Zum Abschlussbericht der Enquete-Kommission Afghanistan – (später) Fortschritt zu selbstkrischem institutionellem Lernen

Seit 2001 habe ich den Afghanistaneinsatz kritisch-konstruktiv begleitet, seit 2006 immer wieder eine unabhängige, selbstkritische Wirkungsevaluierung gefordert – bis 2020 vergeblich. 2022 kam diese endlich  (für Afganistan viel zu spät) zustande. Ich durfte sie als ständiger Sachverständiger unterstützen.

Zum Abschlussbericht der Enquete-Kommission zu Afghanistan – (später) Fortschritt zu selbstkritischem institutionellem Lernen  Winfried Nachtwei, MdB a.D. (08.02.2025)

Am 31. Januar debattierte der Bundestag über den vier Tage zuvor veröffentlichten Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestages zum Afghanistaneinsatz und Empfehlungen für künftige vernetzte Kriseneinsätze Deutschlands. Die ursprünglich für den späten Vormittag angesetzte Debatte verzögerte sich wg. des sechsstündigen TOP Antrag  „Zustrombegrenzungsgesetz“ bis 17.00 Uhr am Freitagabend und fand im Schatten dieser extrem polarisierten Debatte praktisch keine mediale Resonanz mehr.

VORAB ein Auszug aus meinem Persönlichen Offenen Brief an Afghanistan-Veteranen und Afghanistan-Praktikerinnen von Auswärtigem Amt, Bundeswehr, Entwicklungs-zusammenarbeit und Polizei im September 2021, kurz nach der Taliban-Machtübernahme:

„Wo der Afghanistaneinsatz so immense Summen gekostet und Abertausende Opfer gefordert hat, wo jetzt die Leistungen so vieler Menschen zunichte gemacht und Hoffnungen zerstört wurden, da ist es das Allermindeste, jetzt bestmöglich zu LERNEN:

– indem die Afghanistan-Veteranen und Praktiker:innen mit ihren Erfahrungen hörbar zu Wort kommen und Gesellschaft wie Politik sich nach Jahren des freundlichen Desinteresses für diese Erfahrungen interessieren, sie nicht weiter allein lassen;

– indem die deutschen militärischen wie zivilen Beiträge zum multinationalen Afghanistan-einsatz unabhängig sowie ressort- und akteursübergreifend auf ihre Wirksamkeit und (auch ungewollten) Wirkungen analysiert werden. Eine solche selbstkritische Evaluation darf nicht auf Verfahren, Projekte und Programme beschränkt bleiben, sondern muss insbesondere auch die politisch-strategische Ebene ab 2001 mit in den Blick nehmen. Denn dort wurden die Aufträge formuliert, die Fähigkeiten und Ressourcen bereitgestellt, die Einsätze kontrolliert und nachgesteuert. Bevor es dabei zu dem beliebten Karussell der Schuldzuweisungen kommt, wäre es angebracht, wenn alle Akteure von Afghanistan-politik und –einsatz in Deutschland auch mal vor der eigenen Tür kehren würden. Wichtige Startfehler geschahen zur Zeit „meiner“ rot-grünen Koalition.

Eine solche Einsatzauswertung muss in Empfehlungen für eine wirksamere Einsatzpolitik münden – in Verantwortung für die Menschen eines Einsatzlandes, für die entsandten Frauen und Männer, für die internationale gemeinsame Sicherheit und für die Steuerzahler.“

Am 27. Januar 2025 verabschiedete die Enquete-Kommission zu Afghanistan ihren 72 Empfehlungen umfassenden Abschlussbericht einstimmig – ein im heutigen parlamentarischen Alltag seltenes Ereignis. ( https://dserver.bundestag.de/btd/20/145/2014500.pdf ) Zuvor hatte sie am 19. Februar 2024 ihren 352 Seiten umfassenden Zwischenbericht vorgelegt  ( https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-990728 )

Die erste Enquete-Kommission auf dem Feld der deutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik schuf zugleich den ersten Bericht, der den größten, teuersten und opferreichsten deutschen Kriseneinsatz ressortübergreifend, über den gesamten Zeitraum 2001-2021 und einschließlich der politisch-strategischen Ebene aufarbeitete und daraus Empfehlungen für künftige deutsche vernetzte Auslandsengagements entwickelte. Entgegen manchen Befürchtungen bewies die Kommission innere Unabhängigkeit und die Fähigkeit zu konstruktiver, ja kollegialer Zusammenarbeit, differenziertem und selbstkritischem Urteil. Angesichts einer auseinanderdriftenden politischen Landschaft war das eine ermutigende Erfahrung.

