Gerd starb am 29. März. Vor 30 Jahren durfte ich ihn in der Bundestagsfraktion näher kennenlernen und mit ihm zusammenarbeiten.
Persönliche Erinnerung an Gerd Poppe, einen „Leuchtturm der Freiheit“ (mit Buchauszug „Bei Ulrike und Gerd Poppe“ von Peter Wensierski) von Winfried Nachtwei, MdB a.D. (April 2025), Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei , 5.April
„Gerd Poppe starb am 29. März 2025 im Alter von 84 Jahren. Der Diplom-Physiker aus Berlin engagierte sich seit 1968 in der Oppositionsbewegung der DDR. Dabei stand er unter fortwährender Beobachtung, wurde wiederholt verhaftet und in seiner Berufsausübung behindert. 1985 zählte er zum Gründerkreis der Initiative „Frieden und Menschenrechte“ und war 1989/90 deren Sprecher am „Zentralen Runden Tisch“. Der Regierung Modrow gehörte er kurz als Minister ohne Geschäftsbereich an und war von März bis Oktober Mitglied der ersten frei gewählte Volkskammer.“ (Das Parlament 12.04.2025)
Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 wurde er in den Bundestag gewählt und außenpolitischer Sprecher der Abgeordnetengruppe Bündnis 90/Grüne (die Westgrünen verpassten den Einzug in den Bundestag). 1994-1998 war er außenpolitischer Sprecher der gesamtdeutschen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 1998 bis 2003 war Gerd Poppe der erste Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe.
Rede von Lukas Beckmann beim Länderrat 2025 – Gedenken an Gerd Poppe: https://www.youtube.com/watch?v=poT5dRC-9_M
1994 bis 1998 durfte ich als Bundestagsneuling mit ihm im außenpolitischen Arbeitskreis der Fraktion zusammenarbeiten. Es war die Zeit der zugespitzten Kriege und Gewalt in Bosnien und Kosovo. Als Vorkämpfer für Frieden und Menschenrechte gehörte er zu der weitsichtigen, Minderheit in der Partei, Fraktion und Friedensbewegung, deren Friedensverständnis die Schutzverantwortung für angegriffene Menschengruppen einschloss, wenn nötig auch mit UN-legitimierten Militäreinsätzen.
Gerd Poppe war derjenige Bundestagsabgeordnete, der sich in den 90er Jahren so früh, ausdauernd und kundig mit der Unterdrückung im Kosovo beschäftige, vor weiterer Gewalteskalation warnte und Vorschläge zur politischen Konfliktlösung machte, wie wohl kein anderer Abgeordneter. Dass Frühwarnungen vor Gewalteskalationen damals von verantwortlicher Politik, aber auch der Mehrheit der Friedensbewegung sehr oft nicht wahrgenommen wurden, musste auch er erfahren.
Das zeigen seine Anträge + Stellungnahmen ab 1991:
– Antrag von Gerd Poppe u.a.: Zur Lage im Kosovo, Drs. 12/780, 17.06.1991
– Presseerklärungen von Gerd Poppe zu „Sofortiger Abschiebestopp für KOS-Albaner“,
15.11.1993, und „Diesmal muss Europa rechtzeitig helfen“, Ergebnisse einer Reise nach KOS, 10.06.1996
– Antrag Gerd Poppe u.a.: „Lage der Albaner im KOS, Drs. 13/5752 09., 10.1996
– Entschließungsantrag von Gerd Poppe u.a.: Für eine Verhandlungslösung im Kosovo, Drs. 13/10543, 04.03.1998
– Rede am 07.05.1998 zu TOP 11, Entschließungsantrag zur Beratung über den Gesetzentwurf zum Vertrag von Amsterdam), Plenarprotokoll 13/235
– Pressemitteilung von Gerd Poppe: KOS. Einen neuen Völkermord verhindern! 15.06.1998
Im Oktober 1996 nahmen Gerd und ich an dem Bosnien-Besuch von Fraktions- und Parteispitze teil (mit Joschka Fischer, Kerstin Müller, Krista Sager, Jürgen Trittin, Werner Schulz, Marieluise Beck, Achim Schmillen). Die Reise wurde zu unserem „Damaskus-Erlebnis“: Am Hang über Sarajevo wurde uns deutlich: Es gibt Situationen, wo zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Massengewalt der Einsatz militärischen Gegengewalt legitim, notwendig und verantwortbar sein kann. („Wider das schnelle Vergessen: Am Hang von Sarajevo und das ´Gelöbnis von Banja Luka` – unsere Schlüsselerfahrungen im Oktober 1998“, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1431 ; Leseempfehlung zum Sonntag: Vor 20 Jahren in Bosnien: https://augengeradeaus.net/2016/10/leseempfehlung-zum-sonntag-vor-20-jahren-in-bosnien/ Die Schlüsselerfahrungen des Bosnienbesuches trugen maßgeblich dazu bei, dass Gerd`s Position einer an Menschenrechten und VN-Charta orientierten, realitätstüchtigen Friedenspolitik bei den Grünen mehrheitsfähig, schließlich Konsens wurde.
