Zu „Wenn Russland siegt“ – das Narwa-Szenario von Carlo Masala, Zusammenfassung, Kommentar, Lehren von W. Nachtwei

Ob und wieweit das neoimperiale Russland das demokratische Europa bedroht, wird in der deutschen Gesellschaft unterschiedlich gesehen. Sehr erhellend ist da das von Carlo Masala entwickelte Szenario.

Zu „Wenn Russland siegt“ – das Narwa-Szenario von Carlo Masala, Winfried Nachtwei, 17.07.2025

Narwa: 57.000 Einwohner, 88% russischsprachig, Grenzstadt zu RUS, 338 km estn.-russ. Grenze (überwiegend durch Narwa-Fluss und Peipussee)

Vorspiel: – UKR muss 2025 in Genf Kapitulationsfrieden unterschreiben, nachdem der US-Präsident die US-Unterstützung aufkündigt und die EU-Staaten aus innenpolitischen Interessen nicht ausreichend liefern; Aufwind für rechts- und linkspopulistische Parteien; „Tauwetter“ in Moskau, Technokrat löst Putin ab, Reformer-Image; viele im Westen wollen neuen Kalten Krieg mit ungeheurem Ressourceneinsatz vermeiden.

– UKR nach Genf Land im Chaos: massive Fluchtbewegungen, brutale Russifizierungs-Politik, Nachrichten darüber finden in internat. Öffentlichkeit wenig Beachtung; Erleichterung über Ende des Großen Krieges und Sehnsucht nach guten Perspektiven überwiegen. Staat UKR bankrott, alte Konfliktlinien brechen auf, desolate wirtschaftliche Lage, massive Desinformationskampagne, bei Parlamentswahl Mehrheit für pro-russ. Kräfte.

– In europ. Hauptstädten rückläufige Einsicht in die Notwendigkeit, RUS abzuschrecken; Defizite der Verteidigungs- und Aufwuchsfähigkeit bleiben bestehen; russische Rüstungspro-duktion auf Hochtouren.

Angriff auf Narwa, 27. März 2028: (a) Zwei russ. Brigaden dringen frühmorgens von N + O in die Stadt ein, unterstützt von Teilen der lokalen Bevölkerung, an die in Monaten vorher Schusswaffen ausgegeben wurden. Vorher seit Wochen Demonstrationen gegen angebliche sprachliche Diskriminierung der Russischsprachigen.

(b) Einige Tage vorher als Touristen getarnte russ. Soldaten auf Fähren auf EST vorgelagerte Insel Hiiumaa, unterstützt von zwei russ. amphibischen Kriegsschiffen mit 400 Marineinfan-teristen, Besetzung von Kardla (damit Option einer Seeblockade). 2.300 NATO-Soldaten 145 km entfernt, nicht so schnell reaktionsfähig.

Russ. flankierende und Ablenkungsoperationen:

– Russ. Divisionsübung im Süden der estn.-russ. Grenze.

– Von russischen Söldnern + Verbündeten aktiv betriebene Flüchtlingswelle aus Nordafrika auf`s Mittelmeer, auch über Belarus.

– Verschärfte Spannungen zwischen Philippinen und China, begleitet von aggressive Social-Media-Kampagne; PHI fordern US-Unterstützung.

– Abschuss des Firmenjets des Chefs eines dt. Rüstungskonzerns durch Stinger-Rakete; Explosionen auf brit. Marinebasis, wo nuklear betriebene U-Boote.

– Russ. Kommunikationsstrategie über inoffiziele + offizielle Kanäle („begrenzte Operation,  keine weiteren Ambitionen“; „wir wollen den Konflikt nicht, scheuen ihn aber auch nicht“).

– Landung eines atomgetriebenen russ. U-Boots mit 16 ICBM an der unbewohnten Hans-Insel zwischen Grönland und Kanada, wo drei Kampfschwimmer russ. Flagge hissen, Wodka und Kaviar niederlegen. Botschaft: „Unbemerkt kommen wir überall hin“.