Die Kommissionsmitglieder (11 Abgeordnete plus Stellvertreter, 11 Sachverständige), die 43 (zeitweiligen oder ständigen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen, die 23 (zeitweiligen oder ständigen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kommissionssekretariats können stolz auf diese Gemeinschaftsleistung sein. Ich bin nach den 124 Kommissions-wochen zusätzlich erleichtert. Aber über dieser Erleichterung liegt für mich ein Schatten. Dazu später mehr.

Die besondere Herausforderung des Empfehlungsteils war, vor dem Hintergrund der Erfahrungen und Lehren des Afghanistaneinsatzes Empfehlungen für ein inzwischen erheblich verändertes außen- und sicherheitspolitisches Umfeld zu erarbeiten. Jetzt stehen Landes- und Bündnisverteidigung eindeutig im Vordergrund. Weiterhin notwendige Kriseneinsätze werden durch die Teilblockade des VN-Sicherheitsrates und geopolitischer Polarisierungen massiv beeinträchtigt.

Meine Schwerpunkte: Als einer der ständigen Sachverständigen arbeitete ich in der Empfehlungsphase der Kommission in drei der fünf Clustergruppen mit und formulierte Entwürfe und war federführend bei den Teilen

– Recht zum Einsatz (Clustergruppe Strategie und Auftrag)

– Krisenmanagement der VN / der EU und (Internationale Koordination)

– Rolle des Parlaments / parlamentarische Kontrolle. (Nationale strategische Koordination und Steuerung)

Die entsprechenden Passagen sind im Sinne einer persönlichen Wirkungskontrolle in dem Text „Auszüge vom Abschlussbericht“ zusammengefasst. (s.u.)

Bei der parlamentarischen und medialen Rezeption des Zwischenberichts fand das selbstkritische Kapitel zu „Afghanistan und Parlamentsbeteiligung“ (S. 67-76) keinerlei Beachtung. Da die Qualität der parlamentarischen Kontrolle von Kriseneinsätzen aber von nicht unerheblicher Bedeutung für die Wirksamkeitsverbesserung bei Kriseneinsätzen ist, zu dieser im Folgenden Näheres.

Empfehlungen zur Rolle des Parlaments und parlamentarischer Kontrolle (Kapitel 33.2, Nr. 24-30, S. 26 ff.)  

Einsatzausschuss: Der Bundestag hat im internationalen Vergleich besonders weitgehende Mitbestimmungsrechte bei (militärischen) Auslandseinsätzen. Als Mitauftraggeber steht er also auch in Mitverantwortung. Auch wenn es so in den Enquete-Berichten nicht explizit formuliert ist: Auch der Bundestag trägt Mitverantwortung für das strategische Scheitern des deutschen Afghanistansatzes.

Die Anforderungen des Afghanistaneinsatzes stellten alle andere multinationalen Kriseneinsätze bei weitem in den Schatten: Die besondere Fremdheit und Komplexität des Landes, die fragmentierte und kriegszerrüttete Gesellschaft, die Heterogenität der intervenierenden Staatengemeinschaft mit ihren z.T. widersprüchlichen und überambitionierte Zielen, die Konkurrenz sich häufender und näher liegender Krisen und Kriege. Der Bundestag in seiner damaligen Aufstellung und dem dichten Multitasking des parlamentarischen Alltags war damit strukturell überfordert.

