Srebrenica, 30. Jahrestag, Auszüge „Die letzten Tage von Srebrenica“: (B) 12.-16. Juli 1995 + Dokumente, Videos

Nach der Besetzung Srebrenicas durch serbische Truppen und Beginn des „Todesmarathon“.

Srebrenica, 30. Jahrestag, Auszüge aus „Die letzten Tage von Srebrenica“: (B) 12.-16. Juli 1995 und Zeitzeugenberichte,  Dokumente,Videos

  1. Juli

Die 42-jährige bosnisch-muslimische Buchhalterin Camila Omanovic aus Srebrenica befindet sich unter 20.000 Flüchtlingen auf dem Parkplatz vor dem UN-HQ in Potocari. Sie wird gebeten, als Vertreterin der Flüchtlinge an einem Treffen mit General Mladic im Hotel Fontana teilzunehmen. Unterwegs begegnet sie vier bosnisch-serbischen Bekannten bzw. Schulfreunden. Diese reagieren abweisend, zum Teil hasserfüllt. (S. 211)

Die Kolonne der Männer aus dem Nordwesten der Enklave ist acht Kilometer lang, einer marschiert hinter dem anderen. Mehr als 20% der Strecke sind gefährlich freies Gelände. Viele Väter gehen neben ihren Söhnen.  „Es war ein grausames Gelände. Endlose Berge und Täler zehrten an den Kräften der Männer. Ihre Essensvorräte reichten für einen Tag, aber vor ihnen lag ein sechstägiger Marsch. (…) In regelmäßigen Abständen hallten Artilleriefeuer und Detonationen über die Berge. Gelegentlich pfiffen Gewehrsalven über ihre Köpfe.“ (S. 218)

UN-Basis Potocari: Gegen 13.00 Uhr nähern sich dem UN-HQ ein serbischer Panzer und ein MTW. 20 bis 30 schwerbewaffnete Serben nähern sich. Zwei Kanonen, zwei Panzer, drei Mehrfachraketenwerfer und ein Flak-Geschütz haben die Serben in unmittelbarer Sichtweite des NL-Lagers aufgestellt. OTL Karremans an seine Vorgesetzten: „Ich bin nicht imstande, (a) diese Menschen zu verteidigen, (b) mein eigenes Bataillon zu verteidigen.“ Der einzige Ausweg seien Verhandlungen auf höchster Ebene.  (S. 222)  „In den Fabrikgebäuden fangen die Serben an, den Niederländern CD`s, persönliche Dinge und andere Ausrüstungsgegen-stände zu stehlen. (…) Eifrig bemüht, die Serben nicht zu provozieren, hatten niederländische Offiziere beschlossen, alle Niederländer zu entwaffnen und die Waffen der Blauhelme in einem der MTW`s zu deponieren.“ (S. 223) Einzelne Serben bieten den Niederländern Schnaps und Zigaretten an.

Erste Selektionen von Männern: Serben beginnen, Männer aus der Flüchtlingsmenge zusammenzutreiben. Angeblich, um sie zur Befragung wegzubringen.

Gegen 15.00 Uhr kommt ein kleiner Laster, von dem serbische Soldaten den Menschen Brot zuwerfen. Ein Fernsehteam filmt die Szene.

General Mladic: Um 16.00 Uhr trifft General Mladic ein. „Vor laufenden Kameras verteilen seine Männer Süßigkeiten an die Kinder. Mladic spielt den liebevollen Großvater. ´Es wird niemandem etwas geschehen. Sie haben nichts zu befürchten. Sie werden alle evakuiert.“

„Evakuierungen“: Es fahren Busse und Laster vor, wenden und parken in einer langen Reihe. Der niederländische Offizier vom Dienst zu Mladic: „Wir werden in keiner Weise kooperieren. Sie dürfen die Leute nicht ohne unsere Erlaubnis wegbringen. Was haben Sie vor?“ Mladic: „Wir bringen die Flüchtlinge an einen besseren Ort. Uns hält nichts auf.“ (S. 231)