Reaktionen der NATO-Mitglieder + Ergebnisse

– US-Präsident will wg. estn. Kleinstadt keinen Dritten Weltkrieg riskieren; EST will Ausrufung des Bündnisfalles, POL dito., Süd-Mitglieder votieren für Vorsicht; militärische Optionen der NATO + ihre Eskalationsrisiken; NATO-Rat: Veto der USA gegen Art. 5, unterstützt von Südländern, UNG, FRA; KEINE Einstimmigkeit  à Bruch des Bündnis-versprechens, des Rückgrats der NATO, Verlust der Abschreckungsfähigkeit

29. März Russ. Präsident: „Russland kehrt zu alter Stärke zurück“, „Vereinigung von RUS + Belarus in zwei Jahren.

Mein Kommentar zu

Carlo Masala, Wenn Russland siegt – Ein Szenario, München 2025, 116 S. (ausführliche Besprechungen u.a. in der FAZ, 25.03.2015, von Oliver Kühn, Was wäre, wenn Russland gewinnt? https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/folgen-des-ukrainekriegs-was-wenn-russland-gewinnt-110376914.html , in der taz von Ulrich Gutmair, 12.07.2025, „Da knallen die Sektkorken im Propagandastab des Kreml – In „Wenn Russland gewinnt“ zeigt Carlo Masala plausibel, wie schnell Russland ans Ziel kommen könnte und welche Rolle Links- und Rechtspopulisten dabei spielen. Die Wirklichkeit schreibt Tag um Tag sein Szenario weiter“, https://taz.de/Buch-ueber-Putins-imperiale-Strategie/!6097078/  )

(1) Der gewählte Szenario-Ansatz orientiert sich an realen Gegebenheiten, Trends, Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und beschreibt mögliche Entwicklungen, was unter bestimmten Bedingungen passieren könnte – nicht, was passieren wird oder unvermeidbar ist.

Ein solcher Ansatz ist ausgesprochen sinnvoll für eine Friedens – und Sicherheitspolitik, die verbreitetes reaktives „Auf-Sicht-Fahren“ in Richtung Weitsicht, Krisenfrüherkennung, Vorausschau und Krisenprävention öffnet, mögliche Folgen von Entscheidungen sichtbar macht und gravierende Überraschungen reduzieren kann. In den zurückliegenden Jahren offenbarten etliche Sicherheits-„Überraschungen“ (die Machtergreifung der Taliban, die Corona-Epidemie, die russische Großinvasion in der Ukraine, die Nichtverteidigungsfähigkeit des demokratischen Europas, der Bruch des Westens) eine verbreitete Neigung zur Verdrängung von Worst-Case-Szenarien, die nicht ins eigene Weltbild passten. Vor diesem Hintergrund ist diese Art von Worst-Case-Szenario ausgesprochen überfällig.

(2) Das Szenario unterscheidet sich grundlegend z.B. von dem Ansatz des „Positiv-Szenario 2025-2040“ (Januar 2025) der Initiative „Sicherheit neu denken“, die von der Evangelischen Landeskirche in Baden angestoßen wurde und inzwischen von über 50 Friedensorganisation unterstützt wird. Das Positiv-Szenario gesteht wohl eine von Russland ausgehende (militärische) Bedrohung zu, konstatiert insgesamt aber „überzogene Bedrohungsszenarien“ (NATO militärisch „weitaus überlegen“, russische Bedrohung der baltischen Staaten, Polens, anderer NATO-Staaten nicht belegbar) und „lehnt oft angebotene Horrorszenarien dankend ab“. Ausgehend von einer Leugnung der umfassenden Bedrohung des demokratischen Europas formuliert das Szenario umfassendes Friedenswunschdenken.    https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/410614/positiv-szenario-europas-rolle-fuer-den-frieden-in-der-welt-01.01.2025.pdf

(3) In allen Phasen bewegt sich das Narwa-Szenario sehr dicht an den heutigen Realitäten und beschreibt Entwicklungsmöglichkeiten von keineswegs geringer Eintrittswahrscheinlichkeit:

– Eine de facto Kapitulation der Ukraine „dank“ Wegfall der US-Unterstützung und unzureichender Unterstützung der europäischen NATO-Mitglieder.

