Ukraine-Solidarität angesichts des historischen Seitenwechsels der USA unter Trump – noch schwieriger, noch viel wichtiger.
Kundgebung und Rede zum 3. Jahrestag des russischen Großangriffs auf die Ukraine „VERTEIDIGUNG DER DEMOKRATIE IN EUROPA“ am 22. Februar 2025 vor dem Historischen Rathaus in Münster, Winfried Nachtwei (24.02.2025), Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei
(A) Die Kundgebung
Aufgerufen haben zu der Kundgebung die Vereine UAre Greven und Ukrainische Sprache und Kultur in Münster, die Fachstelle Weltkirche Katholische Kirche Bistum Münster und die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Münster.
Die Kundgebung beginnt mit der ukrainischen Nationalhymne, aus vollem Herzen gesungen vom Chor Tschervona Kalyna und von allen Ukrainerinnen und Ukrainern kräftig mitgesungen.
Auf dem Pflaster des Prinzipalmarkts liegt eine Plane mit dem Grundriss der Ukraine und der eingezeichneten Frontlinie im Osten und größeren Städten. Olga Stromberger, Vorsitzende des Vereins „UAre Greven, Ukraine-Hilfe aus aller Welt“, veranschaulicht, worum es geht bei der Verteidigung von Demokratie. Sie legt DIN-A-4-Blätter mit Stichpunkten wie Keine Vielfalt, Keine Pressefreiheit, Missachtung der Menschenrechte, „Umerziehung“ von ca. 20.000 entführten ukrainischen Kindern auf die Plane, die die Unfreiheit und Unterdrückung in den russisch besetzten Gebieten, in Belarus und Russland markieren. Danach stimmt Olga mit sehr starker Stimme Sprechchöre auf Ukrainisch und Deutsch an: „Freiheit und Frieden für die Ukraine! Frieden, Freiheit, Völkerrecht! Russland mordet unsere Kinder, jeden Tag und jede Nacht! Russland ist ein Terrorstaat! Hände weg von der Ukraine! Wir brauchen kein Mitleid, wir brauchen Gerechtigkeit! Ehre den ukrainischen Streitkräften Ehre, Ehre, Ehre!“
Bürgermeisterin Maria Winkel begrüßt herzlich die Versammelten. Sie bekräftigt die ungebrochene Solidarität der Stadt Münster, in der sich viele Menschen dafür engagieren.
Wladyslava Stassij singt zur Gitarre das Lied „No Bravery“ von James Blunt. (Der frühere Captain der britischen Streitkräfte hatte 1999 beim Einrücken von KFOR die Not der Kriegsopfer erlebt. Siehe unten)
Weihbischof Dr. Stefan Zekorn spricht ausgesprochen deutlich und konkret zum russischen Angriffskrieg, seinen ständigen Kriegsverbrechen, zur hybriden Kriegführung gegen ganz Europa, zur extremen Aufrüstung Russlands. Unsere Pflicht sei es, den Angegriffenen zu helfen. In ein paar Woche oder Monaten könne es zu spät sein.
Nach dem Lied „Schneeballade“ widerlegt Olga die Minimalberichterstattung zur Ukraine, die den Eindruck nahelegt, als gäbe es keinen Krieg mehr. Sie nennt für das Jahr 2024 viele Orte von Kriegsverbrechen, wo Wohnhäuser, eine Buchdruckerei, ein Einkaufszentrum, ein Krankenhaus, Bildungseinrichtung, Rettungskräfte von Drohnen und Raketen getroffen worden waren, mit 12, 5, 4, 78, 9 14, 51 Toten. (Link zu der Seite über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine: https://war.ukraine.ua/russia-war-crimes/attacking-civilians-or-civilian-objects/ )
Würdigung von mehr als 60 in diesem Winter gefallenen Soldaten. Auf Papierherzen stehen ihre Namen und Lebensdaten, die an einer Schnur um den Platz getragen werden. Es folgt das Lied „Gebet für die Ukraine“, der geistlichen Hymne der Ukraine, die zum Abschluss der Räte von Städten, Gebieten, Distrikten und besonderen Feierlichkeiten und Gedenkragen gesungen wird.
Nach meiner Rede, es ist die inzwischen meine siebte bei Ukraine-Kundgebungen in Münster, folgen das Lied „Der rote Wind“, eine kurze engagierte Rede der CDU-Landtagsabgeordneten Simone Wendland, von Jonathan Brehm das Lied „Field f Gray“, das „Dankeslied an die ukrainischen Streitkräfte“.
