politischem Willen, einer mutigen Vision und knallhartem Pragmatismus. Dass die UN seitdem überlebt hat, trotz aller Paradoxien, auch durch die schwierigsten Zeiten hindurch, dass sie es noch dazu geschafft hat, von einer Organisation einiger Dutzend Siegermächte zu einer echten Weltorganisation aller Staaten zu werden, das haben wir auch der Weitsicht, dem Verhandlungswillen und dem Verhandlungsgeschick zu verdanken, mit denen 1945 in San Francisco die Charta verfasst wurde.“ (…)
Im vergangenen Jahrzehnt hätten wir „eine Interventionspolitik gesehen, die einem angesichts ihrer Kurzsichtigkeit und, ja, Inkompetenz den Atemverschlägt. Die Leidtragenden sind jetzt Millionen Frauen, Männer und Kinder besonders im Nahen Osten – und natürlich muss die Suppe wieder vor allem die VN auslöffeln.“ Die Liste der globalen Herausforderungen, die sich um Staatsgrenzen nicht scheren, sei lang: Terrorismus, Ebola, Klimawandel, Migration … „All diese Themen rufen nach einer global governance, deren Ziel sich nicht mehr darauf beschränkt sicherzustellen, dass die nationalstaatlichen Boote nicht miteinander kollidieren, sondern welche die Weltpolitik in dem einen Boot koordiniert, in dem alle Völker längst sitzen. Diese Tatsache erfordert, den Begriff des nationalen Interesses neu zu denken, denn unsere Interessen sind längst so sehr miteinander verwoben, dass es tatsächlich so etwas wie ein globales Interesse, ein globales Gemeinwohl gibt.“ Die VN seien das „dickste aller Bretter, das es zu bohren gilt. Langsam und geduldig, an vielen Stellen gleichzeitig. (…) Es wäre (..) ein Fehler, die VN nur unter der Bedingung ernst zu nehmen, dass sie sich reformiert. Erst umgekehrt wird ein Schuh daraus: wenn die Mitgliedsstaaten den Multilateralismus und damit die Vereinten Nationen wieder ernst nehmen und echtes politisches Kapital investieren, dann wird es auch zu Reformen kommen können.“
Eine so orientierungsstarke und wichtige Rede habe ich zur internationalen Politik seit Jahren nicht gehört. Sie verdient breiteste Beachtung – nicht zuletzt auch beim gegenwärtigen Weißbuchprozess des Verteidigungsministeriums. (Der Redetext unter https://dgvn.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2015/Heft_6_2015/08_Rede_K%C3%B6hler_VN_6-15_26-11-2015.pdf
Für politisch skandalös halte ich allerdings die Null-Berichterstattung über die Rede in den deutschen Tagesmedien. Warum erhalten Hetzreden bei Pegida breiten medialen Resonanzraum, während eine solche bedeutende Hoffnungsrede trotz breiter Vorabinformation der Presse ausnahmslos (!) ignoriert wird? (Dass dies kein bloßes Tagesversäumnis war, zeigt die „verlässliche“ Nichtberichterstattung über die friedenspolitischen Großereignisse der inzwischen drei „Tage des Peacekeepers“ in Deutschland wie auch den „Leaders` Summit on Peacekeeping“ mit seinen spektakulären Blauhelm-Zusagen am 28. September in New York.)
Einstündiges Gespräch mit Bundespräsident Dr. Horst Köhler am 6. Oktober 2009 im Schloss Bellevue über die Lage in Afghanistan + mein Brief „Afghanistan – wie weiter?“.
Bundespräsident Köhler lud mich zu dem Gespräch ein, nachdem ich mich bei einer Begegnung nach der Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr im Bendler-Block bei ihm zu seiner Überraschung „aus dem Parlament abgemeldet“ hatte. Hier mein nachträglicher Brief an ihn:
„Afghanistan – wie weiter?“ Münster, 08.11.2000
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Köhler,
nachdem ich das Mandat zurückgegeben und mein Büro aufgelöst habe, möchte ich Ihnen zuallererst danken für die Ehre des Gesprächs mit Ihnen, vor allem aber für Ihr tiefes menschliches Interesse an den Frauen und Männern, die Bundesregierung und Bundestag nach Afghanistan entsenden, und für Ihr Drängen auf einen Einsatz, der wirklich auch Sinn macht.