– Eine mit der Erleichterung über das Ende des opferreichen Krieges abnehmende Bedrohungswahrnehmung und schrumpfende Wehr- und Abschreckungsbereitschaft in den meisten europäischen NATO-Ländern, Ausblendung der andauernden russ. Hochrüstung, Zunahme von Friedenswunschdenken, befördert auch durch russische Desinformations-kampagnen und rechts- und linkspopulistische Verbündete.

– Operationen hybrider Kriegsführung zur Ablenkung und Kräftebindung (Sabotage und Anschläge, Cyberangriffe, Schüren von Flüchtlingswellen, Informationskrieg), verbunden mit

– Die „lokal begrenzte“ russische Blitzintervention, die die schwachen NATO-Verteidigungs-kräfte vor Ort ausmanövriert und der NATO die Falle einer strategischen Konfrontation, eines potenziellen Dritten Weltkrieges eröffnet.

– Die Interessengräben zwischen mittel-/osteuropäischen und südeuropäischen NATO-Ländern und erst recht der früheren NATO-Führungsmacht USA blockieren die Ausrufung des Bündnisfalles. Das Beistandsversprechen der NATO wird somit aufgekündigt – und damit auch ihre glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit. Die 1939 in Westeuropa verbreitete Parole „Warum für Danzig sterben?“ (Titel eines Leitartikels des Neosozialisten und Pazifisten Marcel Déat in LÒEvrue) wiederholt sich damit gegenüber Estland.

(4) Fazit: Mit einer begrenzten, auf Schwachpunkte der Allianz zielenden (Test-)Operation erreicht RUS eine faktische Zerstörung des kollektiven Sicherheitsarchitektur des demokratischen Europas und damit seine fundamentale strategische Schwächung und Spaltung. Dieses Szenario ist das am ehesten mögliche und wahrscheinliche – und nicht das alarmistische eines Großangriffs auf NATO-Gebiet insgesamt.

(5) Der 2023 erschienene ThrillerAbaddon – Der Schritt zum Abgrund“ von Hans-Ulrich Jörges (Ex stern) und Axel Vornbäumen (Ex FR) entwickelte aus der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump ab 2025 ein extremes Worst-Case-Szenario (Geheimpakt zwischen Putin + Trump zur Aufteilung von Einflusszonen, US-Abzug aus Europa, freie Hand für Putin, das demokratische Europa mit dosierter knallharter Brutalität zu brechen und zu unterwerfen…) und wirkt dadurch so spannend wie deprimierend. Demgegenüber lassen sich in den verschiedenen Phasen des Masala-/Narwa-Szenarios Handlungsoptionen und Lehren erkennen, wie der Eskalation der Wehrlosigkeit begegnet werden könnte bzw. müsste.

Vorrangige Lehren und Schlussfolgerungen

(1) Bedrohungswahrnehmung, -erfahrungen und -kommunikation

Die erste Lehre ist eine rücksichtslos nüchterne Realitäts- und Bedrohungswahrnehmung ohne Verdrängungen und Wunschdenken einerseits, ohne Überdramatisierung und Alarmismus andererseits. Bedrohungswahrnehmungen werden geprägt von kollektiven historischen Erfahrungen, vom gesellschaftlichen Verständnis wesentlicher verteidigungswürdiger Werte, von der aktuell wahrgenommenen Lage – und auch von unterschiedlichen Menschen- und Weltbildern.

