Die scharfe Seite deutscher Auslandseinsätze: Auszüge aus dem Bericht der Kommission zum Einsatz des G36-Gewehres in Gefechtssituationen vor 10 Jahren

Gründonnerstag 2015 Anruf von Ministerin von der Leyen bei mir: Vorsitz der G36-Untersuchungskommission? Als parlamentarischer MItverantwortlicher für die Einsätze sagte ich zu. Hier Auszüge aus dem Bericht, der genaueres Hinsehen ermöglicht, wo Pauschalbilder vorherrschen.

Die scharfe Seite deutscher Auslandseinsätze: Auszüge aus dem Bericht der Kommission zum Einsatz des G36-Gewehres in Gefechtssituationen vom Oktober 2015 (Okt. 2025)

Vorbemerkung: Am 2. April 2015 erhielt ich einen überraschenden Anruf von Verteidigungsministerin von der Leyen, ob ich den Vorsitz einer geplanten G36-Kommission übernehmen könne. Seit Jahren gab es erhebliche Querelen um die angebliche Ungenauigkeit des Standard-Sturmgewehrs G36 der Bundeswehr.

Ich bin kein Waffenexperte, stimmte aber der Anfrage zu. Bis 2009 war ich an 70 Mandatsentscheidungen zu Auslandseinsätzen beteiligt (davon 20 zu Afghanistan) und stand damit in Mitverantwortung. Jetzt ergab sich die Möglichkeit, als erster parlamentarischer Mitauftraggeber uneingeschränkt Einblick zu bekommen in die scharfer Seite der Einsätze und ihre menschlichen Folgen.Damit hatte die Kommissionsarbeit für mich auch die Dimension einer parlamentarischen Selbstprüfung.

Die Kommission bestand aus dem ehemaligen Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus und mir als Vorsitzendem. Beigestellt waren uns als Experten für technische, operations-taktische und rechtliche Fragen Generalmajor Johann Langenegger, die Oberstleutnante i.G. Lutz Kuhn und Stephan Kurjahn, Regierungsdirektor Norbert Hausmann sowie das von Oberst i.G. Oliver Kohl geleitete Sekretariat. Völliger Konsens zwischen Kommission und beigestellten Experten war, die Untersuchung in Verantwortung für die Soldaten völlig unabhängig und ohne Rücksicht auf (partei)politische Interessen durchzuführen.

Das Untersuchungsergebnis schuf eindeutige Klarheit und erhielt keinerlei Widerspruch.

Als wohl erster Grünen-Politiker arbeitete ich im BMVg, unterstützt und beraten von zehn Bundeswehrangehörigen bis zu einem Divisionskommandeur. Ich war embedded, aber dadurch kein bisschen eingeschränkt. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Kompetenzen, Erfahrungen, Perspektiven war einmalig produktiv. Großen Dank für diese tolle Kooperationserfahrung! Winfried Nachtwei, MdB 1994-2009

Vorwort des Kommissionsvorsitzenden (s. 1-3)

Seit 2010/2011 gab es vermehrt Hinweise auf Präzisionsmängel des G36-Sturmgewehres der Bundeswehr. Nachdem wissenschaftliche Tests eindeutig Präzisionseinschränkungen des G36 bei schussinduzierter Erwärmung und äußeren Temperaturschwankungen belegt hatten, stellte sich neben anderen Fragen auch die brisante Frage, ob deutsche Soldaten durch Präzisionsabweichungen des G36 in Gefechtssituationen einem höheren Risiko ausgesetzt waren oder sogar zu Schaden kamen.

Dies aufzuklären, ist für die Angehörigen und Kameraden von gefallenen und verwundeten Soldaten, für die Bundeswehrangehörigen insgesamt und ihre politischen Auftraggeber von allerhöchstem Interesse. Zu diesem Zweck berief Ministerin Dr. Ursula von der Leyen die unabhängige Kommission „zu Untersuchung des Einsatzes des G36-Sturmgewehres in Gefechtssituationen“.