Um künftig eine angemessene, ressortübergreifende und verantwortliche parlamentarische Kontrolle insbesondere bei Schwerpunkteinsätzen auch auf der politisch-strategischen Ebene zu gewährleisten – und nicht wie oft in der Vergangenheit bei Mikrokontrolle stehenzubleiben -, ist ein Einsatzausschuss notwendig. Der Abschlussbericht nennt hierfür zwei Optionen: einen gleichberechtigten Fachausschuss oder einen Unterausschuss. In meinem Sondervotum habe ich mich eindeutig für einen gleichberechtigt mitberatenden Fachausschuss ausgesprochen. Ein Unterausschuss hätte nach meiner 15-jährigen Unterausschuss-Erfahrung, die von etlichen aktiven Abgeordneten bestätigt wurde, für die vertiefte parlamentarische Kontrolle nicht das notwendige politische Gewicht. Das gilt umso mehr, als die Kommission mehrheitlich eine Stärkung der politischen Koordination der Exekutive durch einen Kabinettsausschuss empfiehlt.

Empfehlungen zur parlamentarischen Praxis: Kommissionsmitglieder mit langjähriger politischer bzw. militärischer Einsatzerfahrung veranlassten weitere politische Empfehlungen zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle:

– Bei Mandatsentscheidungen sollten innenpolitische Rücksichtnahmen nicht ausschlag-gebend sein. Bündnispolitische Erwägungen haben selbstverständlich ein hohes Gewicht. Sie sollten aber nicht die Schlüsselfragen nach der Sinnhaftigkeit und den Wirkungsaussichten eines Einsatzes nicht verdrängen (Empfehlung 24). Bei Folgemandaten sollten die vom Einsatzkontingent ermittelten Fähigkeiten und Kräfte im Hinblick auf Schutz und Wirkung ein entscheidender Faktor sein. (Empfehlung 26)

– Bei Mandatsdebatten sollten auch die diplomatischen, zivilen und polizeilichen Kompo-nenten mit ihren Zielen, Kräften und Ressourcen klar thematisiert werden.

– Im Vorfeld von Mandatsverlängerungen und -veränderungen kommt es entscheidend darauf an, wie beratungsoffen sich die Bundesregierung verhält und wie kontrollwillig Fach-abgeordnete nicht nur der Oppositions-, sondern vor allem auch der Koalitionsfraktionen sind. Mit anderen Worten: Notwendig ist kritische Loyalität gegenüber der eigenen Regierung – und nicht brave Folgsamkeit. Während des Afghanistaneinsatzes hätten Koalitionsfraktionen die Möglichkeit gehabt, die seit langem vor allem von Einsatzerfahrenen geforderte Wirksamkeitsevaluierung als Voraussetzung für ihre Zustimmung zum Folgemandat zu machen. Das geschah nicht.

Grenzen der parlamentarischen Selbstreflexion

Die Kommission reflektierte selbstkritisch die Praxis der Parlamentsbeteiligung beim ressortübergreifenden Afghanistaneinsatz allgemein. Sehr sinnvoll für das beabsichtigte politischen Lernen aus den Einsätzen wäre gewesen, wenn die einzelnen Fraktionen außerhalb der Kommission auch ihre eigene Afghanistanpolitik kritisch reflektiert, also auch vor der eigenen Tür gekehrt hätten. Bei der öffentlichen Anhörung der Ministerinnen und Minister für Auswärtiges, Inneres und Entwicklung vor der Kommission gab es keinerlei Selbstkritik. Von der Union, die 16 Jahre die Kanzlerin stellte und das Verteidigungsministerium leitete, von der SPD, die zwölf Jahre die Außenminister stellte, kein Wort des Bedauerns darüber, dass ihre Regierungsmitglieder jede umfassende Wirkungsevaluierung verweigert hatten.

Immerhin: Bei den Grünen, die sich über etliche Jahre mit den Afghanistaneinsatz besonders schwergetan hatten, leistete dazu 2008 eine Friedens- und sicherheitspolitische Kommission eine erste Aufarbeitung. Von mir erschienen viele (selbst-)kritische Bilanzierungsbeiträge, z.B. Persönliche Bilanz und Ausblick eines parlamentarischen Auftraggebers in Rainer L. Glatz/Rolf Tophoven (2015) oder Afghanistan: Unser Scheitern im Großen – Bilanz eines Mitauftraggebers (Januar 2022) in SIRIUS mit der Zwischenüberschrift „Die strategischen Ziele verfehlt“ und dem Zitat von General Mark Milley, Chef des US-Generalstabs, der ein „strategisches Scheitern“ konstatierte.