Auf dem Gogol-Boulevard im Zentrum Moskaus „informiert“ zurzeit die vor 13 Jahren per Präsidentenerlass gegründete Russische Militärhistorische Gesellschaft auf 16 Ausstellungs-tafeln über die „baltischen Schmarotzer“ und „Quellen und Sinn des baltischen Neonazismus“. Solche Art Diffamierung der Staaten des Baltikums ist kein Ausreißer. (vgl. „Erst die Ukraine, dann das Baltikum“, taz 7.7.2025, https://taz.de/Wie-Russland-auf-Osteuropa-blickt/!6095816/ )

(2) Bei osteuropäischen Ländern sind die Erfahrungen mit Angriffskriegen und mit jahrzehntelangen Okkupationen regelrecht eingebrannt. Hier wie in Skandinavien begnügt man sich nicht mit dem „Nie wieder Krieg!“, sondern buchstabiert es weiter mit „Nie wieder wehrlos, nie mehr allein!“ Nationale Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gelten als zentrale verteidigungswürdige Werte. Vor diesem Hintergrund sind in Ost- und Nordosteuropa gesellschaftliche Wehrhaftigkeit und -bereitschaft überwiegend Allgemeingut.

(Vgl. zu Estland Reportagen in der FAZ 3.2.2025, „Kirche im Blutland – Den Esten steckt die alte Angst noch in den Knochen“; in der taz „Jung, patriotisch und gegen Putin“, 30.6.2023,  https://taz.de/Paramilitaerische-Organisation-in-Estland/!5942864/ ; „Die Naiskodukaitse will gerüstet sein. In Estland bereiten sich Frauen auf eine mögliche Invasion Russlands vor – auch deshalb, weil sie aus der Geschichte ihres Landes gelernt haben“, 15.3.2025, https://taz.de/Paramilitaerische-Organisation-fuer-Frauen/!6072573/ ; zur Okkupationsgeschichte Estland https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Estlands?oldformat=true  )

In Deutschland gilt das nur für eine Minderheit. Das „Nie wieder“ bleibt überwiegend beim berechtigten “Nie wieder Krieg“ stehen, oft begleitet von der Neigung zum „Raushalten“, weniger von der Schlussfolgerung „Nie mehr wehrlos, nie mehr allein“.

„Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedsstaaten von EU und NATO fehlt den Deutschen eine entscheidende Erfahrung mit Krieg: Sie haben noch nie als Demokratie ihr Land gegen eine fremde Macht militärisch verteidigen müssen“ (Thomas Speckmann, Die Angst vor sich selbst, ZEIT 08.12.2022) Mit anderen Worten: In Deutschland, dem Land mit einer besonders entwickelten Erinnerungskultur, wird ein wesentlich Teil der kollektiven Erinnerung unserer europäischen Nachbarn schlichtweg ausgeblendet.

(3) Die reale, durch den doppelten Epochenbruch eskalierte Bedrohungslage ist in der Breite der deutschen Bevölkerung noch längst nicht angekommen. Dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Etappe in der Rückgewinnung des großrussischen Imperiums ist und mit einem umfassenden Cyber- und Informationskrieg schon heute auf das demokratische Europa zielt, ist relativ wenig präsent.

Vor diesem Hintergrund wird eine nüchterne und glaubwürdige Bedrohungskommunikation zum Dreh- und Angelpunkt einer wehrhaften Friedens- und Sicherheitspolitik, zusammen mit einer Verständigung über die maßgeblichen verteidigungswürdigen Werte (Grundprinzipien der VN-Charta, nationale Unabhängigkeit und europäischer Zusammenhalt, Rechts-staatlichkeit, Menschenrechte, gesellschaftliche Vielfalt, freiheitliche Lebensweise). Mit der Ausrede, man wolle die Bevölkerung nicht beunruhigen, wird allzu oft die notwendige Bedrohungskommunikation unterlassen, z.B. auf dem Feld des alltäglichen realen Informationskrieges. Dass dieser darauf zielt, Verunsicherung zu verbreiten, Grundvertrauen und Zusammenhalt zu zerstören, zu destabilisieren und den politischen Willen im angegriffenen Land zu schwächen, gar zu brechen, ist noch viel zu wenig bewusst.