Die Kommission ließ sich bei ihrer Untersuchung von dem Grundsatz leiten: Wenn Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr von Bundesregierung und Bundestag in Einsätze entsandt werden, dann müssen sie ihren Auftrag bestmöglich erfüllen können und die Einsatzrisiken soweit möglich begrenzt werden. Das gilt unabhängig vom legitimen politischen Streit um einzelne Einsätze. Diesem Grundsatz fühlten sich die Mitglieder der Kommission auch in ihrer vorherigen Tätigkeit als Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und als Mitglieder des Bundestages und des Verteidigungsausschusses verpflichtet.1

Mit der Fokussierung auf den Einsatz des G36 in Gefechtssituationen zielten die Untersuchungen der Kommission auf den Kernbereich des Soldatenberufes und die schärfsten Seiten des deutschen Afghanistaneinsatzes.

Die Gefechtsschilderungen der Soldaten empfand ich immer wieder als aufwühlend.

Der Kommission war ein uneingeschränktes Akteneinsichts- und Befragungsrecht zugesichert und während der Kommissionsarbeit absolut gewährleistet.

Die Kommission durchforschte nicht nur alle relevanten internen Berichte zu Schuss-wechseln und Gefechten, sondern befragte in großem Umfang unmittelbar Soldaten nach ihren G36-Erfahrungen im Einsatz und in Gefechten – Soldaten aller Dienstgradgruppen, aus allen größeren Einsätzen und allen Phasen des Afghanistaneinsatzes, insbesondere der Jahre 2009 bis 2012. Etliche der Befragten äußerten ihre Dankbarkeit, dass jetzt endlich ihre praktischen Erfahrungen gefragt seien. Die Soldaten meldeten sich freiwillig zur Befragung und nahmen sehr offen und trotz des zeitlichen Abstands bemerkenswert konkret Stellung. Sie zeigten keinerlei Hemmung, erkannte Ausrüstungsdefizite auch klar zu benennen.

Der vorliegende Bericht richtet sich zunächst an die politische Leitung des BMVg. Die Kommission ist sich darüber hinaus im Klaren, dass auch das Parlament, die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie die Öffentlichkeit an den Ergebnissen der Untersuchung interessiert sind.

Die Kommission konnte nicht in Gänze auf die militärische Fachsprache verzichten, wandte sie aber möglichst allgemein verständlich an. Dabei war uns der Spagat bewusst: einerseits die technisch-taktisch geprägte. Formalisierte militärische Fachsprache und andererseits die Einsatzrealität mit ihrer menschlichen Dimension. Im Einsatz bedeutet „Wirken im Ziel“ – unabhängig von der Legitimität des Auftrages – Tod, Verwundung, Leid, „Umsetzung eines IED“ hinterlässt zerfetzte Körper und verwundete Seelen.2

Die Unabhängigkeit der Kommission war in jeder Phase gewährleistet. Es gab keinerlei Versuche, auf die Untersuchungen der Kommission Einfluss zu nehmen. Die Kommissionsmitglieder waren sich einig in dem Selbstverständnis, bei der Untersuchung keine politischen Rücksichten zu nehmen. Die die Kommission beratenden und unterstützenden Bundeswehrangehörigen waren einsatzerfahren, hoch kompetent und geistig unabhängig – vorbildliche „Staatsbürger in Uniform“.

In der Kommission wirkten ehemalige politische Auftraggeber von Bundeswehr-einsätzen und Offiziere bzw. Beamte als „Auftragnehmer“ ausgesprochen produktiv zusammen. Die inhaltlichen Beratungen zwischen ihnen waren sehr intensiv, offen und immer bereichernd.