In den Blättern für deutsche und internationale Politik 8/2024 stellte ich fest, als sicher-heitspolitischer Sprecher der Grünen bis 2009 daran beteiligt gewesen zu sein, den plausiblen Ansatz einer ursachenorientierten Terrorbekämpfung mit überambitionierten Zielen über-frachtet und das Gewaltpotenzial in der afghanischen Gesellschaft unterschätzt zu haben. Mit meinen relativ frühen Warnungen war ich insgesamt zu leise. Zwar trug ich anhand meiner Materialien zur Sicherheitslage in Afghanistan ab 2007 ein laufend aktualisiertes Datengerüst über den Krieg zusammen. Aber das war nur Papier, keine persönliche Erfahrung. Bei Besuchen überwiegend im Norden und in Kabul begegneten mir durchweg die relativen „Vorzeigeseiten“ des Einsatzes. Trotz aller Kenntnis der verheerenden Kriegssümpfe in Helmand, Kandahar, Kunar und anderen Regionen hat das meine sehr skeptische Gesamtwahrnehmung des Einsatzes aufgehellt und auch bei mir partielles Wunschdenken nicht verhindert.

Gesamtbewertung der Enquete-Berichte

Das Gesamturteil der Kommission zum militärisch-zivilen Afghanistaneinsatz als „strategisch gescheitert“ ist genau begründet, hart, selbstkritisch und differenziert, aber meines Erachtens nicht „vernichtend“, wie der Spiegel u.a. pauschalisierend titelte. Die Kommission betonte ausdrücklich die Leistungen der zigtausenden nach Afghanistan entsandten deutschen Frauen und Männer in Uniform und Zivil und benannte Teilerfolge des Engagements. „Nichts ist gut in Afghanistan“ ignorierte diese Hoffnungsträger.

Lernfortschritt: Zentrale Ursachen des strategischen Scheiterns der – vor allem westlichen – Staatengemeinschaft war die mangelnde Ziel- und Strategieklarheit und -kohärenz, mangelndes Landes-, Kontext und Konfliktverständnis, mangelnde Wirkungsorientierung, Ehrlichkeit und Konsequenz auf der politisch-strategischen Ebene. Das umfassende Kontextverständnis, die interkulturelle Kompetenz und Wirkungsorientierung vieler Entsandter konnte vor Ort wirken, kam aber beim Gesamteinsatz nicht zum Zuge.

Die Kommission brachte einen wichtigen Fortschritt auf dem Feld des institutionellen Lernens. Er gelang zu einem Zeitpunkt, als die Bundesregierung im Juni letzten Jahres erstmalig eine Evaluierung aller laufenden Auslandseinsätze vorgelegt hat. (Bundestagsdrucksache 20/12075, https://dserver.bundestag.de/btd/20/120/2012075.pdf )

Verspätung: Überschattet wird die Gemeinschaftsleistung der Kommission durch die Tatsache, dass ihre Aufarbeitung für den deutschen Afghanistaneinsatz viel zu spät, erst nach seinem strategischen Scheitern zustande kam. Wechselnde Bundesregierungen und sie stützende Koalitionsmehrheiten hatten frühzeitige systematische Wirkungsanalysen verweigert. Solche hätten vielleicht eine Kursänderung ermöglicht und ein desaströses Einsatzende verhindert können. (vgl. in der Anlage „Zur Vorgeschichte des strategischen Scheiterns in Afghanistan: FRÜHWARNUNGEN vor Fehlentwicklungen beim internationalen Einsatz 2001-2021“). In diesen wurden vor Jahren Forderungen formuliert, von denen etliche jetzt in den Enquete-Empfehlungen wiederauferstehen.

Angesichts der Lernschwäche, ja partiellen Lernverweigerung in Teilen der politisch-strategischen Führung war es ausgesprochen irritierend, von Taliban-Expertinnen in der Kommission zu erfahren, dass sich die Taliban in ihrer Kriegsführung durch besondere Lernfähigkeit auszeichneten.