(4) Carlo Masala weist zurecht auf den zentralen Stellenwert nuklearer Drohungen durch Russland hin. (S. 102 ff.) Erstmalig in der Geschichte setzt ein Aggressor dem internationalen Beistand für Überfallene erhebliche Grenzen, indem er für den Fall einer konsequenteren Militärhilfe, gar eines direkten militärischen Eingreifens den Einsatz von Atomwaffen androht. Jürgen Osterhammel spricht hier von „nuklearem Imperialismus“. (Versuch, Putins Endspiel zu verstehen, FAZ 19.06.2024) Es wäre grob fahrlässig, solche Drohungen zu ignorieren und wegzuwischen. Zu prüfen ist immer, wieweit sie Bluff oder ernst zu nehmen sind. In Deutschland und anderen NATO-Ländern gibt es aber zahlreiche Kräfte, die solche Drohungen aufnehmen, sie in einer Gesellschaft mit berechtigten Eskalations- und Atomkriegsängsten verbreiten, verstärken – und damit im Sinne des nuklearen Erpressers wirken und Kapitulationsbereitschaft fördern. Masala spricht hier von einer bunt zusammengesetzten Gruppe von „Angstunternehmern“, die „berechtigte Angst der Bevölkerungen und von Teilen der politischen Elite vor einer umfassenden Eskalation zu ihrem Geschäftsmodell gemacht“ habe.

(5) Durchhaltefähigkeit: Nach über 40 Monaten des russischen Angriffs- und Terrorkrieges gegen die Ukraine und ihre Zivilbevölkerung ist die Durchhaltefähigkeit der angegriffenen Ukraine trotz aller Verluste und Erschöpfung unglaublich, ist zugleich die gesellschaftliche und politische Ermattung bei den Unterstützern der Ukraine unübersehbar. Diktaturen sind da strukturell im Vorteil: Sie brauchen nicht Rücksicht nehmen auf Stimmungen in der Bevölkerung, die gleichgeschaltet werden kann, nicht auf eigene Verluste, die von Moskau entfernten Teilen der Bevölkerung zugemutet und geheim gehalten werden können.

In demokratischen Gesellschaften hingegen wachsen in Teilen der Bevölkerung Zweifel an der Ukraineunterstützung mit zunehmender Dauer des Krieges, ausbleibenden Durchbrüchen und steigenden Opferzahlen und Kosten, gezielt geschürt durch Desinformationskampagnen aus Russland und von ihren rechts- und linkspopulistischen Verbündeten. Eine Außen- und Sicherheitspolitik, die der Friedenssicherung im Rahmen der VN-Charta verpflichtet ist, muss hier besonders überzeugende Führungskraft beweisen.

(6) Friedenssicherung durch glaubwürdige Abschreckung, Gesamtverteidigung, Resilienz: Die von Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) betriebene Entspannungspolitik und die internationale Rüstungskontrolle (Atomwaffensperrvertrag 1968 etc.) entwickelten sich vor dem Hintergrund erheblicher Verteidigungsausgaben. Ihr Anteil am BIP der BRD stieg unter Brandt von 3% in 1970 auf 3,25% in 1974.

In der Friedensbewegung der 1980er Jahre galten Abschreckung und atomares Wettrüsten als zwei Seiten derselben Medaille, als gigantische Friedensbedrohung. Wie sich später herausstellte schrammte die Welt mehrfach knapp an einem Atomkrieg aus Versehe vorbei. Abschreckung war damit als sicherheits-, gar friedenspolitische Kategorie über Jahrzehnte in friedensbewegten wie grünen Kreisen „verbrannt“. Nach der deutschen Einigung und der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes sanken die deutsche Verteidigungs-ausgaben von 2,52% in 1989 auf 1,12% in 2015 – ein Jahr nach der Annexion der Krim.