Im Arbeitskreis V (Internationales) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen konstatierte er am 16. Juni 1998 beim TOP Kosovo:
„Grüne aktivste Partei in Sachen KOS, seit 1991 immer wieder reingebracht! Meinungsführer – bis zur Vorlage der Grünen vor drei Wochen, der andere Fraktionen zustimmten. Klare Position zu Menschenrechtsfragen. Einmütig zum Versagen der Internationalen Gemeinschaft, ihrer Inkonsequenz. Serbische Kriegführung ähnlich wie in Bosnien, ähnliche Massaker wie in Srbrenica seien möglich. UCK organisiere sich zunehmend. Erste Versuche einer militärischen Organisation. Bisher habe sie noch keine terroristischen Akte begangen. Position von Rugova werde schwächer. Nachbarländer seien stärker gefährdet als im Fall Bosnien. (…)“ (Aus meinen Persönlichen Aufzeichnungen aus Fraktion und Verteidigungsausschuss ab Mai 1998 (Kladde VIII))
Peter Wensierski auf Facebook: sdnoeStrop2mg7ua23f0M59rm27i9.10äf2tz:0g53 c306hugh l72 4362 ·
Um ihn zu würdigen gibt es über den verstorbenen Gerd Poppe sehr, sehr viel zu erzählen. Vor und nach dem Fall der Mauer. Ich stelle deshalb über ihn und seine legendäre Wohnung Rykestraße 28 in Berlin-Prenzlauer Berg, ein von mir geschriebenes Kapitel aus unserem Buch „Berlin – Stadt der Revolte“ hiermit frei als Lektüre zur Verfügung. Besonders für all jene, die nichts oder wenig über ihn wissen. Menschen wie er waren Leuchttürme der Freiheit zu Zeiten der DDR. Gerd Poppe gehört unbedingt ein besonderer Platz in der neueren deutschen Geschichte und in einem künftigen Forum Demokratie und Widerstand!
„Bei Ulrike und Gerd Poppe: Rykestraße 28“ (aus: Berlin – Stadt der Revolte Sontheimer/Wensierski, 2018)
Am Ende der Rykestraße, kurz vor der Danziger Straße, die zu DDR-Zeiten Dimitroffstraße hieß, liegt rechter Hand ein leicht verwunschener Hinterhof, der gar keiner ist, denn noch immer fehlt hier das Vorderhaus. Nur ein paar Mauerreste um den früheren Kellerzugang sind übriggeblieben. Die restliche Grundfläche des ehemaligen Vorderhauses hat sich die Natur mit wildem Pflanzenwuchs zurückerobert.
Der Seitenflügel war ebenfalls eine Ruine, nur im dritten Stock hatte sich ein Maler sein Atelier eingerichtet.