Zu Beginn der Kommissionsarbeit gab es Zweifel, ob die Schlüsselfrage angesichts der Komplexität eines Gefechts überhaupt eindeutig geklärt werden könnte. Wir sind erleichtert, dass die Untersuchungen der Kommission ein klares und eindeutiges Ergebnis brachten. (vgl. Kapitel 4)

Inzwischen hat die politische Leitung des BMVg beschlossen, ein Nachfolgemodell für das G36 zu suchen. Wir sehen dadurch die Arbeit unserer Kommission keineswegs als „überholt“ an. Denn die Schlüsselfrage nach eventuellen Schädigungen im Kontext von Präzisionsabweichungen des G36 ist unverändert bedeutsam, unabhängig von der Frage des künftigen Sturmgewehrs der Bundeswehr.

Der Auftrag der Kommission beschränkte sich auf einen wichtigen, aber begrenzten Teilaspekt der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Untersuchung brachte neben Erkenntnissen zum Präzisionsverhalten des G36 weitergehende Aufschlüsse über den Schusswaffeneinsatz bei den größeren Einsätzen und über Gefechtsverläufe. Eine systematische Untersuchung der Wirkungen der deutschen Beteiligungen an internationalen Krisenengagements, insbesondere in Afghanistan, steht noch aus.

Dem Kollegen Hellmut Königshaus, unseren militärischen Beratern und Unterstützern danke ich für die in jeder Hinsicht hervorragende, ertragreiche und menschlich angenehme Zusammenarbeit!

Winfried Nachtwei, Vorsitzender der „Kommission zur Untersuchung des Einsatzes des G36-Sturmgewehres in Gefechtssituationen“

Kernaussagen zum Untersuchungsauftrag (S. 5)

1. Die in den wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellten Präzisionseinschrän-kungen des G36 bei schussinduzierter Erhitzung und sich ändernden Umweltbedingungen stehen nicht in Zweifel.

2. Kein deutscher Soldat ist im Zusammenhang mit technischen Präzisionsmängeln des G36 gefallen oder verwundet worden.

3. Es ergaben sich auch keine Hinweise auf eine konkrete Gefährdung von Soldaten im Zusammenhang mit dem Präzisionsverhalten des G36.

4. Die Treffgenauigkeit und Wirkung eines Schützen im Einsatz hängt außer von der technischen Präzision des G36 maßgeblich auch von seiner Schießfertigkeit, von seiner momentanen Verfassung, von Umweltbedingungen, Kampfentfernung und Gegnerverhalten ab.

5. Die technische Präzisionseinschränkung des G36 war im Gefechten für die eigene Wirkung auf den Gegner und den Gefechtsverlauf nicht von erkennbarer Relevanz. Nichts desto weniger ist eine bestmöglicher technische Präzision notwendig.

6. Soldaten beurteilten die angesichts der Lageverschärfung in Afghanistan notwendigen und spätestens ab 2010 verfügbaren bodengebundenen Waffensysteme (Waffenmix) als ausreichend.

7. Spezialkräfte benötige eine Waffe mit deutlich höherer Präzision und erweiterten Fähigkeiten.

8. Verschleiß und Regeneration beim G36 bedürfen besonderer Beachtung.

9. Alle Soldaten hatten und haben volles Vertrauen in das G36, nicht zuletzt aufgrund der – auch im internationalen Vergleich – hohen Zuverlässigkeit. Daher stößt die negative Darstellung des G36 als „Pannengewehr“ bei den Soldaten auf großes Unverständnis. Die umfassenden Einsatz- und Gefechtserfahrungen deutscher Soldaten widerlegen dieses Negativimage.

Weitere Untersuchungsergebnisse

G36 in den Einsätzen der Bundeswehr (S. 24 ff.)

Seit Einführung des G36 in 1996 hat die Bundeswehr an multinationalen Einsätzen in weit über 20 Einsatzgebieten teilgenommen. Dabei war sie im Rahmen des Völkerrechts generell zur Selbstverteidigung, teilweise zur Durchsetzung der Mandatsziele zum Einsatz militärischer Gewalt legitimiert.