Sie fragten mich zum Abschluss des Gespräches, was ich Ihnen empfehlen könnte. Spontan konnte ich darauf nur ansatzweise antworten. Nachdem mit der Koalitionsvereinbarung und der Vereidigung der Bundesregierung die deutschen Rahmenbedingungen klarer sind, möchte ich jetzt überlegt auf Ihre Frage antworten. Ich tue das vor dem Hintergrund eines Parteitages der Bündnisgrünen vor zwei Wochen in Rostock, wo wir über zwei Stunden kontrovers und differenziert über Afghanistan debattierten, Anträge zu einem Sofortabzug mit sehr großer Mehrheit ablehnten und die Erarbeitung eines Aufbauplans und einer (militärischen) Abzugsperspektive forderten. Dass ich nach meiner Afghanistan-Rede stehenden Beifall erhielt, nahm ich ermutigend zur Kenntnis.
In der Koalitionsvereinbarung heißt es zu Afghanistan: „Die Bundesregierung wird auch weiterhin einen der Bedeutung dieser Aufgabe angemessenen Beitrag leisten.“ Diese Formulierung beunruhigt mich, weil der deutsche Beitrag – bei aller Hochleistung vieler Einzelner – der Bedeutung der Aufgabe eben nicht angemessen ist. Chancen sehe ich hingegen bei einem neuen Verteidigungsminister, bei dem sich außen- und sicherheitspolitische Kompetenz, intellektuelle wie politische Eigenständigkeit und öffentliche Kommunikationsfähigkeit hoffnungsvoll ergänzen. Deutsche Afghanistan-Politik braucht zuallererst Ehrlichkeit – in der Sicht der Dinge und in der Sprache. Ohne sie ist ein politisches und menschliches Desaster vorprogrammiert.
- Laufende Unterrichtung und offene Debatte:
Überfällig und vordringlich ist eine klare, realitätsnahe und differenzierte Wahrnehmung der Lage in Afghanistan. Bisher ist unsere Wahrnehmung bruchstückhaft, oft verzerrt und einseitig, geprägt von „bad news“ und Einzelereignissen. Die Kluft wächst zwischen der regierungsoffiziellen Sicht der Dinge einerseits und der viel skeptischeren Sicht vieler Experten in Uniform oder Zivil andererseits.
Die Bundesregierung ist in der Pflicht, das Parlament und die Öffentlichkeit regelmäßig über die Entwicklung der Sicherheitslage, vor allem im deutschen Verantwortungsbereich zu informieren. Bisher begnügt man sich damit, in den vertraulichen „Unterrichtungen des Parlaments“ die jüngsten Sicherheitsvorfälle zu berichten. Darstellungen von Trends, Schwerpunkten gibt es nur für die Obleute von Auswärtigem und Verteidigungsausschuss in der periodischen Geheimunterrichtung des BMVg. Es ist ein Unding, dass ich – laut www.geopowers.com vom 19. August 2009 – in der ganzen Republik der Einzige sein soll, der „über die Sicherheitssituation in Afghanistan umfassend, fakten-basiert mit Zahlen und Daten fleißig berichtet“.