Egal, Hinterhaus und Quergebäude der Ryke 28 sind renoviert, verputzt und gestrichen. Es kann sein, dass in dem Moment, in dem man sich in dem kleinen Hof umsieht, eine junge Spanierin das Haus verlässt, ein chinesischer Student oder irgendein anderer der neuen Bewohner und Bewohnerinnen des Prenzlauer Bergs. Genau hier lag einmal einer der zentralen Treffpunkte der Ost-Berliner Opposition. Ja, in einer Wohnung. Denn anders konnten man sich nicht so einfach treffen. Nicht im Hinterzimmer einer Kneipe, nicht in einem Raum der Universität, nicht in einem eigens angemieteten Ladenlokal. In die Ryke 28 pilgerte jahrelang die politisch-oppositionelle Szene aus dem Osten. Hier traf sich mit der Initiative Frieden und Menschenrechte eine der wichtigsten Oppositionsgruppen der DDR, und hierhin kam auch politischer Besuch aus dem Westen – Menschenrechtler aus aller Welt, westeuropäische Friedensbewegte, Bundestagsabgeordnete der Grünen – seit Ende der siebziger Jahre Gerd und Ulrike Poppe in das verfallene, noch vom 2. Weltkrieg gezeichnete Haus eingezogen waren, ganz oben im 4. Stock, gleich unterm Dach.
Gerd war Physiker, aber nachdem er 1976 gegen die Ausbürgerung Biermanns protestiert hatte, verweigerte ihm die Akademie der Wissenschaften eine bereits zugesagte Anstellung und so schlug er sich mit Aushilfsjobs durch. Ulrike arbeitete beim Museum für Deutsche Geschichte. Als Anfang der Achtziger Jahre Frauen in der DDR auch zum bewaffneten Wehrdienst eingezogen werden sollten, gründete sie mit anderen zusammen die Gruppe „Frauen für den Frieden”. Beide, Gerd und Ulrike, gehörten im Januar 1986 zu den Gründungsmitgliedern der „Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM)“. Diese Gruppen trafen sich oft bei Bärbel Bohley in der Fehrbelliner oder in der Ryke 28 – bis zum Herbst 1989. 1990 schloss sich die IFM mit „Demokratie Jetzt“ und Teilen des „Neuen Forums“ zur Bürgerbewegung „Bündnis 90“ zusammen. Im September 1991 wurde daraus eine Partei, die seit der Fusion mit den Grünen 1993 bis heute als Bündnis 90 / Die Grüne im Bundestag präsent ist, Aus der Rykestraße in den Bundestag – das war ein weiter Weg.
Die 80-Quadratmeter-Wohnung der Poppes zog sich um die Hausecke herum und hatte deshalb praktischerweise zwei Eingänge. Da es im Haupteingang zunächst nur ein Aussenklo gab, das im Winter schon mal einfrieren konnte, wurde mit Hilfe eines guten Freundes, Carlo Jordan aus der Fehrbelliner 7, einfach eine Wohnungstür ins Treppenhaus versetzt. So entstand – dank einer rasch organisierten alten Wanne – ein innenliegendes Badezimmer. Schließlich hatten die Poppes gerade einen Sohn namens Jonas als Nachwuchs bekommen. Aber die beiden bauten noch ein paar Extras in die Wohnung ein:
Für das Bett konstruierte Gerd Poppe ein Podest für die Matratzen, in dessen Seitenklappen man das Bettzeug, aber auch Kisten hineinschieben konnte, um darin Sachen zu verstecken. Der Kinderwäscheschrank bekam eine doppelte Rückwand und im hinteren Flur wurde eine doppelte Decke eingezogen. Dorthinein verschwanden Dinge, die von der Stasi nicht sofort gefunden werden sollten, und die auch nicht jeder Besucher sehen sollte: ob nun verbotene Bücher oder Westzeitungen oder in Prag, Warschau und Budapest hergestellte Untergrundzeitschriften.
„Petra Kelly, die für die Grünen im Bundestag saß und uns häufig besuchte, brachte eines Tages ein kleines Kopiergerät mit“, erinnert sich Ulrike Poppe. „Wir haben das brisante Gerät in der Seitenflügel-Ruine versteckt. Wenn wir etwas kopieren wollten, haben wir nachts die Vorhänge zugezogen, den Kopierer aus dem Versteck geholt und wegen des Kopiergeräusches zunächst mal Musik angemacht und erst dann losgelegt.“ Der Kopierer wurde auch innerhalb der IFM weitergereicht und zur Vervielfältigung oppositioneller Texte benutzt.