Bei diesen Einsätzen kam es in höchst unterschiedlichem Maße zu Schusswaffen-einsätzen, in Afghanistan auch zu Gefechten verschiedenster Intensität.

Beim Bundeswehreinsatz in Bosnien-Herzegowina im Rahmen SFOR und ALTHEA bis 2012 gab es nach Erkenntnis der Kommission keine Feuergefechte3.

Gleiches gilt für den Einsatz im Rahmen von EUFOR DR Congo 2006.

Auch bei den Marineeinsätzen am Horn von Afrika (OEF, ATALANTA) ab 2001 bzw. 2008 wurde kein Schusswaffeneinsatz mit G36 gemeldet.

Beim Einsatz der Bundeswehr im Kosovo (KFOR) kam es nur in wenigen Fällen zum Schusswaffeneinsatz4.

Beim Einsatz deutscher Spezialkräfte im Rahmen der Operation Enduring Freedom Afghanistan kam es im ersten Einsatzjahr 2002 entgegen vielen Befürchtungen zu keinen Schusswechseln. Keiner der eingesetzten Soldaten kam in dieser Zeit zu Schaden. Durch die deutschen Soldaten wurde niemand direkt verwundet oder getötet.5

Beim Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan (ISAF) wurde von 2001 bis 2005 nur ein Schusswechsel gemeldet. Bei sieben Angriffen mit Sprengfallen gab es in diesen vier Jahren acht Gefallene und über 40 Verwundete6.

Ab 2006 verschärfte sich die Sicherheitslage. In diesem Jahr war die Bundeswehr mit ca. 15 Feindkontakten konfrontiert. Sechs Mal kam es dabei von Seiten der Bundeswehr-soldaten zum Schusswaffengebrauch. Der Stabilisierungseinsatz der Präsenzpatrouillen, Gesprächsaufklärung, Verbindungsarbeit, CIMIC-Operationen7 wurde zunehmend mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert, ab 2009 vermehrt mit komplexen Angriffen. Mit dem Strategiewechsel von ISAF zur umfassenden Bekämpfung Aufständischer (Counterinsurgency) und dem damit verbundenen Aufwuchs eigener Kräfte („Surge“) schwenkte auch der Bundeswehreinsatz sukzessive auf diese Zielsetzung um: Schwächung der Aufständischen durch direkte militärische Bekämpfung und insbesondere durch das Gewinnen des Rückhalts der Bevölkerung über die Phasen des „Shape, Clear, Hold, Build“. Die Erfolgsaussichten der Counterinsurgency-Strategie unter den gesellschaftlichen Bedingungen Afghanistans stehen hier nicht zur Debatte. Lage und Operationsführung unterschieden sich aber zwischen den verschiedenen Provinzen, Distrikten und Gebieten erheblich. Während Distrikte wie Chahar Darreh in der Provinz Kunduz regelrechte Kampfzonen waren, konnten sich in anderen Distrikten (z.B. der Provinz Balkh) Aufbauhelfer noch relativ frei bewegen.

Auch die Bundeswehr konnte sich der kriegerischen Auseinandersetzung nicht mehr entziehen. Diese erreichte in den Jahren 2010/2011 ihren Höhepunkt mit 159 Feinkontakten (106 im Raum Kunduz, 36 im Raum Baghlan), darunter 65 Feuergefechte mit eigenen Schusswaffengebrauch und 15 Gefallenen sowie 114 körperlich Verwundeten.

Insgesamt waren Bundeswehrsoldaten seit 2002 in Afghanistan über 380 Mal mit gegnerischen Angriffen konfrontiert. Mindestens 150 Mal standen sie seit 2006 in Schusswechseln. Seit Besinn des Afghanistan-Einsatzes sind 35 deutsche Soldaten8 durch unmittelbare Feindeinwirkungen gefallen und wurden insgesamt über 260 körperlich verwundet9.