Serbische Soldaten zerren Niederländer aus der Blauhelmkette, um Flüchtlinge zu den Fahrzeugen zu treiben. 50 schwer bewaffnete serbische Soldaten stehen 30 weitgehend unbewaffneten Blauhelmsoldaten gegenüber. Muslime hasten zu den Bussen und Lastern und werden von den Serben beschimpft. „Einigen Blauhelmsoldaten werden mit vorgehaltener Waffe ihre Helme und Schutzjacken abgenommen. (…) Die Serben führen die muslimischen Männer weg, die kaum oder gar nicht Widerstand leisten. (…) Die Serben verhaften, verspotten und vertreiben Menschen, die die Niederländer beschützen wollen. (…) Die Demütigung ist komplett.“ (S. 232) Alte und behinderte Männer werden in ein nahe gelegenes Gebäude getrieben.

Der  niederländischer Leutnant van Duijn stößt sich daran, wie die Serben mit den Flüchtlingen umgehen und wird selbst initiativ. Als serbische Soldaten muslimische Männer von ihren Familien trennen und in ein nahes Haus führen, fragt van Duijn nach. Sie würden verhört und überprüft, ob es Kriegsverbrecher seien. Mehrfach protestiert van Duijn am Nachmittag, denn er findet, dass die fortgebrachten Männer zu jung oder zu alt sind. Die Männer werden freigelassen.

UN-Soldaten begleiten einzelne Flüchtlingskonvois, die muslimische Zivilisten tatsächlich nach Zentralbosnien bringen. Bei Durchquerung von bosnisch-serbischem Gebiet “verhöhnen serbische Menschenmengen die Muslime und bewerfen den Bus mit Steinen.“ (S. 239) „Die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung der Stadt war offenbar von langer Hand geplant.“ (S. 240) In Potocari verhalten sich die serbischen Soldaten auch gegenüber den UN-Soldaten immer dreister, Pistolen und Schutzjacken werden ihnen abgenommen. (Zum Bild der Muslime in der nationalistisch-serbischen Propaganda, S. 241 ff.)

Erschießungen: Unter den Augen der Niederländer versuchen fünf muslimische Gefangene zu fliehen. Zwei  werden auf der Stelle erschossen, drei ergeben sich. Ein anderer Zwischenfall: Ein mit Pistole bewaffneter serbischer Soldat führt fünf muslimische Männer in das Fabrikgebäude gegenüber der UN-Basis. Minuten später sind fünf oder sechs Schüsse zu hören, und der serbische Soldat kommt allein heraus. „Auch aus den Bergen hinter dem Haus, in das man die alten Männer gebracht hatte, halten Schüsse wieder. Als Leutnant van Duijn und ein UN-Militärbeobachter das Gebäude nachmittags kurz inspizierten, fanden sie nur völlig verängstigte Muslime. Später war aus den Wäldern zwei bis vier quälende Stunden lang systematisches Einzelfeuer von Kalaschnikow-Sturmgewehren zu hören.“ (S. 244)

Eine Kolonne zwischen der Enklave und Konjevic Polje: Neun Stunden haben die Männer bis Kamenica gebraucht. Dreimal mussten sie einen Höhenunterschied von 600 m bewältigen. „Plötzlich sausten Granaten über ihre Köpfe hinweg. Ohne Vorwarnung hallten Schüsse wider. Immer wieder ließen sie Leichen am Wegrand zurück. Eine serbische Mörsergranate war um 13.00 Uhr vor ihnen eingeschlagen und hatte fünf Männer getötet. (…) Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich in der Kolonne Gerüchte über Serben, die sich als Muslime verkleidet hätten.“ (S. 254)