Gerd Poppe baute die Verstecke im Haus noch aus: „Man konnte durch ein zweites Treppenhaus im Seitenflügel auch von hinten in unsere Wohnung rein. In diesem Treppenhaus gab es eine nichtgenutzte Toilette. Ich fand das eine gute Möglichkeit, stellte dort ein Regal rein und packte es voller politischer Bücher, die uns Freunde aus dem Westen mitgebracht haben. Das war auch ein gutes Versteck für Aufrufe, die gerade in Arbeit waren oder die noch verteilt werden sollten.“
All diese Maßnahmen waren nötig, „denn in der Wohnung lief ziemlich viel öffentlich ab, und man wusste nicht immer, wer so alles hineinkam.“ Die Wohnräume dienten der Ost-Berliner Opposition als offener Treffpunkt und zugleich der Familie Poppe als familiäres Zuhause. Hier wurden Kinder großgezogen, politische Erklärungen und Aktionen diskutiert, illegal gedruckte Untergrund-Zeitschriften der DDR-Opposition zusammengelegt und zu Lesungen mit Dichtern und Schriftstellern eingeladen.
Für die zwischen 1980 und 1983 stattfindenden Lesungen standen nur etwa 60 Quadratmeter der Wohnung zur Verfügung. Eingeladen wurde stets per Flüsterpropaganda. „In der Regel drängten sich dann bis zu 100 Leute zusammen. Einmal haben wir sogar 130 gezählt. Das war, als Adolf Endler bei uns eine Wohnzimmerlesung hatte.“
Der Schriftsteller Endler war nach seinem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen worden und durfte nicht mehr öffentlich auftreten, las aber in Privatwohnungen regelmäßig aus unveröffentlichten Romanen wie seinem „Tarzan am Prenzlauer Berg“.
In der Poppe-Wohnung, in der Ryke 28, lasen etliche Schriftsteller ihre nicht zur Veröffentlichung zugelassenen Texte: Wolfgang Hilbig, Uwe Kolbe, Elke Erb, Lutz Rathenow und der später als Stasi-Spitzel enttarnte Sascha Anderson. Die Stimmung war meist gut, geradezu gelöst. Es wurde viel gelacht über die oft ironischen oder zweideutigen Texte. Man wehrte sich, indem man einfach das tat, was eigentlich verboten war. Sich als Gruppe von Menschen zu treffen und miteinander politisch zu diskutieren. War die vom Zigarettendunst geschwängerte Lesung vorbei, gab es Ankündigungen künftiger Lesungen in anderen Wohnungen; wie: „Nächsten Samstag ist Ulrich Plenzdorf bei Werner Fischer!“ und natürlich Rotwein, Tee und Schnaps.
Weil es bei solchen Gelegenheiten in der Poppe-Wohnung brechend voll werden konnte, verlegte Gerd Lautsprecherkabel in einem weiteren Raum und bis in die Küche, so konnten die Lesungen in drei Wohnräumen gehört werden konnte. Ärger bekamen die Gäste allerdings schon, bevor sie überhaupt angekommen waren. Auf der Straße standen in der Regel Stasimänner in Zivil herum. Bei zwei Lesungen mussten alle Besucher noch vor dem Haus ihre Ausweise zeigen und wurden registriert. Einmal, als Uwe Kolbe lesen sollte, kam ein Polizeihauptmann von der Abteilung „Erlaubniswesen“ des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg vorher zum Ehepaar Poppe und erklärte ihnen: „Dies ist eine ungenehmigte Veranstaltung! Damit machen Sie sich strafbar!“ Die Poppes hielten dagegen: „Keineswegs! Das ist unsere Sache Wir haben doch nur Freunde eingeladen.“ Antwort des Ordnungshüters: „Was eine Veranstaltung ist, bestimmen wir!“ Das Handeln der Staatsmacht war von Willkür geprägt. Zugleich sollte aber ein Anschein von Rechtsstaatlichkeit gewahrt werden, da die SED nicht ständig in den Westmedien kritisiert werden wollte.