Wo es keine systematische und kontinuierliche Lagedarstellung gibt, fehlt es bei schlimmen Einzelereignissen an Einordnungsfähigkeit und werden hysterische Reaktionen begünstigt. Auf der anderen Seite kann so eine bedrohliche Entwicklung lange verborgen bleiben. Ein deutliches Beispiel dafür ist das rasante Abrutschen der früheren Hoffnungsprovinz Kunduz, wo vor zweieinhalb Jahren vielleicht ein Dutzend mutmaßliche Terroristen ihr Unwesen trieben, heute aber viele Hundert Aufständische die Mehrzahl der sechs Distrikte kontrollieren sollen. Beispielhaft sind die Halbjahresberichte des US-Verteidigungsministeriums an den Kongress „Progress foward Securiy and Stability in Afghanistan“, zuletzt Juni 2009. (www.defencelink.mil/pubs)
Überfällig ist eine „Aufbaulage“, nach der ich bisher immer vergeblich gefragt habe. Über die – oft bewundernswerten – Einzelprojekte hinaus müssen wir wissen und bewerten können, was in zentralen Bereichen von Aufbau und Entwicklung gemessen an der Ausgangslage und den Herausforderungen wie Erwartungen (nicht) geleistet wurde. Beispielhaft ist hier die kanadische Regierung mit ihren Quartalsberichten „Canada`s Engagement in Afghanistan“ an das Parlament, zuletzt der 5. Bericht vom September 2009, mit der Übersicht zu den sechs Prioritäten und drei „Signature Projects“. (www.afghanistan.gc.ca)
Die öffentliche Afghanistan-Debatte ist auf die Wortmeldungen der Afghanistan-Praktiker angewiesen, nicht erst mit Buchveröffentlichungen einige Jahre danach, sondern aktuell. Der faktische Maulkorb z.B. für Bundeswehrangehörige ist aus Sicherheitsgründen nicht nötig, faktisch kontraproduktiv und mit dem Anspruch des Staatsbürgers in Uniform kaum vereinbar. Die öffentliche Debatte ist auf den Sachverstand und die Erfahrungen unserer Militärs angewiesen. Der Primat der zivilen Politik, zumindest einer souveränen, wäre dadurch keineswegs gefährdet. Wenn in kleinem Kreis sich manche Offiziere sehr viel kritischer zu den Bedingungen und Aussichten des Einsatzes äußern als gegenüber dem Verteidigungsausschuss, geschweige in der Öffentlichkeit, dann ist das ausgesprochen beunruhigend.
- Bestandsaufnahme:
Am Vorabend des 9. (!) Jahres des internationalen und deutschen Afghanistan-Engagements, angesichts seiner düsteren Aussichten und der sogar in Großbritannien und USA wegbrechenden öffentlichen Zustimmung ist eine umfassende, ungeschönte und unabhängige Bilanzierung und Überprüfung dieses Engagements zwingend erforderlich – auf internationaler Ebene, aber auch auf deutscher Seite. Hier darf sich die Bundesrepublik nicht hinter dem Multilateralismus verstecken!
Nur mit einer solchen unabhängigen Überprüfung besteht die Chance, bisherige Beschönigungen und Halbherzigkeiten zu überwinden, das Steuer herumreißen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen zu können. Letzteres wird dadurch erschwert, dass die äußerst verwickelten und unterschiedlichen Entwicklungen im fragmentierten Afghanistan auch für interessierte Bürger eine permanente Überforderung darstellen.
Der Anstoß für diese Überprüfung kann nur von oben und außen kommen, nicht „aus dem Apparat“. Hilfreich wäre, wenn Politiker, die seit 2001 für deutsche Afghanistan-Politik zuständig waren, mit der Überprüfung anfangen, vor der eigenen Tür kehren würden. Statt des üblichen Karussells der Schuldzuweisungen sollte sich jeder an die eigene Nase fassen. Seit geraumer Zeit beginne ich meine Kritik an der gegenwärtigen Afghanistan-Politik mit rot-grüner Selbstkritik, mit der damals begonnenen naiven Unterschätzung der gigantisch-komplexen Herausforderung des internationalen Stabilisierungs- und Aufbauprojekts Afghanistan. Eine Bestandsaufnahme steht wegen der z.T. galoppierenden Verschlechterung der Sicherheitslage und der Ausweitung des Taliban-Einflusses unter erheblichem Zeitdruck. Deshalb sollte mit der besonders kritischen Provinz Kunduz begonnen werden. Denn hier kommt es darauf an, die etwas ruhigeren Wintermonate zu nutzen.