Mariya Sharko vom Verein Ukrainische Sprache und Kultur dankt den vielen Deutschen, die heute teilgenommen hätten. Das Schicksal der Ukraine sei entscheidend für die anderen europäischen Länder und die Demokratie in Europa.
Die Veranstaltung ist bunt, lebhaft, tief bewegend, wechselt zwischen kräftigem Gesang, lautstarken Parolen, klaren Reden, schmerzhaftem stillen Gedenken – und Lebensfreude in Lied und Tanz. Die Kundgebung strahlt trotz allen Leids in den Familien und Wut über die Aggressoren Selbstbewusstsein, Zusammenhalt, Durchhaltekraft, Friedenswillen und Lebensfreude aus. Sie wirkt überzeugend und gewinnend.
Geschätzt nehmen etwa 250 Menschen an der Kundgebung teil. Am Vorabend demonstrierten rund 4.500 Menschen auf dem Domplatz für Demokratie und gegen den Rechtsruck. Auch in der Münsteraner Bevölkerung scheint noch wenig angekommen zu sein, dass der weitere Verlauf des Krieges in der Ukraine und der Verhandlungen zur Kriegsbeendigung ganz zentral für die Verteidigung der Demokratie in Europa insgesamt ist – erst recht angesichts des Seitenwechsels von Trump.
Massen-Drohnenangriff: Unmittelbar vor dem 3. Jahrestag des russischen Großangriffs beschoss Russland in der Nacht auf den 23. Februar die Ukraine mit 267 Drohnen, so vielen wie noch nie, in mehreren Wellen. Etwa die Hälfte konnte abgefangen werden.
Trotz alledem ermutigend ist der Leitartikel „Warum Russland verlieren wird“ von Dominic Johnson, dem Co-Leiter des taz-Auslandsressorts in der heutigen taz: https://taz.de/Der-Jahrestag-der-Ukraine-Invasion/!6068313/ .
(B) Meine Rede (Ergänzungen gegenüber dem gesprochenen Wort kursiv)
Danke, dass Sie und Ihr heute hier zusammengekommen seid. Der Ort ist besonders passend: Wir stehen vorm Rathaus des Westfälische Friedens, der für eine Ordnung gleichberechtigter souveräner Staaten steht. Diese Ordnung ist jetzt so sehr bedroht, wie wir das noch nie erlebt haben.
Vor drei Jahren Überraschungen Schlag auf Schlag
Der russische Großangriff aus drei Richtungen, vorher viele Warnungen, überraschend und schockierend die Dimension. Dann die Überraschung für die Angreifer, die einen Blitzsieg binnen weniger Tage erwartet hatten und auf einen überraschend starken ukrainischen Widerstand stießen. Am vierten Kriegstag die Kehrtwende von Bundesregierung und Bundestag: Jetzt auch von Deutschland Beistand durch Waffenlieferungen an die Ukraine. (Bis zum 25.02.2022 hatte die Bundesregierung Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt, im Unterschied zu den USA, Frankreich, Großbritannien, Polen, Dänemark, Tschechische Republik.) Für viele, nicht zuletzt für den russischen Präsidenten, war überraschend, dass NATO und EU jetzt zusammenhielten und Beistand leisteten. Gerade sechs Monate vorher hatten die USA unter den Präsidenten Trump und Biden einseitig die Bündnisloyalität mit ihren Verbündeten in der NATO aufgekündigt, den bedingungslosen Abzug initiiert und die afghanischen Verbündeten im Stich gelassen. Das soll Putin zum Angriff auf die Ukraine ermutigt haben.