Gegen 20.30 Uhr: Der Hang explodiert. Schreie gellen. Schrapnelle bersten in der Luft und prasseln auf den ganzen Hang nieder. Aus allen Richtungen schießen Automatik-Gewehre. „Männer hetzten den Hang hinunter, hinauf und kreuz und quer. In dem Inferno lassen sie Waffen und Taschen fallen. Männer fallen hin und bleiben keuchend und stöhnend liegen. Träger lassen die Verwundeten zu Boden fallen und suchen im nächsten Gebüsch oder Wäldchen Deckung. Männer, die bergab rennen, stolpern und fallen in dem steilen Gelände kopfüber 50 Meter tief. Die wenigen, die Gewehre haben, wissen nicht, wohin sie schießen sollen, weil das Feuer aus so vielen verschiedenen Richtungen kommt.

Das serbische Flugabwehrgeschütz und der Mörser stehen offenbar auf dem Hang unmittelbar gegenüber der Wiese, auf der 3.000 bis 5.000 Muslime rasteten. Die Kanoniere haben als Ziel eine knapp einen Kilometer breite Lichtung voller Menschen vor sich. (…) Schließlich liegen mindestens 125 Tote und Hunderte Verwundete auf dem Hang zerstreut. Die Verwundeten bleiben sich selbst überlassen, verurteilt, langsam an ihren Verletzungen zu sterben. Die Lebenden kauern sich schutzsuchend unter das Gebüsch oder rennen panisch durch den Wald. Tausende sind von ihren Verwandten, Freunden oder Führern getrennt. Die zehn Kilometer lange Kolonne ist in zwei Teile gerissen.

Srebrenicas Führung, die an der gut bewaffneten Kolonnenspitze geht, entkommt dem Gemetzel. Als der Überfall aus dem Hinterhalt losbricht, ist die fünf Kilometer weit vorn.“ (S. 255 f.)

Potocari: „Abgrundtiefe Angst breitet sich in Potocari aus. Sie nagt an den 15.000 Muslimen auf den Parkplätzen und in den Fabrikgebäuden; hysterisch, ausgehungert, jenseits der Erschöpfung. Sie lähmt die Niederländer, die vorsichtig die nähere Umgebung der Basis patrouillieren oder sich auf dem Lagergelände verstecken. Und sie berauscht die Raubtiere unter den serbischen Soldaten und Polizisten.“ (S. 257) „Männer und Jungen verstecken sich unter Decken oder verkleiden sich als Frauen. Junge Mädchen verhüllen ihre Gesichter.“ (S. 258)

  1. Juli

An der UN-Basis Potocari: Im Lauf der Nacht beobachtet Camila Omanovic, wie Serben aus der Flüchtlingsmenge an der UN-Basis Dutzende von Männern abholen, vier von ihnen kennt sie. Keiner wird zurückkehren. Am Morgen und Vormittag werden in der Umgebung der UN-Basis mehrere Leichen gefunden: Ein Bauarbeiter, der am Vortag verhört wurde, hat sich erhängt. Ein zweiter Selbstmörder wird in einem Gebäude auf der anderen Straßenseite in einem als Toilette benutzten und verdreckten Raum gefunden. In Fabrikgebäuden rund um die UN-Basis werden weitere Leichen entdeckt: ein erhängtes 14-jähriges Mädchen, das serbische Soldaten in der Nacht vergewaltigt haben, ein Baby, eine alte Frau und zwei alte Männer. Später an einem Bach auf der anderen Straßenseite neun männliche Leichen: alle mit Schusswunden im Rücken und in der Herzgegend.

Die Flüchtlinge, die mittlerweile 36 Stunden ohne Essen vor dem niederländischen Lager verbracht haben, plündern die Gärten und Küchen der naheliegenden Häuser.