So begnügte sie sich, anstatt die Lesungen komplett zu verhindern, schließlich mit der Verhängung von hohen Ordnungsstrafen, die den Zuhörern direkt vom Gehalt abgezogen wurden. 1983 beendeten Poppes die Lesereihe, jedoch fanden die Lesungen schon länger auch in anderen Wohnungen statt: unter anderem bei Ludwig Mehlhorn und Werner Fischer. Die Stasi ging allerdings noch andere Wege, denn sie interessierte sich nicht nur für die Lesungen.
„Ich kam im Frühjahr 1981 mal um elf Uhr vormittags von meinem Job als Maschinist in einer Schwimmhalle nach Hause “, erinnert sich Gerd Poppe. „Da kamen mir zwei Herren im Hauseingang entgegen, die unverkennbar der Stasi angehörten. Sie wohnten nicht hier und hatten das typische Outfit mit Plastik-Anorak, Cordhose und in diesem Fall zwei Aktenköfferchen.“ Poppe stutzte und ging das Treppenhaus hoch. Von einer Nachbarin, die stets zu ihm und seiner Familie hielt, hatte er am Vorabend höchst Verdächtiges erfahren: „Sie erzählte, dass sie die zwei Herren auf dem Dachboden angetroffen habe, als sie dort ihre Wäsche aufhängen wollte., Sie hantierten dort mit seltsamen Messgeräten. Auf ihre Frage, was sie denn da zu suchen hätten, war deren Antwort: Sie würden für einen neuen Mieter eine Fernsehantenne einbauen. Das glaubte sie nicht und fand es höchst merkwürdig, dass sie sich offenbar genau über unserer Wohnung zu schaffen gemacht hatten.“ Poppe ging nun selbst nachschauen, inspizierte den Dachboden höchst aufmerksam. Er fand schließlich ein paar lose Dielen, hob sie hoch, wühlte ein wenig in der Deckenschüttung. Plötzlich spürte er einen dünnen Draht zwischen seinen Fingern. Der Draht wurde immer länger. Ein Ende ging bis zu einer Fernsehantenne und von dort mit einem Spezialkabel bis zu einer Wohnung in der zweiten Etage, in der offenbar die Abhörtechnik stand. Der Mieter hatte seine Wohnung der Stasi zur Verfügung gestellt. Als Poppe am kürzeren Ende im Schotter zog, stieß er auf ein in eine Keramikhülse eingebautes streichholzgroßes Mikrofon. „Es war, wie ich später feststellte, ein Mikrofon japanischer Bauart, wie ich es noch nie gesehen hatte. Sie hatten es genau bis in den dünnen Putz unserer Wohnzimmerdecke hinunter eingelassen, genau über unseren großen Tisch, an dem wir ja meist als Familie mit politischen Freunden aus Ost und West saßen und redeten und wo auch die Schriftsteller bei den Lesungen waren.“ Gerd Poppe baute das Abhörmikrofon aus, fotografierte es und übergab es befreundeten Elektronikexperten zur Untersuchung. Später führte er es wiederholt Besuchern vor, die über die Empfindlichkeit des Mikrofons staunten: An einem Ende des Raumes flüsterten zwei Personen miteinander, am anderen Ende verstand ein Dritter jedes Wort über seine Kopfhörer.
Abgehört oder nicht: außer ständigem Besuch von Ost-Oppositionellen kamen auch jede Menge Gäste aus dem Westen. Dazu gehörte die Grünen-Gründerin Petra Kelly, die nicht nur nach einem Zusammentreffen mit SED-Chef Erich Honecker im T-Shirt der unabhängigen Friedenbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ vorbeischaute, sondern auch privat rund zwei Dutzendmal gemeinsam mit Gert Bastian zu Besuch war, um sich über die Friedens-, Ökologie- und Demokratiebewegung im Osten wie im Westen Deutschlands auszutauschen. Regelmäßig brachten sie Materialien für die DDR-Opposition mit. Bundestagsabgeordnete hatten einen Diplomatenstatus und wurden – von seltenen Ausnahmefällen abgesehen – weder an der Einreise gehindert noch kontrolliert. Dies galt ebenso für Heinz Suhr, von 1983 bis Mitte der Neunziger Jahre Pressesprecher der Grünen und Ulrich Fischer, einen hessischen Grünen, beide MdB zwischen 1985 und 1987. Ost-Berliner Oppositionelle erhielten mit ihrer Hilfe Wachsmatrizen-Druckmaschinen, die zur Herstellung von Samisdat-Zeitschriften eingesetzt wurden, u.a. für den „Grenzfall“ der IFM.