Die Zahl der seelisch Verwundeten lässt sich wegen der erheblichen Dunkelziffer und des verzögerten Eintretens von Symptomen der Verwundung nicht abschließend beziffern. Die Größenordnung der Zahl seelisch Verwundeter lässt sich grundsätzlich anhand der Zahl der jährlich wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (erstmalig und wiederholt) behandelten deutschen ISAF-Soldaten erfassen. Die Zahlen stiegen von 2011 bis 2014 von 759 auf 1.31110.

Insbesondere bei Selbstmordattentaten gegen Bundeswehrsoldaten wurden aber auch viele afghanische Zivilpersonen getötet oder verletzt11.

Nutzung und Stellenwert des G36 im Afghanistaneinsatzes (S. 28 ff.)

(…)

Die Feindkontakte der ersten Jahre bestanden in Selbstmordanschlägen, Sprengfallen und Hinterhalten mit (Panzerabwehr-) Handwaffen sowie ungelenkten Raketen. Ab 2009 kam es zunehmend zu komplexen, militärisch geführten Angriffen der Aufständischen.

Die Feuereröffnung geschah in der Regel durch die Aufständischen mit dem Vorteil der Geländekenntnis und der Überraschung gegen die für den Gegner leicht erkennbaren ISAF-Kräfte.

Die Aufständischen klärten die ISAF-Kräfte im Vorfeld genau auf, um diese möglichst wirksam ansprengen und bekämpfen zu können. Die Treffgenauigkeit der gegnerischen Schützen war überwiegend schlecht. In Einzelfällen verfügten sie aber auch über Scharfschützen.

Bei Hinterhalten der ersten Jahre war auf Bundeswehrseite die vorherrschende Reaktionsweise, den Gegner niederzuhalten und sich von ihm zu lösen (Primärziel Selbstschutz).

Mit den komplexen Angriffen und der eigenen offensiveren Einsatztaktik (bis movement to contact) ab 2009 nahmen die Bundeswehrkräfte den Feuerkampf auf. Ihr Primärziel war jetzt Rückgewinnung der Initiative und vermehrt Gegnerbekämpfung: (…)

Gefechte wurden geführt auf Ebene eines verstärkten Zuges bis einer gesamten Kompanie, in Einzelfällen im Rahmen längerfristig vorgeplanter Operationen auch auf Bataillonsebene.

Gefechte dauerten von Minuten (IED, Selbstmordattentäter) über mehrere Stunden bis zu mehreren Tagen mit Gefechtspausen12.

Kampfentfernungen reichten von 800m bis auf fünf Meter. Viele Feuerwechsel gingen über mehr als 200 m, der Hauptkampfentfernung des G36.

Bei Operationen außerhalb des Feldlagers Kunduz mussten die Soldaten ständig mit IED-Angriffen und Attacken aus jeder Himmelsrichtung rechnen. Über 10-14 Tage, teilweise auch mehrere Wochen, standen die Soldaten dabei unter permanenter Anspannung. Die existenzielle Bedrohung eines Gefechts löste je nach Verfassung der Soldaten unterschiedlich starken Stress aus. Psychische und physische Reaktionen sind normal. Soldaten sprechen von lähmender Angst, fokussierendem Respekt und körperlichen Reaktionen, wie Zittern. Hinzu kamen zum Teil extreme Temperaturen, im Sommer auf 40° bis 50° C im Schatten, im Schützenpanzer Marder vor Installation eines Kühlgeräts auf 80° C. .