Die Empfehlungen zur

– Strategie- und Auftragsbildung,

– Wissensbasis und Krisenfrüherkennung,   

– internationalen Einbindung und Koordinierung

– Rolle von Bundestag und Bundesregierung

– zu Fähigkeiten, Instrumenten und Kommunikation

– zur Wirkungskontrolle durch Monitoring, Evaluation und Fehlerkultur

sind essentiell und lassen sich unter den Überschriften Zielklarheit und Wirkungsorientierung zusammenfassen.

Zur Rolle der Bundesregierung / nationalen strategischen Koordinierung und Steuerung: Hier wurde einmütig Verstärkungsbedarf gesehen. Im Abschlussbericht empfahl dann eine große Gruppe einen Kabinettsausschuss für integriertes Krisenmanagement, eine kleine Gruppe die Intensivierung der sicherheitspolitischen Staatssekretärsrunde. In Sondervoten sprachen sich die Union und die FDP für einem Nationalen Sicherheitsrat aus.

Vor dem Hintergrund meiner inzwischen dreißigjährigen Begleitung deutscher Beteiligungen an internationalen Kriseneinsätzen war ich im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, dass die nationale Koordinierung und Steuerung einen zentralen Ort benötigt. Hierfür scheint mir die Empfehlung zu einem Kabinettsausschuss für das Feld internationales Krisenmanagement / vernetzte Einsätze mit Unterbau am angemessensten zu sein.

Ein Nationaler Sicherheitsrat könnte sich heutzutage nicht mit IKM begnügen, sondern müsste sich angesichts aufwachsender militärischer Bedrohungen und aktueller hybrider Angriffe prioritär mit der Landes- und Bündnisverteidigung gemeinsam mit der Zivil-verteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung befassen. Hierzu besteht dringender Reformbedarf. Zzt. gibt es aber eine Führungsstruktur nur auf der militärischen Seite, nicht bei der Zivilverteidigung und erst recht nicht bei der Gesamtverteidigung. Hierzu Empfehlungen zu formulieren, überschritt die Zuständigkeit der Kommission und überforderte die Erfahrungen und Kompetenzen der meisten ihrer Mitglieder. In der Gesamtkommissionen wurden die besonderen Anforderungen eines notwendigerweise breit aufgestellten NSR nie diskutiert. Als Nicht-Insider der politisch-strategischen Gremien der Exekutive hätte ich hier noch erheblichen Beratungsbedarf von unabhängigen Köpfen mit Insidererfahrungen. Wie die notwendige politisch-strategische Koordinierung und Steuerung von gesamtstaatlich-integrierter Sicherheit organisiert werden kann, ist eine Schlüsselfrage. Das Sondervotum der CDU/CSU-Fraktion und ihrer Sachverständigen ist dazu ein Diskussionsbeitrag, der mir aber noch mit einigem Wunschdenken einherzugehen scheint.

Follow Up: Bei voluminösen Kommissions- und Enquete-Berichten besteht immer wieder das Risiko, dass sie kaum beachtet werden und in den Schubladen verschwinden, also weitgehend wirkungslos verpuffen.

Damit die Lernfortschrittr der Enquete-Kommission nicht im politischen Alltag versanden, ist die Empfehlung 30 sehr wichtig, wonach die zuständigen Bundestagsauschüsse und die Ressorts aufgefordert werden, in der zweiten Hälfte der 21. Legislaturperiode zu prüfen, wieweit die Enquete-Empfehlungen in der politischen Praxis berücksichtigt und umgesetzt wurden. Das müsste bei den kommenden Koalitionsverhandlungen beginnen. (In den meisten Wahlprogrammen zur Bundestagswahl am 23. Februar ist von den Lehren der Enquete-Kommission keinerlei Rede.)

Afghanistan nicht vergessen? Wer dort gearbeitet, gelebt, gekämpft, gelitten hat, wird Afghanistan nie vergessen. Aber in der Politik, in Medien und Gesellschaft?

Der Doppelauftrag des Deutschen Bundestages an die Enquete-Kommission war, das deutsche Afghanistan-Engagement aufzuarbeiten und Empfehlungen für Deutschlands künftiges vernetzte Engagement zu formulieren.  Empfehlungen für eine deutsche Politik gegenüber dem heutigen Afghanistan waren nicht im Blick. Das darf keineswegs so verstanden werden, als seien die Berichte der Enquete-Kommission ein Schlussstrich unter das Kapitel Afghanistan. Am Schluss der letzten Kommissionssitzung betonte der Vorsitzende Michael Müller, MdB, ausdrücklich, man wolle an Afghanistan dranbleiben. Etliche reagierten mit Beifall.