Seit drei Jahren wütet inzwischen der russische Angriffskrieg
Er zielt auf die Vernichtung ukrainischer Eigenstaatlichkeit, Kultur und Demokratie. Die Ukraine wird seitdem mit so vielen Raketen, Marschflugkörpern, Drohnen und Gleitbomben angegriffen, wie es das bisher noch nie gegeben hat. Allein in der Weihnachtswoche 2024 mit 370 Kampfdrohnen, 280 gelenkten Gleitbomben, 80 Raketen. Systematisch werden auch Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser, kulturelle Einrichtungen und vor allem die Energieversorgung bombardiert und beschossen. In den letzten Wochen schockierten und erschütterten in Deutschland die menschenfeind-lichen Anschläge von München, Aschaffenburg, Magdeburg. Solche Terroranschläge verübt der russische Staat Tag für Tag an der ukrainischen Zivilbevölkerung – nur eben anonym und aus der Distanz. Berichtet wird über diese andauernde Abschlagswelle hierzulande kaum noch. Eine solche Terrorkriegführung soll Menschen in die Flucht treiben. Weltweit gibt es 6,8 Mio. ukrainische Flüchtlinge. 63% sind Frauen und Mädchen. Zusätzlich sind 3,6 Mio. innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Flankiert wird der militärische Angriffskrieg von hybrider Kriegführung, insbesondere im Informationsraum. In Deutschland ist noch zu wenig bewusst, dass Russland seit drei Jahren einen regelrechten Informationskrieg führt, um zu verunsichern, zu spalten, polarisieren, Wahlen zu manipulieren. Hierbei ist Deutschland ganz besonders im Visier und gefährdet.
Nach der Zeitenwende von 2022 jetzt ein Epochenbruch
Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Trump am 20. Januar treibt er mit seinem Kumpanen Musk in den USA eine Art Staatsstreich voran, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Gegenüber der Ukraine – und den europäischen Verbündeten – signalisiert Trump einen historischen „Seitenwechsel“:
Der Ukraine wirft er vor, den Krieg selbst verantwortet zu haben. Sie hätte einen Deal machen können. Den ukrainischen Präsidenten Selensky beschimpft er als „Diktator ohne Wahlen“. Schon vor Verhandlungen werden die russisch-besetzten Gebiete Russland zugesprochen und eine NATO-Mitgliedschaft ausgeschlossen. Separatgespräche finden statt zwischen Trump und Putin und den russischen und US-Außenministern, unter Ausschluss der Ukraine und Europäer, übe die Köpfe der Betroffenen hinweg. Das erinnert fatal an die „Friedensverhandlungen“ der USA unter Trump I mit den Taliban auf Kosten der afghanischen Bevölkerung und an das Münchner Abkommen Großbritannien, Frankreich, Italien und Hitler-Deutschland von 1938 auf Kosten der Tschechoslowakei. Für den Fall eines Waffenstillstandes wurde amerikanischen Sicherheitsgarantien eine Absage erteilt.
Der neue US-Finanzminister Scott Bessent legte in Kiew der ukrainischen Regierung einen Vertragsentwurf der besonderen Art vor: Darin sollte die Ukraine sich verpflichten, den USA Rohstoffvorkommen, auch Häfen und Infrastruktur im Wert von 500 Mrd. $ zu überlassen (dazu ein Vetorecht der USA bei allen künftigen Exportlizenzen) – im Ausgleich für die 350 Mrd. $ Ukrainehilfe der USA. (Die reale US-Hilfe lag bei 119 Mrd. $.) Der Vertrag sollte binnen einer Stunde unterschrieben werden. Präsident Selensky lehnte ab. Der konservative Londoner Daily Telegraph kommentierte, dies seien Bedingungen, wie sie gewöhnlich „im Krieg besiegten Aggressor-Staaten auferlegt werden“.
„Verteidigung der Demokratie in Europa“ ist heute unsere Losung …
Ab jetzt muss die Demokratie in Europa zusätzlich gegen die autoritäre Revolution unter Trump und Musk und ihr „Recht des Stärkeren“ verteidigt werden. Entscheiden ist jetzt:
– Den Krieg in der Ukraine nach drei Jahren mit Verhandlungen zu beenden, ist richtig. Aber es darf nicht über die Köpfe der Ukraine und Europäer als direkt und indirekt Betroffene hinweg geschehen. Das wäre ein Diktatfrieden. Es darf kein Absegnen des Aggressionskrieges geben.
– Die Europäer sind jetzt auf sich gestellt. Im Klartext: Zur Stellung einer Friedenstruppe zur glaubwürdigen Absicherung eines Waffenstillstandes sind die Europäer zzt. nicht in der Lage. Erst recht sind die EU-Länder allein nicht verteidigungsfähig.