Kolonne Richtung Nova Kasaba: „Überall in den Bergen ließen Freunde und Verwandte Verwundete sterbend zurück. Andere irrten orientierungslos umher.“ (S. 274) In der Kolonne fünf Kilometer voraus an der Landstraße zwischen Nova Kasaba und Konjevic Polje: „Nur ein neun Meter breiter Asphaltstreifen, ein nahezu ausgetrocknetes Flussbett und dahinter ein 200 Meter breites Feld trennen Tausende von Muslimen von der Freiheit. Die meisten Männer aus Srebrenica waren vor dem Krieg unzählige Male durch diese Landschaft gefahren. Jetzt hatte sich das vertraute Tal und die Straße (…) in einen Todesstreifen verwandelt. bewacht von einstigen Freunden, die heute Feinde waren.

Die letzten Flüchtlingsgruppen huschten gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit hinüber. (…) Serbische MTW`s bezogen entlang der Straße Stellung. Verstärkt waren jetzt serbische Fußstreifen im Einsatz. (…) Serben in gestohlenen niederländischen Uniformen patrouillierten in der Umgebung in ebenfalls gestohlenen gepanzerten MTW`s der UN.

Nördlich von Konjevic Polje wurden 17 Gefangene ans Ufer des Flusses Jada geführt. Ohne Vorwarnung eröffneten die Wachen das Feuer. Abseits der Landstraße verschwanden plötzlich die Wachen, die vor einer Gruppe von 25-30 Gefangenen hergingen. Von hinten eröffneten die übrigen Wachen das Feuer. (…) Dutzende erschöpfter, benommener und unbewaffnete Muslime stolperten bei der Hitze von über 32° C aus den Wäldern. Sie trugen Verwundete auf improvisierten Tragen aus Decken und Baumstämmen. Ihre schweißbedeckten Gesichter waren gezeichnet von Resignation und Angst. Es waren gebrochene Menschen.“ (S. 275)

Lagerhalle in Bratunac mit über 400 Gefangenen: Die Wachen haben es vor allem auf jene Muslime abgesehen, die in Bratunac gut bekannt waren, und auf jüngere und gesündere Gefangene. Diese werden geprügelt, verhört und gefoltert. Einzelnen wird mit einer Axt in den Rücken geschlagen oder die Kehle aufgeschlitzt. (S. 279)

Fußballplatz in Nova Kasaba: „Tausende muslimische Männer knien auf dem Platz, die Hände übe dem Kopf, ihre Blicke gesenkt. Serbische Soldaten brüllten etwas. (…) Hier liegt etwas in der Luft, ein deutlicher Unterschied zu den serbischen Soldaten, die die Enklave eingenommen hatten. Viele gehören anscheinend zu den Drinawölfen. (…) Viele der Männer gehören nicht zu den großspurigen muslimischen Soldaten (…); es sind stolze, eigensinnige Bauern, vor denen sie Respekt haben.“ (S. 284)

UN-Basis Potocari: Im Laufe des Nachmittags leeren sich die Fabrikgebäude allmählich. Im Lager der noch 5.000 Muslime breitet sich Resignation aus.

Gefangene auf einer Wiese an der Straße von Bratunac nach Konjevic Polje: Unter den 1.000 bis 2.0000 muslimischen Gefangenen sind auch Männer, die sich nach dem gestrigen Hinterhalt von Kamenica ergeben haben. Nach einer Rede von General Mladic marschieren die Gefangenen in Kolonne nach Kravica, bewacht von Soldaten mit Kalaschnikow`s. Die Gefangenen werden in drei Betonlagerhallen gebracht, die sonst als Scheunen genutzt werden.

Die Männer, die der Tür und den Fenstern am nächsten sitzen, sind vermutlich bestürzt, als sie sehen, wie die Serben ihre Gewehre heben. Sie stehen vor den Fenstern und Türen, eröffnen plötzlich das Feuer und werfen Handgranaten in die Halle. Im Innern bricht Chaos aus. Männer schreien, als ihnen klar wird, dass sie in der Falle sitzen. Andere heulen auf, als Granatsplitter und Kugeln sie treffen. Die wenigen, die über die Leichen springen und ins Freie gelangen, werden niedergemäht. Mit ohrenbetäubendem Lärm explodieren Hand- und Gewehrgranaten im Innern der Scheune. Leichen werden völlig zerfetzt. (…) Lebende verstecken sich unter den Toten.“ (S. 292)