- Interessen, Verantwortung, Ziele:
Trotz aller UN-Sicherheitsrats-Resolutionen und Bundestagsbeschlüsse kann von Einigkeit, warum und wofür wir in Afghanistan sind, keine Rede sein. Hier ist Klarstellung und Verständigung dringend notwendig.
Was geht uns der Hindukusch an? Es geht dort um eine „Bedrohung für internationale Sicherheit und den Weltfrieden“, um kollektive Sicherheit, an der die Bundesrepublik als Mitglied der UN-Staatengemeinschaft ein elementares Interesse hat und für die sie in der Mitverantwortung steht. Das kollektive Sicherheitsinteresse wird noch deutlicher, wenn wir Afghanistan in seiner Nachbarschaft sehen, zuerst dem wankenden Atomwaffenstaat Pakistan. Es geht dort meiner Auffassung nach nicht um eine Art erweiterte Landesver-teidigung, wie es das geflügelte Wort von Peter Struck nahelegte. Das überschätzt das Bedrohungspotenzial von Taliban und anderen Aufständischen speziell für die Bundesrepublik. Das halbherzige deutsche Engagement am Hindukusch dementierte übrigens ständig den hohen Anspruch, dort werde Deutschland verteidigt.
Die zunehmend nationale Sicht des Afghanistan-Einsatzes schlug sich nieder in einer militärfixierten und deutschen Nabelschau, wo im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit deutsche Soldaten und deutscher Verantwortungsbereich stehen, wo kaum oder gar nicht wahrgenommen werden die Arbeit der Entwicklungshelfer, die Opfer unter afghanischen Zivilisten, Polizisten, Soldaten in Kunduz, die Lage in ruhigeren Provinzen des Nordens oder in den Kriegsprovinzen im Süden und Osten.
Geostrategische Interessen spielen historisch wie aktuell bei Afghanistan eine zentrale Rolle, werden in der deutschen Politik aber kaum thematisiert. Gegner des Afghanistan-Einsatzes, aber auch etliche Afghanen sehen bei USA und ISAF hingegen ausschließlich geostrategische Interessen am Werke und bezeichnen Sicherheitsinteressen und internationale Verantwortung als vorgeschoben. Hier ist Klärung und Klarstellung angesagt.
Eine viel zu geringe Rolle spielt inzwischen die Kategorie „Verantwortung“, als sei das schlichtes Gutmenschentum. Vor mehr als einem Jahr habe ich in einem Interview der Deutschen Welle für deren afghanische Hörerinnen und Hörer daran erinnert, dass zumindest Westdeutschland nach dem selbst verschuldeten Krieg gegen die europäischen Nachbarn ein unglaubliches Glück hatte mit seinen großzügigen Siegermächten. Ist es da nicht unsere Pflicht, etwas von diesem historischen Glück weiterzugeben an das afghanische Volk, das jahrzehntelang unter Krieg und Gewalt leiden musste?
Schließlich die Ziele von Aufbau- und Entwicklungsunterstützung: Sie müssen realitätsnah sein im Hinblick auf den afghanischen Kontext. Sie müssen ehrgeizig sein im Hinblick auf unsere Anstrengungen. Sie müssen überprüfbar sein, damit wir überhaupt Wirksamkeiten erkennen können.
- Zeitdruck:
Aufbau und nachhaltige Entwicklung brauchen Zeit, langen Atem, erst Recht gesellschaftlicher Wandel. Darüber dürfen aber nicht die „Fenster der Gelegenheit“ übersehen werden, Zeitfenster, die sich schnell wieder schließen können.