– Deutsche Institute zur Friedens- und Konfliktforschung arbeiten seit Jahrzehnen zu Abrüstung, Rüstungskontrolle und kooperative Sicherheit, z.B. im Rahmen der OSZE. Jetzt votieren Stellungnahmen aus dem Hamburger und Frankfurter Institut (IFSH und HSFK) sehr klar für viel mehr deutsche Militärhilfe. Die Ukraine müsse den russischen Angriffen standhalten können. Genau so eindeutig sprechen sie sich für die Wiederherstellung von Verteidigungsfähigkeit für glaubwürdige Abschreckung aus. (IFSH-Kurzanalyse: Was Trumps Ukraine-Deal für Deutschland bedeutet: https://ifsh.de/news-detail/ifsh-kurzanalyse-was-trumps-ukraine-deal-fuer-deutschland-bedeutet ; Nicole Deitelhoff: „Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“, https://taz.de/Friedensforscherin/!6068227/ )
Der heutige SPIEGEL-Titel „VERRATEN – Erst Selensky, bald wir? Die radikale Abkehr der USA von ihren Verbündeten?“ (Dazu zeige ich die Titelseite mit dem Selensky-Foto)
Die Ukraine verraten? NEIN! NEIN! NEIN! Slava Ukrajini! Es lebe die Ukraine!
Morgen sind die Bundestagswahlen. An die Wahlberechtigten:
- Geht wählen!
- Stimmt für die Parteien, die die Demokratie verteidigen – und nicht an ihre Feinde ausliefern wollen!
(C) Regina Elsner am 22.02. auf Facebook
„Ist ja jetzt ständig irgendwo irgendeine Demo“ sagt die Friseurin. Ja, aber die Menschen wählen dann auch aus, wofür sie vom Sofa oder vom Aperol aufstehen, vor allem im gemütlichen Münster. Für die Ukraine steht leider kaum noch jemand auf, im Vergleich zumindest zu den wirklich großen Demos gegen Rechts. Dass beide Themen eng zusammenhängen machte Olga Stromberger klar, wenn sie über die Sorgen der Ukrainer*innen in einem dunkler werdenden Deutschland spricht, und Winfried Nachtwei, wenn er mit Sorge und Wut auf die geopolitischen Entwicklungen schaut. Die Zahlen der Toten in der Ukraine verschleiern das täglich Leid. Die Ukrainer*innen können sich kein Vergessen leisten, wir eigentlich auch nicht…
(D) „No Bravery“ von James Blunt
Der Song entstand vor dem Hintergrund von Blunt`s (Nach-)Kriegserfahrung 1999 im Kosovo und wurde 2004 in seinem 1. Album „Back to Bedlam“ veröffentlicht. Blunt diente 1996-2002 in den britischen Streitkräften und war 1999 als Captain einer britischen Aufklärungseinheit beim KFOR-Vormarsch auf den Flughafen Pristina eingesetzt. Als russische Fallschirmjäger zuerst den Flughafen erreichten, befahl US-General Wesley Clark als NATO-Oberbefehls-haber in Europa ein militärisches Vorgehen gegen die russischen Truppen. Der britische KFOR-Kommandeur Mike Jackson (und auch James Blunt als Einheitsführer am Flugplatz) verweigerten die Ausführung des Befehls. Sie befürchteten, mit Befolgen des Befehls den 3. Weltkrieg auslösen zu können.
No Bravery Lyrics Übersetzung: https://www.songtexte.com/uebersetzung/james-blunt/no-bravery-deutsch-73d6ae99.html ; https://de.video.search.yahoo.com/yhs/search?fr=yhs-trp-020&ei=UTF-8&hsimp=yhs-020&hspart=trp&p=no+bravery+james+blunt&type=Y179_F163_202595_021625#id=3&vid=4e2809e70418c7b4c287a21fe420cffd&action=click
(E) Meine Reden zur russischen Großinvasion vom
Zweiter Kriegstag, 25.02.2022: https://domainhafen.org/2022/02/25/166 ;
Erster Jahrestag des Großangriffs 2023: https://domainhafen.org/2023/02/26/rede-bei-der-solidaritaetskundgebung-fuer-die-ukraine-am-1-jahrestag-des-russischen-grossangriffs/ ; https://domainhafen.org/2023/03/15/meine-rede-am-24-2-%d0%bf%d1%80%d0%be%d0%bc%d0%be%d0%b2%d0%b0-%d0%bd%d0%b0-%d0%bc%d1%96%d1%82%d0%b8%d0%bd%d0%b3%d1%83-%d1%81%d0%be%d0%bb%d1%96%d0%b4%d0%b0%d1%80%d0%bd%d0%be%d1%81%d1%82%d1%96-%d0%b4/
Zweiter Jahrestag des Großangriffs 2024: https://domainhafen.org/2024/03/01/2-jahrestag-des-russischen-grossangriffs-solidaritaet-mit-der-terrorisierten-ukraine-in-muenster/