Nach den Erkenntnissen der Kommission liegt eine Empfehlung für eine werte-, interessen- und wirkungsorientierte deutsche Außen- und Entwicklungspolitik gegenüber dem heutigen Afghanistan, seinen unter einer humanitären Katastrophe leidenden Menschen und den de-facto-Machthabern auf der Hand: als erstes genauer hinzusehen, die komplexe Lage vor Ort zu erfassen, deutsche und europäische Interessen zu definieren und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren. Dafür sind Augen, Ohren und persönliche Kontakte vor Ort unabdingbar. In meinem Sondervotum, das von den Sachverständigen General a.D. Ramms und Dr. Katja Mielke (BICC) und den Abgeordneten Philip Krämer und Merle Spellerberg (beide Grüne) unterstützt wurde, konkretisierte ich die Losung „Genauer hinsehen“ folgendermaßen: „Angesichts der inzwischen seit 110 Jahren besehenden besonderen Verbundenheit zwischen Afghanistan und Deutschland könnte in Abstimmung mit den europäischen Partnern und der „EU-Delegation to Afghanistan“ ein deutsches Verbindungsbüro in Kabul, ausdrücklich unterhalb einer diplomatischen Anerkennung, eine wichtige Brücke zur afghanischen Wirklichkeit sein.“ (S. 52)

Sowohl bei der Plenardebatte zum 1. Untersuchungsausschuss (zur Evakuierung von Ortskräften und anderen Gefährdeten) wie bei der Enquete-Debatte betonten mehrere Abgeordnete, dass man Afghanistan nicht vergessen und dranbleiben wolle.  Afghanistan war die Langstrecke in meinem politischen Leben. Trotz aller Krisen- und Aufgabenkonkurrenz: Ich bleibe dran.

Kooperationserfahrungen: Die sehr unterschiedliche Afghanistanexpertise und -erfahrung der Kommissionsmitglieder war anfänglich eine erhebliche Herausforderung. Sie konnte aber konstruktiv und kollegial bewältigt werden. Die einen arbeiteten sich mit Hilfe ihrer Mitarbeiter:innen intensiv in die hochkomplexe Materie von Land und Einsatz ein, die anderen brachten ihre Expertise und Erfahrungen selbstbewusst, aber ohne Besserwisserei ein. (Ich vermied die Falle, indem ich in der Regel zu kritischen Passagen alternative Formulie-rungen einbrachte, von vorneherein relativ viele erste Textentwürfe vorlegte und mein umfangreiches AFG-Archiv zugänglich machte.)

Die vielstufigen Beratungen den Textentwürfe waren strapaziös, konnten aber dank erheblicher Verständigungsbereitschaft bewältigt werden. Ich habe den Austausch insbesondere mit den jungen Abgeordneten und Mitarbeiter:innen meiner Herkunftsfraktion (immerhin meine politische Enkelgeneration) als besonders kollegial,  bereichernd, ja hoffnungsvoll empfunden.

Wir Sachverständige waren alle von den verschiedenen Fraktionen vorgeschlagen worden. Das änderte nichts daran, dass die Sachverständigen sich durchweg als unabhängige verstanden. Und die langjährigen zivilen wie militärischen Afghanistanerfahrungen etlicher Sachverständiger wirkten zusätzlich fraktionsübergreifend. Das war nicht zuletzt dann hilfreich, wenn einzelne Positionierungen aus Fraktionen zu sehr parteipolitisch motiviert zu sein schienen. Die von der Fraktion DIE LINKE (jetzt BSW) entsandten zwei Kommissionsmitglieder beendeten ihre Mitgliedschaft Ende 2023 /Februar 2024 und trugen nicht erkennbar zur Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes bei.