„Muslime jagen“: Nach dem Hinterhalt von „Kamenica hatten Serben in kleinen Gruppen angefangen, in der Todeszone der Landstraßen „Muslime zu jagen“. Schwer bewaffnete Serben durchstreiften die Wälder, legten Minen, versteckten Sprengladungen und schossen aus dem Hinterhalt auf muslimische Soldaten und Zivilisten.“ (S. 293)

Nova Kasaba: „In der Umgebung patrouillieren Hunderte von Serben, teils mit Hunden, um Muslime aufzuspüren. Viele von ihnen gehören zu den Drinawölfen. (…) Im Laufe des Abends sind vom Fußballplatz und aus den Wäldern im Norden Gewehrschüsse zu hören.  (…) Gegen 2.30 Uhr werden vom Fußballplatz einzelne Schüsse. nicht von einem Feuergefecht – gehört. Da geht anderthalb Stunden so.“  (S. 307)

14.07.

Turnhalle in Grbavci: Ein Konvoi mit sechs Bussen, darunter einer mit alten und invaliden Männern, wartet auf halbem Weg zwischen Bratunac und Zvornik im neuerdings bosnisch-serbischen Gebiet. In Kalesija soll ein Gefangenenaustausch stattfinden. Die Busse fahren durch Zvornik, wo früher zu 59% Muslime lebten und inzwischen alle Moscheen gesprengt worden sind. Statt nach Kalesija fahren die Busse in das Dorf Grbavci. Die 296 Gefangenen kommen in eine heruntergekommene Turnhalle. Weitere Konvois lassen die Zahl der Gefangenen in der Turnhalle auf 1.000 bis 1.500 steigen. „Ein Drittel der Männer sitzt anderen auf dem Schoß. Man befiehlt den Muslimen, ihre Hüte, Hemden und Jacketts am Eingang auszuziehen. Vor der Turnhalle liegt ein großer Kleiderhaufen, den die Serben nach Wertsachen durchsuchen.“  Drinnen ist es unerträglich heiß. Gefangene werden ohnmächtig. In Abständen werden jeweils 15-20 Gefangene in einen Nebenraum geführt. Ihnen werden die Augen verbunden. Sie erhalten einen Schluck Wasser und werden durch eine Seitentür hinausgeschoben und dann auf die Ladefläche eines kleinen Lasters geführt. Nach etwa  dreiminütiger Fahrt zerren serbische Soldaten die desorientierten Gefangenen aus dem Fahrzeug, Der 25-jährige bosnisch-muslimische Soldat Mevludin Oric aus Sarajevo, einer der sieben Hauptzeugen von David Rohde, überlebt zufällig die Exekution und erinnert sich. (S. 318 ff., S. 330 ff.)

Fünf Stunden später werden auch den letzten 20 alten Männern die Augen verbunden. Ein kleiner Laster bringt sie in den Wald. „Hurem Suljic starrt fassungslos hinaus. Hunderte tote Muslime liegen in Reihen am Boden. Neben den Leichen stehen fünf Soldaten. Ein Bulldozer hebt ein Massengrab aus. (…) Einer aus dem Exekutionskommando weist mit dem Fuß an die Stelle, wo die 20 Großväter und Invaliden sich hinstellen sollen. Es ist eine Stelle am Ende einer Reihe mit Leichen. „Umdrehen!“ brüllt der Serbe. „Nicht umgucken!“ Als Suljic an seinen Platz neben seinem Schwager und seinen Freund humpelt, spürt er lediglich Resignation. Keine Erinnerungen, keine Abschiedsgefühle erfüllen ihn. Sein Kopf ist leer.“ (S. 323) Dann die Schüsse. (…) Sujic spürt keinen Schmerz. Die Serben haben das Feuer eingestellt. Ein Mann, der auf seine Beine gefallen ist, ist nur verwundet. (…) Suljic schlägt die Augen auf. Rechts von ihm liegen keine Leichen. 50 Meter weiter sieht er fünf Soldaten des Exekutionskommandos ihre Gewehre nachladen. In Reihe stapeln sich dort verrenkte Leichen.“ Der Lastwagen kommt alle 10-15 Minuten wieder, „und das Exekutionskommando arbeitet zügig. Sobald die Gefangenen vom Lastwagen weggetreten sind, beginnt die Erschießung. Die meisten Verwundeten werden ebenso zügig getötet. Manche treiben Spott mit den Verwundeten, bevor sie sie erschießen. „Wenn du dich nicht wohl fühlst, kann ich deine Wunde verbinden“ Jeder, der auf das Drängen des Serben etwas sagt oder stöhnt, wird sofort erschossen.“ (Sujic liegt unter Leichen und kann nach Ende der Erschießungen fliehen; S. 325 ff., S. 330 ff.)