Der Schock der russ. Vollinvasion in 2022 machte eine Einsicht unübersehbar: Der russische Angriffskrieg wurde möglich, weil die Ukraine als kaum verteidigungsfähig galt und weil der Westen, der gerade in Afghanistan strategisch gescheitert war, als schwach wahrgenommen wurde. In einer sicherheitspolitischen Kehrtwende „aus der Hüfte“ bekamen militärischer Beistand zur ukrainischen Selbstverteidigung, also Lieferung von Kriegswaffen in ein Kriegsgebiet, Wiederherstellung der Fähigkeit zur nationalen und Bündnisverteidigung zwecks glaubwürdiger Abschreckung für deutsche Politik erste Priorität. Friedenstüchtigkeit und wirksame Diplomatie sind heute für die europäischen Demokratien ohne kollektive Verteidigungsfähigkeit und glaubwürdige Abschreckung nicht zu haben. Schweden und Finnland haben mit ihren NATO-Beitritten daraus schnell ihre Konsequenzen gezogen. Alles andere wäre eine Ermutigung und Einladung an Putin, seine Aggression gegenüber der Ukraine zu vollstrecken und darüber hinaus auszuweiten. Östliche Partner sind sich vor dem Hintergrund ihrer historischen und aktuellen Erfahrungen – sehr nachvollziehbar – sicher, dass sie nach einem russischen Sieg über die Ukraine die nächsten wären. (vgl. die ständigen Provokationen, Sabotageakte und Angriffe im Cyber- und Informationsraum gegen Estland: https://www.welt.de/politik/ausland/article255040072/Estland-Wenn-die-Invasion-erst-einmal-laeuft-ist-es-schon-zu-spaet.html )

Friedenssicherung auch durch glaubwürdige Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit ist die Kernaufgabe der Bundeswehr im Bündnisverbund. Angesichts der Umstellung der meisten europäischen Streitkräfte seit den 1990er Jahren auf Kriseneinsätze ist der Nachholbedarf an Fähigkeiten und Kapazitäten zur Landes- und Bündnisverteidigung enorm. Als wirtschaftlich stärkstes und militärisch vielfältig mit seinen Nachbarn verflochtenes Land in der Mitte Europas hat Deutschland die Schlüsselrolle für die Friedenssicherung in Europa, sichtbar in der Rolle, „Drehscheibe“ zu sein für verbündete Verstärkungskräfte für die NATO-Ostflanke im Spannungsfall.

Eine Illusion ist die nicht wenig verbreitete Erwartung, das sei die Zuständigkeit nur von Bundeswehr und verbündeten Streitkräften und allein von diesen zu bewältigen. Diese könnten noch so gut ausgestattet, ausgebildet und geführt sein. Eine nur militärische Verteidigungsfähigkeit würde scheitern.

Erstens, weil die Masse der heutigen hybriden Kampagnen und Angriffe gegen die Wirtschaft, staatliche Institutionen, kritische Infrastruktur, öffentliche Einrichtungen, auf den politischen Diskurs zielen und schon heute immense Kosten verursachen. Hier ist eine viel umfangreichere Zivile Verteidigung als die zzt. des Kalten Krieges gefragt.

Zweitens, weil militärische Verteidigungsfähigkeit – als Voraussetzung von glaubwürdiger Abschreckung – nur funktionieren kann, wenn sie gesamtstaatlich als Gesamtverteidigung mit der zweiten Säule der Zivilen Verteidigung und gesamtgesellschaftlich organisiert ist und mit gesellschaftlicher Resilienz / Widerstandskraft einhergeht. Viele der über 30 Aufgaben der (traditionellen) Zivilverteidigung betreffen die Bürgerinnen und Bürger direkt (vom Selbstschutz bis zur Arbeitssicherstellung) und erfordern ihre Akzeptanz und Mitwirkung. Ihre Strukturen wurden in den 1990er Jahren weitestgehend abgebaut und gelten zzt. noch als Torso. Bei einer künftigen Zivilverteidigung werden die Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Mitwirkung, aber auch für Störungen erheblich andere sein als im vordigitalen Zeitalter, als Gesamtverteidigungsübungen wie Wintex-Cimex im Geheimen abliefen.