Mediale Resonanz (Auswahl)

– Abschlussbericht „Lehren aus Afghanistan“, Bericht und Video der Plenardebatte zum Abschlussbericht am 31.01.2025, Deutscher Bundestag,  https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2025/kw05-de-enquete-afghanistan-1035062  ;

– Lehren aus Afghanistan – Einsatz „Strategisch gescheitert“, von Stephan Stuchlik, Tagesschau 31.01.2025, https://www.tagesschau.de/inland/afghanistan-ausschuss-100.html

– Ambivalente Empfehlungen für Hochrisikoeinsätze. Die Enquetekommission legt ihren Abschlussbericht zum gescheiterten Afghanistan-Einsatz vor. Das Fazit ist verheerend, von Thoma Ruttig, taz 28.01.2025 (ausführlich), https://taz.de/Bericht-zu-Afghanistan-Einsatz/!6065767/

– Kommission bewertet Bundeswehreinsatz in Afghanistan als „gescheitert“, ZEIT-ONLINE 27.01.2025, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-01/afghanistan-kommission-abschlussbericht-kritik-bundeswehreinsatz

– Enquête-Kommission macht Empfehlungen für Auslandseinsätze, von Cyrus Salimi Asl, Neues Deutschland 27.01.2025, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188587.afghanistan-enquete-kommission-macht-empfehlungen-fuer-auslandseinsaetze.html

– Afghanistan Enquete-Kommission: Fehlende Vernetzung auf allen Ebenen, Table Media, 28.01.2025, https://table.media/security/news/afghanistan-enquete-kommission-fehlende-vernetzung-auf-allen-ebenen/

– Enquete-Kommission zu Afghanistan empfiehlt mehr Realismus, dpa 28.01.2025, Dt. Bundeswehrverband, https://www.dbwv.de/ticker-zurueck-zur-startseite/enquete-kommission-zu-afghanistan-empfiehlt-mehr-realismus

– Afghanistan-Enquete gibt Empfehlungen für Auslandseinsätze, epd 27.01.2025,

https://evangelische-zeitung.de/afghanistan-enquete-fuer-auslandseinsaetze-realistische-ziele-noetig

– Abschlussbericht der Enquete-Kommission Afghanistan: Deutschland zieht Lehren für sein zukünftiges Krisenengagement, Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, 30.01.2025, https://beirat-zivile-krisenpraevention.org/neuigkeit/abschlussbericht-der-enquete-kommission-afghanistan-deutschland-zieht-lehren-fuer-sein-zukuenftiges-krisenengagement/

– In Afghanistan „strategisch gescheitert“, von Peter Carstens, FAZ 03.02.2025, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/enquete-kommission-in-afghanistan-strategisch-gescheitert-110273049.html

– Abschlussbericht der Enquete-Kommission veröffentlicht, Behördenspiegel, Newsletter Verteidigung. Streitkräfte. Wehrtechnik. 04.02.2025

– Lehren aus knapp 20 Jahren Einsatz gezogen, von Frederik Koch, in: Die Bundeswehr – Magazin des Dt. BundeswehrVerbandes Februar 2025

– Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands, WIKIPEDIA 02.02.2025, https://de.wikipedia.org/wiki/Enquete-Kommission_Lehren_aus_Afghanistan_f%C3%BCr_das_k%C3%BCnftige_vernetzte_Engagement_Deutschlands Weitere Beiträge von W.N. im Kontext der Enquete-Kommission Afghanistan 

– Passagen des Abschlussberichts, zu denen ich Entwürfe lieferte und die Federführung hatte

Kollektives politisches Führungsversagen – Was die Politik aus 20 Jahren Afghanistaneinsatz lernen sollte, Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2024, 8 Seiten, https://www.blaetter.de/ausgabe/2024/august/kollektives-fuehrungsversagen

Mein Zwischenfazit: Zwischenbericht der Enquete-Kommission Afghanistan. Kritische Bilanzierung des deutschen strategischen Scheiterns in Afghanistan im Nachhinein: Verantwortung zu institutionellem Lernen, 22.03.2024, https://domainhafen.org/2024/03/24/mein-zwischenfazit-zum-zwischenbericht-der-enquete-kommission-afghanistan-verantwortung-zu-institutionellem-lernen/

– Religiöse Dimension im Zwischenbericht der Enquete-Kommission AFGHANISTAN, und in Reiseberichten + UNAMA-Zivilopfer-Berichten, 11.03.2024