Angesichts der wachsenden Bedrohung durch Selbstmordattentäter mussten Soldaten an Kontrollpunkten in kürzester Zeit mögliche Bedrohungen erkennen und über Schuss-waffeneinsatz selbständig entscheiden. Dabei standen sie immer wieder im Zielkonflikt zwischen Eigenschutz, Gefahrenabwehr und möglichster Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung, zumal in einem Stabilisierungseinsatz. Erschwerend kamen oft ungünstige Sichtverhältnisse hinzu. Wenn Kraftfahrzeuge Haltesignale und Warnschüsse nicht beachteten und als Bedrohung gewertet wurden, schoss man möglichst zuerst in den Motorblock. So konnten etliche mutmaßliche Bedrohungen gestoppt werden. Es kam aber auch zu einzelnen tragischen Zwischenfällen, so am 28. August 2008, als bei Kunduz an einem Kontrollpunkt von afghanischer Armee, Polizei und Bundeswehr eine Frau und zwei Kinder in einem Kfz erschossen wurden. Insgesamt gingen die Bundeswehrsoldaten mit solchen hochriskanten Dilemmasituationen sehr professionell und verantwortungsbewusst um.

(…)

Abschließende Bemerkungen (S. 48)

Die Kommission sieht ihren Untersuchungsauftrag als erfüllt an.

Die Auswertung der bundeswehrinternen Berichte zu Schusswechseln und Gefechten und die umfassende Befragung einsatz- und gefechtserfahrener Soldaten aus allen größeren Einsätzen und insbesondere des Afghanistaneinsatzes ergaben durchweg ein eindeutiges Ergebnis:

Deutsche Soldaten sind im Kontext von Präzisionsabweichungen des Sturmgewehrs G36 nicht gefallen und nicht körperlich verwundet worden. Es zeigten sich auch keine Anhaltspunkte für Zweifelsfälle.

Ebenfalls fanden sich keine Hinweise, dass deutsche Soldaten über eine nicht auszuschließende abstrakte Gefährdung hinaus auch konkret einer höheren Gefährdung aufgrund des Präzisionsverhaltens des G36 ausgesetzt waren.

Die Aussagen der befragten Soldaten zu ihren Erfahrungen mit dem G36, zu ihren Einsatz- und Gefechtserfahrungen zeugten durchweg von hoher Professionalität und Ernsthaftigkeit. Sie traten ausgesprochen verantwortungsbewusst und besonnen auf. Dass zur Erfüllung des militärischen Auftrages immer auch die besondere Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung gehört, ist für unsere Soldaten offenkundig eine Selbstverständlichkeit.

Des Öfteren wiesen Soldaten darauf hin, dass, verglichen mit der von der Kommission untersuchten möglichen Gefährdung deutscher Soldaten im Zusammenhang mit den Eigenschaften des G36, andere Aspekte der Einsatzplanung und -ausstattung in Afghanistan mutmaßlich ein erheblich größeres Gefährdungspotenzial beinhaltet hätten.

Mit der Verschärfung der Lage ab 2008 in Teilen des deutschen Verantwortungsgebietes in Nordafghanistan beschränkte ein unzureichender Kräfteansatz (z.B. zu enge Obergrenzen, fehlende Reserven, langjähriger Mangel an Transport- und Kampfhubschraubern etc.) die Auftragserfüllung der deutschen ISAF-Kräfte und setzte sie zugleich erhöhten Risiken durch die erstarkende Aufstandsbewegung aus. Der unzureichende Kräfteansatz ging einher mit einer zeitweilig beschönigenden Lagedarstellung der politisch Verantwortlichen und einer Vernachlässigung insbesondere der polizeilichen Fähigkeiten im Rahmen des vernetzten Ansatzes.

Deutlich widerlegt wurde im Rahmen der Untersuchungen die verzerrende Darstellung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr unterschiedslos als Kriegseinsätze. Viele Einsätze der Bundeswehr blieben – glücklicherweise – ohne jeglichen oder doch zumindest ohne einen nennenswerten Einsatz militärischer Gewalt.