UN-Basis Potocari: „Aus Angst davor, dass die Serben die Niederländer nicht abziehen lassen könnten, ließen sich die UN auf Mladic`s Forderung ein, die Serben für den Treibstoff zu entschädigen, den sie für die „Evakuierung“ der Muslime aus Srebrenica gebraucht hatten. Sie bekommen den Treibstoff unentgeltlich. Letzten Endes stellen die Vereinten Nationen den Diesel für die Vertreibung von 40.000 Menschen zur Verfügung, die sie zu schützen versprochen hatten.“ (S. 320)

Schule von Dulic/Roter Damm: Mehrere Hundert muslimische Gefangene aus Bratunac werden in die bereits überfüllten Klassenzimmer der Schule von Dulic gezwängt. Die meisten Männer wurden beim Hinterhalt von Kamenica und beim Versuch, die Landstraße zu überqueren, gefangengenommen. Viele von ihnen waren auf dem Fußballplatz von Nova Kasaba gewesen. Gegen 20.00 Uhr werden zwei Dutzend Gefangene in ein kleines Klassenzimmer geführt, wo sie die Hemden ausziehen müssen, gefesselt und auf einen Kleinlaster geschafft werden. Weitere Gefangene werden auf weitere Laster gebracht. Die Lastwagen halten auf einem Kiesplatz hinter einem großen Erdwall („Roter Damm“). „Dort wartet ein halbes Dutzend serbischer Soldaten. Sie zwingen die Muslime, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde zu legen. , und erschießen sie. Ununterbrochen kommen Lastwagen. Die Exekutionen dauern sechs Stunden.“ (S. 324)

  1. Juli

Bauernhof in Pilica bei Zvornik: Der Hof liegt auf einem malerischen Hochplateau. In allen Richtungen sieht man Hügel mit Kornfeldern und vereinzelt andere Bauernhöfe mit roten Ziegeldächern. Ein Arsenal an Waffen und Munition ist vor Ort. Nach 9.30 Uhr trifft der erste Bus ein. Zehn muslimischen Männern, vom Jugendlichen bis zum 70-Jährigen, werden die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Eine achtköpfige Gruppe der bosnisch-serbischen Armee mit Feldwebel Drazen Erdemovic soll die Exekution durchführen. Der Feldwebel protestiert, er wolle nicht mitmachen. Der Gruppenführer: „Wenn sie Ihnen leid tun, können Sie sich ja dazu stellen.“ Der 23-jährige Feldwebel und seine Gruppe schießen. Die nächsten zehn Männer, die nächsten … Bevor die letzte Gruppe exekutiert wird steigt der Gruppenführer in den Bus und reicht dem Fahrer eine Kalaschnikow, Er wollte kein Gerede riskieren. Jeder sollte Mitschuld tragen. (S. 335 f.)