Unser Scheitern im Großen – Der deutsche Afghanistan-Einsatz und die parlamentarische Mitverantwortung, in: Stefan Hansen / Michael Barscher / Michael Rohschürmann (Hrsg.), 20 Jahre Einsatz in Afghanistan, Nomos Baden-Baden 2023

– Zur Vorgeschichte des strategischen Scheiterns in Afghanistan: FRÜHWARNUNGEN vor

Fehlentwicklungen beim internationalen Einsatz 2001-2021, 21.02.2024, 10 Seiten https://domainhafen.org/2024/02/20/zur-vorgeschichte-des-strategischen-scheiterns-in-afghanistan-fruehwarnungen-ab-2006/

(Mitautor) Ehrlichkeit ist da Gebot der Stunde – Beitrag der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) zur Auswertung des deutschen Einsatzes in Afghanistan, August 2023, https://www.gkke.org/ehrlichkeit-ist-das-gebot-der-stunde/

Materialien zur Enquete-Kommission des Bundestages zu Afghanistan, 20.02.2024

Berichte und Beiträge zu Teilaspekten des deutschen Afghanistan-Einsatzes und -Engagements 2001-2021 (hiermit wurden die Bestände meines umfangreichen privaten Afghanistanarchivs für die Kolleg:innen zugänglich), 15.03.2023/17.10.2024, https://domainhafen.org/2024/03/08/meine-materialien-beitraege-zur-enquete-kommission-des-bundestages-zu-afghanistan/

– Meine Berufung in die Enquete-Kommission zu Afghanistan, 18.09.2022

Afghanistan – Das Scheitern im Großen. Dringendes Lernen geht nur mit Ehrlichkeit und Konsequenz auf allen Ebenen, Essay, IF 2/22, Zeitschrift für Innere Führung, https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5376782/99bca3b97ab7d2fa5131c9a17df5ab3b/if-zeitschrift-fuer-innere-fuehrung-02-2022-data.pdf

Kurzmeldungen zur Friedens- und Sicherheitspolitik – Auszüge zu AFGHANISTAN 2003-2010-2021, 30.1.2022, 116 Seiten

Afghanistan: Unser Scheitern im Großen – politisch-persönliche Bilanz eines Mitauftraggebers, 17.01.2022, in: „SIRIUS – Zeitschrift für strategische Analysen“ 1/2022, S. 84-91, Schwerpunkt „Lehren aus Afghanistan“

– Stellungnahme „Wirkungsevaluierung der deutschen zivilen und militärischen Beiträge zum multinationalen Afghanistan-Engagement 2001-2021“ des Beirats Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung, November  2021 (Mitglieder Generalleutnant a.D. Rainer Glatz, Prof. Andreas Heinemann-Grüder, Prof. Hans-Joachim Gießmann, Winfried Nachtwei/AG-Leitung, Ltd. Kriminaldirektor Lars Wagner), https://beirat-zivile-krisenpraevention.org/publikation/stellungnahme-wirkungsevaluierung-afghanistan/ Anmerkung: Viele Empfehlungen des Beirats schlugen sich im Beschluss des Bundestages vom 8. Juli 2022 nieder, mit dem die Enquete-Kommission eingesetzt und beauftragt wurde.     

Bilanzierung & Evaluierung des deutschen Afghanistaneinsatzes:  Seit 2006 immer wieder gefordert – und bis heute verweigert, Materialien zu einer verweigerten Verantwortung, 29.12.2019

Lehren aus deutschen Krisenengagements gibt es reichlich – aber auch Lernfortschritte? In SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Heft 4, Dez. 2019, S. 362-377

Selbstkritische Bilanz und Lehren nach 13 Jahren deutschen AFG-Einsatzes, in: R. Schröder, S. Hansen, Stabilisierungseinsatz als gesamtstaatliche Aufgabe – Erfahrungen und Lehren aus dem deutschen AFG-Einsatz zwischen Staatsaufbau und Aufstandsbekämpfung (COIN), Nomos 2016

Die Politik und Afghanistan: Persönliche Bilanz und Ausblick eines parlamentarischen Auftraggebers, in: Rainer L. Glatz/Rolf Tophoven (Hrsg.), Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn April 2015

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