Gerd Poppe kannte als engagierter Bürgerrechtler die Stasi und ihre Methoden schon lange und war von ihnen wenig beeindruckt. Als der SED-Kritiker Rudolf Bahro 1979 nach seiner Haftentlassung und unmittelbar vor seiner Ausbürgerung noch für einen Tag in der DDR weilte, klingelte es in der Rykestraße 28 an der Wohnungstür. Bahros Sohn stand davor und teilte Gerd mit: „Kommen Sie bitte jetzt gleich zur Straßenbahnhaltestelle Eberswalder Straße.“ Es war klar, Bahro wollte Gerd Poppe sprechen. An der Haltestelle wartend, sah Poppe eine dichte Traube von Stasi-Leuten rundherum um Bahro auf sich zukommen. Der offenbar ranghöchste Stasi-Offizier baute sich vor Gerd auf und drohte ihm: „Wir werden das Gespräch auf jeden Fall verhindern!“ Immerhin ließen sie noch ein kurzes Händeschütteln zu. Nachdem sich beide noch einige Sätze über die Köpfe der Stasi-Leute hinweg zugerufen hatten, wurden sie getrennt. Als Gerd Poppe anschließend wieder in die Rykestraße zurückkehrte, warteten schon zwei vollbesetzte Stasi-Autos vor seiner Haustür um ihn für den mehrere Tage rund um die Uhr zu observieren.
„Es war mitunter sehr skurril,“ erinnert sich Poppe. „Einmal stand ich während meiner Arbeit als Maschinist am Rande des Schwimmbeckens und unterhielt mich mit dem Bademeister. Da kamen doch tatsächlich zwei Stasimänner auf uns zu geschwommen und blieben am Beckenrand, nur um zu hören, was wir da zu besprechen hatten. Unser Telefon, das man uns überraschend gewährt hatte, wurde natürlich ebenfalls abgehört.“
Auch Ulrike Poppe sind seltsame Erlebnisse mit der Stasi in Erinnerung geblieben: „Irgendetwas war wieder los gewesen, Gerd hatte man auf der Straße mitgenommen zum Verhör und seit dem Nachmittag hielten sich drei Stasileute in unserer Wohnung auf. Mir wurde erklärt, ich hätte „Hausarrest“. Um 22 Uhr zogen sich die Herren in ihren PKW zurück, der die ganze Nacht über vollbesetzt vor der Haustür stand. Am nächsten Morgen kamen sie wieder in die Wohnung. Nachdem ich erklärte, einkaufen zu müssen, ging einer der Stasi-Leute zur Telefonzelle, um eine Mitarbeiterin zu bestellen.“ Die stand eine Weile später vor der Wohnungstür. „Und ich gab ihr meinen Einkaufszettel. Ich schrieb dann extra schwere Sachen auf“, lächelt Ulrike Poppe noch heute darüber: „Zucker, Mehl, Milchflaschen, Kartoffeln…“ Die Stasifrau kam nach einer Weile mit zwei dicken Taschen beladen zurück in den vierten Stock. „Dann haben wir noch das Geld für den Einkauf abgerechnet. Sie hatte es ja vorgestreckt. Wieder blieben Stasi-Bewacher in der Wohnung, bis zwei andere MfS-Mitarbeiter kamen, von denen ich einen gut kannte. Es war mein Vernehmer während meiner sechswöchigen Untersuchungshaft in Hohenschönhausen 1983/84. Er sei inzwischen zum Major befördert worden, erzählte er. „Oh, hallo!“ sagte Ulrike. Der aus Jena ausgebürgerten Oppositionellen Roland Jahn rief gerade aus West-Berlin an. Jahn arbeitete dort in der ARD-Fernsehredaktion von „Kontraste“ als Journalist und wollte wissen, was los ist. Der Stasi-Mann und seine Begleiter saßen währenddessen am Wohnzimmertisch. Ulrike Poppe telefonierte trotz der Besucher weiter: „Hallo Roland, mein alter Vernehmer sitzt bei mir am Tisch und erzählt, er sei befördert worden!“ Sofort gestikulierten die Herren wie wild, ich sollte das Telefonat sofort abbrechen.