Inzwischen werden den ankommenden Gefangenen nicht mehr die Augen verbunden und die Hände gefesselt. „Bis sie an die Reihe kamen, saßen sie im Bus und mussten die Schüsse mitanhören. Manche mussten 20 Minuten gegen ihre Angst kämpfen. Jeder sah dem Tod auf seine Weise entgegen. Manche bettelten, sie zu verschonen (…). Andere versprachen Geld. Einige wenige brachten den Mut auf, ihre Henker zu verfluchen. Andere fielen auf die Knie und beteten.“ (S. 337) Gegen 15.30 Uhr treffen zehn serbische Soldaten ein. „Mit sadistischem Eifer machen sich die Serben aus Bratunac an die Arbeit. Sie zerren die Muslime aus dem Bus und schlagen mit Eisenstangen auf alle, auch auf solche Opfer, die sie persönlich kennen. Dann zwingen sie die Gefangenen, sich auf den Boden zu knien und in der traditionellen muslimischen Haltung zu beten. Als sie die Köpfe senkten, eröffneten die Serben das Feuer.“ Erdemovic schätzt, dass seine Gruppe an diesem Tag 1.000 bis 1.500 Menschen hingerichtet hat. (S. 339)

Auf der Rückfahrt von Erdemovic`s Gruppe „fingen die anderen an zu trinken. Stanko Savanovic prahlte, wie viele Muslime er erschossen hatte. Sein 17-jähriger Bruder, sagte er, war 1993 im Kampf gegen die Muslime gefallen, aber er hatte ihn gerächt und heute 250 Muslime getötet. Erdemovic hatte etwa siebzig Menschen getötet. Schweigend saß der 23-Jährige dabei, als die anderen seiner Gruppe anfingen zu singen.“ /S. 342)

Freilassung der 55 niederländischen Geiseln: Die bosnischen Serben hatten sie gefangen genommen – bei Einnahme von BP, bei Umstellung von MTW. Als Geiseln erging es ihnen besser als vorher als Blauhelmsoldat. Bei der Rückfahrt waren ihnen etliche Spuren von Massenerschießungen begegnet. Sie berichteten „hohen niederländischen Offizieren und UN-Ermittlern, was sie gesehen hatten – aber auf ihre Zeugenaussagen erfolgte keine öffentliche Erklärung.“ (S. 339)

Zeitzeugenberichte,  Dokumente,Videos

Srebrenica Genocide Memorial Center & Cemetry, https://www.srebrenicamemorial.org/en , 25 years later Srebrenica genocide, Video 1:02 M., https://www.youtube.com/watch?v=blsw0o4N01g

Srebrenica Web Genocide Museum, Virtual Tour, Aljazeera Balkans, http://www.srebrenica360.com/

Plattform „Devedesete.net“ (Neunziger): „Learning history that is not yet history“, Unterrichtsmaterialien zu den kriegerischen 1990er Jahren in Ex-Jugoslawien:, erstellt von Historiker*innen und Geschichtslehrer*innen aus Bosnien, http://www.devedesete.net/

„Srebrenica Genocide in eight acts“ Timeline vor 11.07., 11.-16.07., nach 16.07. mit vielen Dokumenten, Fotos, Videos, http://srebrenica.sensecentar.org/en/

Weitere Textsammlungen von W. Nachtwei („Die letzten Tage …“ unter III)

– Srebrenica vor 25 Jahren (I): Es war Völkermord in Europa – und die Regierungen und Gesellschaften (wir damals) ließen es geschehen. Übersichtsartikel, Dossiers, Chronologie,  04./08.07.2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1644

– Srebrenica vor 25 Jahren (II): Verweigerte Schutzverantwortung – Anstoß zur Schutzverantwortung. Beiträge aus dem Bosnien-Streit der Grünen 1995 ff. – Erfahrungen + Lehren,  04./08.07.2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1645

– Medienberichte zum 25. Jahrestag des Srebrenica-Genozid Juli 2020 (IV) + Report des UN-Generalsekretärs „The fall of Srebrenica“ (1999), http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1648

 

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