Die notwendige Resilienz einer zunehmenden auseinander driftendende Gesellschaft ist wohl die größte Herausforderung. Sie erfordert ein erhebliches Umdenken und friedens- und sicherheitspolitische Konsensbildung.

Hier könnten und sollten wir in Deutschland viel mehr von unseren mittel-/osteuropäischen und skandinavischen Partnern lernen.

(7) Chancenwahrnehmung und konstruktive Konfliktbearbeitung: Bei aller Notwendigkeit, sich im Rahmen der staatlichen Grundaufgabe der Gefahrenabwehr auf mögliche, ja von aggressiven Mächten angestrebte Worst-Case-Szenarien einzustellen, wäre es falsch, sich ausschließlich auf Worst-Case-Szenarien und antagonistische Konflikte zu fokussieren und darüber ggfs. in Abwärtsspiralen einer Fixierung nur auf destruktive Faktoren zu geraten.

Systematisch müssen auch Politikfelder, Konflikte, Trends, Akteure, Prozesse und Ansätze gesucht, analysiert und angegangen werden, die reale Chancenpotenziale für Verständigung, Interessenausgleich, gemeinsame und konstruktive Konfliktbearbeitung und -lösung beinhalten. Chancenanalysen sind notwendig, weil sie den medialen Bad-News-Mechanismus durchbrechen, zur Realität gehören, alternative Optionen eröffnen und Gründe zur Hoffnung sichtbar machen können. Könnte ein ergänzendes sicherheitspolitisches Szenario Sinn machen, das an realen Chancen ansetzt und mögliche Positiventwicklungen beschreibt, ohne dabei in friedenspolitisches Wunschdenken zu verfallen?

(Im Umfeld des Konsultationsprozesses zu den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ der Bundesregierung machte ich Anfang 2017 dazu einen Aufschlag mit dem Beitrag  „(Ziviles) Krisenengagement und Friedensförderung in stürmischen Zeiten: Veränderte Rahmenbedingungen, 17 Krisentrends und 17 Positivtrends,  http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=1&catid=_77&aid=1455 )

Kommentar auf Linkedin von Dr. Moritz Brake •  18.07.2025 – Working on Something New – Maritime Sicherheit & Strategie | Dual-Use & Defense | PhD, Department of War Studies, King’s College London |

Vielen Dank, Winfried „Winni“ Nachtwei, für die Einschätzung!
Es ist allerdings m.E. alles andere als ausgemacht, dass Russland mit einem solchen Angriff “gewinnt”.
Estland wäre kein leichtes Ziel für Russland. Die Menschen würden zäh für ihr Land kämpfen – und der Rest von Europa mit hoher Wahrscheinlichkeit auch.
Es gäbe kein schnelles Ende eines russischen Angriffs – und damit einen kaum vermeidbaren Druck auch auf die größten Zögerer, dem Verbündeten beizustehen.
Ich bin regelmäßig in Estland und bin überzeugt von der Kraft und dem Freiheits- und Durchhaltewillen der Esten.
In diesen Zeiten wäre es für die glaubwürdige Abschreckung Russlands umso wichtiger, auch die kulturellen Bande innerhalb Europas noch stärker zu knüpfen, damit keiner von Außen auf die Idee kommt, ein solcher Angriff auf Estland ließe Deutschland oder die anderen Europäer kalt.

(Vgl. FAZ 07.07.2025 zum diesjährigen 28. Liederfestival der 100.000, davon 30.000 Sängerinnen und Sänger „Wir singen, also sind wir – In der „Singenden Revolution“ lösten sich die Esten einst gewaltfrei von der Sowjetunion. Auch neuen Bedrohungen trotzen sie mit gemeinsamen Liedern.“)

 

 

 

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