Manchmal ging es auch turbulenter zu. „Es klingelte frühmorgens. Ich hatte die Türkette angelegt und öffnete nur einen Spalt.“ Ulrike Poppe sah mehrere Stasi-Leute, einer hielt einen Seitenschneider in der Hand. „Moment!“ rief sie, „ich zieh mich erst an.“ Die Männer brüllten: „Nein! Sofort öffnen!“ Sie schloss die Tür, woraufhin sie begannen, heftig gegen die Tür zu schlagen. Die Gewalt ließ Türblatt und -rahmen knacken. „Ich öffnete daraufhin wieder die Tür ganz. Unter Aufsicht einer Stasifrau durfte ich mich ankleiden. Dann sollte ich sie begleiten. Aber die Tür ließ sich nicht mehr richtig schließen.“ „Wir können die Wohnung doch nicht offenlassen!“ – mahnte sie. Sie wurde aufgefordert, Werkzeug zu holen und die Herren konzentrierten sich auf den behelfsmäßigen Reparaturvorgang und beachteten Ulrike einen Moment nicht. Bei dieser Gelegenheit öffnete die Nachbarin leise ihre Tür und winkte Ulrike zu sich hinein. „Sie fragte mich, ob ich jemand anrufen wolle, ob sie jemanden benachrichtigen soll. Da hämmerten die Stasi-Leute schon gegen ihre Wohnungstür und riefen: Wir nehmen auch Sie gleich mit!“ Ulrike dankte der mutigen Nachbarin und ging zur Vernehmung mit.
Im Hof der Ryke 28 fand im Oktober 1987 eine der öffentlich unbekanntesten und nettesten politischen Aktionen im Freundeskreis der Poppes statt. Der 65. Geburtstag von Gert Bastian stand bevor und man wollte ihm und Petra Kelly einen Gruß über die Grenze in den Westen schicken. Es sollte ein Geburtstagskalender sein. So traf man sich zu einem Foto-Shooting, würde man heute sagen, im Hof der Ryke 28. Die Idee: wir zeigen, dass man Mauern überwinden kann.
Die Oppositionellen überboten sich an phantasievollen Ideen, die sie an der Hofmauer zum Nachbargrundstück vor der Kamera inszenierten. Bärbel Bohley kletterte mit Hund über die Mauer, Ralf Hirsch, Reinhard Schult und andere machten Räuberleiter und stapelten sich wie die Bremer Stadtmusikanten weit über Mauerhöhe. Martin Böttger balancierte auf der Mauerkrone wie ein Artist mit einer langen Stange in der Hand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Andere spannten Regenschirme auf, sprangen in die Luft, um über die Mauer zu fliegen. Am Ende setzten sie sich in die Überreste eines schon lange im Hof stehenden verrotteten Oldtimerwracks zusammen, als ob sie alle in einem offenen Wagen sitzen würden. So entstand ein legendäres Gruppenfoto Ost-Berliner Oppositioneller, inklusive zweier falscher Freunde, die inoffizielle Mitarbeiter der Stasi waren.
Gerd Poppe vertrat 1989-1990 die Initiative Frieden und Menschenrechte am Zentralen Runden Tisch, war Abgeordneter von Bündnis 90 im letzten frei gewählten DDR-Parlament und von 1990 bis 1998 Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Von 1998 bis 2003 war er der erste Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Ulrike Poppe vertrat die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ am Runden Tisch, arbeitete als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg und von 2010 bis 2017 als Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur.
Irgendwann Ende der Neunzigerjahre Jahre trennten sich die Wege von Ulrike und Gerd Poppe. Sie blieben in der Nähe wohnen, aber ihre alte Wohnung wurde umgebaut. „Nur die Fenster sind noch an derselben Stelle“, sagt Gerd. Er steht im Hof und blickt nach oben, als schaue er in den Himmel.