In Afghanistan wurden zuerst in der Startphase von UNAMA und ISAF viele Chancen vertan. Als vier Jahre danach ISAF in Helmand und Kandahar ankam, hatten sich die Taliban schon wieder reorganisiert. Als ich vor mehr als drei Jahren nach einer Reise nach Nord-Afghanistan erstmalig vor einem „Afghanistan auf der Kippe?“ warnte, als wir auf eine erhebliche Verstärkung der Polizeihilfe drängten, als ich im August 2007 vor einem Desaster bei EUPOL warnte, geschah immer nur ein wenig, mehr nicht. In der Exekutive scheint die Einstellung vorzuherrschen, wir hätten noch viel Zeit.
Ich neige dagegen der Einschätzung von General McChrystal dazu, dass wir nur noch wenig Zeit haben, eine Wende zum Besseren erreichen und ein großes Scheitern verhindern zu können. Insgesamt beunruhigt mich nach 15 Jahren Bundestag das ausgesprochen langsame Lernen in der Politik. Wir bleiben immer mehr hinter der Dynamik der Problementwicklungen zurück. Sie betonten bei der Feierstunde zum Mauerfall völlig richtig: „Die großen Menschheitsaufgaben warten nicht.“
- Unsere „Afghanen“:
Zurzeit arbeiten in Afghanistan mehr als 4.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten, mehr als 200 Deutsche und andere Internationale sowie ca. 2.200 Einheimische bei deutschen Durchführungsorganisationen und NGO`s, mehr als 100 Polizisten und einige Dutzend AA-Angehörige. Im Unterschied zu den ersten Jahren steht ein Teil der Soldaten inzwischen immer wieder im Kampf. Sie tun ihre herausfordernde, belastende, zum Teil hoch riskante Arbeit „gegen den Wind“ einer verbreiteten Stimmung hierzulande, wo das „freundliche Desinteresse“ der früheren Jahre oftmals abgekühlt ist zu teilnahmslosem, ja vorwurfsvollem Desinteresse, wo ihrer Arbeit der Sinn abgesprochen wird und ihre Risiken mit einem „selbst schuld“ privatisiert werden. Unabhängig von der politischen Haltung zum Afghanistan-Einsatz: Diese Menschen haben mitsamt ihren Angehörigen Aufmerksamkeit, Interesse, Unterstützung, Anerkennung und Dank verdient!
Inzwischen gibt es in Deutschland Zehntausende Soldaten, jeweils viele Hundert Polizisten und Entwicklungshelfer, die in Afghanistan gearbeitet haben, die dieses Land und seine Menschen nicht mehr loslässt. Dieses Erfahrungs- und Kompetenzpotenzial liegt weitgehend brach, statt gepflegt, gefördert und genutzt zu werden. Diese deutschen „Exil-Afghanen“ könnten in Schulen, Vereinen etc. von ihren Erfahrungen berichten und dadurch den Menschen hier die komplizierten, faszinierenden, irritierenden Realitäten Afghanistans und internationalen Engagements näher bringen. Ihre persönlichen und glaubwürdigen Berichte könnten die vorherrschenden Pauschalwahrnehmungen und Zerrbilder zurückdrängen. Ihre reichen Erfahrungen könnten nutzbar gemacht werden in einem organisierten Prozess des Erfahrungslernens und Austauschs mit der gegenwärtigen Praxis von Entwicklungszusammenarbeit, Polizeihilfe und Bundeswehr. Gesellschaftliche Anteilnahme und Unterstützung braucht auch die wachsende Zahl der in Afghanistan körperlich und seelisch Verwundeten sowie die Angehörigen der gefallenen Soldaten. Sie dürfen nicht allein gelassen werden.
Sie, Herr Bundespräsident, können in der Öffentlichkeit durch Reden, Besuche, eigene Veranstaltungen wirken.
(a) Ein Besuch in Afghanistan wäre für die eigene Wahrnehmung und als Signal sehr wichtig, auch wenn ein solcher Besuch für die vorbereitende Truppe eine besondere Belastung wäre. Aber vielleicht wäre ein solcher „Überraschungsbesuch“ mal zusammen mit dem neuen Verteidigungsminister zu überlegen.
(b) Sie könnten Gelegenheiten nutzen bzw. schaffen, mit Afghanistan-Rückkehrern zusammenzutreffen und entsprechende Zeichen zu setzen:
- bei einem Rückkehrer-Appell eines Haupttruppenteils,
- bei einem Treffen jeweils mit Polizisten, Entwicklungshelfern, Diplomaten, die z.B. im letzten halben Jahr zurückgekehrt sind,
- bei einem Treffen mit Angehörigen der verschiedenen Gruppen zusammen.
(c) Die größte und ehrgeizigste, der Groß-Herausforderung aber auch besonders angemessene Option wäre ein Afghanistan-Tag (Nachmittag bis in die Abendstunden), gegebenenfalls in Kooperation mit Bundesregierung (AA, BMVg, BMZ, BMI, Kanzleramt), Bundestag, Kirchen, Bundeswehrverband, Afghanistan-Initiativen, Stiftungen, Medien etc., unter Ihrer Schirmherrschaft.
Ein solcher Tag könnte der Begegnung der deutschen „Afghanen“ untereinander dienen (z.B. die Feyzabad-, die Kunduz-Leute), dem Erfahrungsaustausch, der Darstellung von Projekten, der Kontaktförderung der zersplitterten Afghanistan-Szene, der politischen Diskussion, Reflektion und Verständigung, der vielfältigen Information von Bevölkerung und Öffentlichkeit. Auftreten könnten dabei afghanische Künstler und Afghanistan verbundene deutsche Künstler, z.B. Farhad Darya und Peter Maffay.
Ein solcher Tag sollte ein Forum der offenen Afghanistan-Solidarität und der Suche nach verantwortlichen Lösungswegen sein. Als politische Werbeveranstaltung hätte ein solcher Tag schon verloren. Der zivil-polizeilich-militärische Charakter des deutschen Afghanistan-Engagements, das Zusammenwirken von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sollte dabei zum Ausdruck kommen.
Ein solcher Tag wäre ein Zeichen der Hinwendung der Gesellschaft zu den Menschen im Afghanistan-Einsatz. Er könnte ein Schub sein zu einer differenziert-produktiven statt grobschlächtigen Auseinandersetzung mit dem Afghanistan-Engagement. Er könnte Vorbild werden für ähnliche Veranstaltungen auf regionaler Ebene.
(Nach dem Kongo-Einsatz EUFOR im Jahr 2006 richtete ich einen ähnlichen Vorschlag an den Außen- und den Verteidigungsminister: um einen Erfolg zu betonen, den Beteiligten zu danken und die politische Aufmerksamkeit für den Friedensprozess in der DR Kongo wach zu halten. Die Minister bedankten sich und betrachteten sich nicht als zuständig. Hauptsache, der Einsatz war fristgemäß beendet. Eine Chance wurde vertan.)
(d) Ein Afghanistan-Tag könnte auch Anstoß sein für eine zentrale Ausstellung zum deutschen Engagement und Einsatz in Afghanistan: Darstellung der verschiedenen Facetten des Einsatzes, Kristallisationspunkt einer ehrlichen Debatte um die Notwendigkeit, Realitäten, Wirksamkeit und Verantwortbarkeit des Einsatzes. Anregungen kann hierzu die beeindruckende Afghanistan-Ausstellung „A Glimpse of War“ im Canadian War Museum in Ottawa geben, die wir Obleute des Verteidigungsausschusses vor zwei Jahren besuchten.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
eine Grunderfahrung meiner letzten Afghanistan-Reise war, dass es bei aller Verschlimmerung noch viel mehr Chancen gibt, als wir hierzulande wahrnehmen. Es kommt darauf an, diese Chancen zu identifizieren und entschlossen anzupacken. Ich erlaube mir, Ihnen meinen letzten Abgeordneten-Reisebericht beizulegen.
In Dankbarkeit für Ihre politisch-menschliche Offenheit und Anteilnahme verbleibe ich
mit besten Grüßen
Ihr
Winfried Nachtwei