Die Untersuchungen und vor allem die Gespräche der Kommission mit gefechtserfahrenen Soldaten führten hingegen durch die schärfsten Seiten des deutschen Einsatzes in Afghanistan – in die Welt des infanteristischen Kampfes Mann gegen Mann, „der oder ich“, Tod oder Leben. Die angesichts dieser Einsatzrealität erheblich intensivierte Ausbildung und insbesondere das Nahbereichsschießen verstärken die Dimension militärischer Gewaltausübung und konfrontieren den Soldaten viel direkter mit den Wirkungen seines Waffeneinsatzes.

Den Kommissionsmitgliedern wurde dabei erneut eindringlich deutlich, wie extrem die Anforderungen an Einsatzsoldaten in Bodenkämpfen sind.

Unsere persönlichen Begegnungen mit der kriegerischen Einsatzrealität der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan bekräftigt unsere Grundhaltung, dass die politische Leitung und das Parlament höchst verantwortlich mit dem Einsatz von Soldaten der Bundeswehr umgehen müssen: bei der Einsatzentscheidung, bei der Einsatzausstattung und -führung, bei der Wirkungskontrolle und insbesondere auch gegenüber den Einsatzrückkehrern und deren Familien. Von diesen tragen etliche oft noch lange an den Einsatzfolgen, während ihre Auftraggeber längst mit anderen Aufgaben befasst sind.

Berlin, den 14. Oktober 2015

Winfried Nachtwei Hellmut Königshaus

1 Hellmut Königshaus,: MdB von 2004-2010, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 2010-2015; Winfried Nachtwei: MdB 1994-2009

2 Sehr realitätsnahe Schilderung des Gefechtsgeschehens bei Schröder, Wolfgang, Hoppe, Joachim, Brinkmann, Sascha (Hrg.), Feindkontakt – Gefechtsberichte aus Afghanistan, Hamburg 2013

3Warnschüsse in der Kaserne nach Eindringversuchen (1997)

4 Zum Beispiel: am 13.06.1999 (Feuererwiderung gegen Schützen in einem Kfz beim Einrücken in Prizren), am 27.09.2011 (Grenzübergang Gate 1, Crowd and Riot Control) und am 01.06.2012 (Räumung einer Straßensperre).

5 Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss zu Murnat Kurnaz/KSK, Bundestagsdrucksache 16/10650 vom 15.10.2008, S. 180

6Diese und die folgenden Zahlenangaben zu Schusswechseln/Gefechten, Gefallenen und Verwundeten nach Informationen des BMVg, Unterrichtung des Parlaments , des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr und des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Ergänzend und in Fällen, in denen keine amtlichen Angaben verfügbar waren, wird auch die Liste „Zwischenfälle der Bundeswehr in Afghanistan“ auf https://de.wikipedia.org berücksichtigt, Dies geschieht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die Verlässlichkeit dieser Quelle nicht gewährleistet ist. Etliche Schusswechsel, von denen Gefechtsberichte der Bundeswehr vorliegen, sind in der Wikipedia-Liste nicht erwähnt.

7CIMIC: Civil-Military Cooperation (Zivil-militärische Zusammenarbeit)

8Gemäß Einsatzführungskommando der Bundeswehr sind 51 Soldaten der Bundeswehr in Einsätzen gefallen, davon vier außerhalb Afghanistans und weitere zwölf nicht durch unmittelbare Feindeinwirkung.

9Auf der Basis der Unterrichtungen des Parlaments lassen sich für den Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2014 insgesamt 260 durch Gefecht, Beschuss, Anschlag verwundete deutsche Soldaten im Einsatz in Afghanistan (ISAF/OEF) nachweisen. Gemäß Einsatzführungskommando der Bundeswehr sind seit 2005 103 Soldaten aufgrund der Schwere ihrer Verwundung nach Deutschland zurück verlegt worden (Repatriierung).

10Für alle Einsatzgebiete der Bundeswehr lag die Zahl der Neuerkrankungen in 2014 bei 204 Soldaten (ein Anstieg von 55 Soldaten ggü. dem Vorjahr) und der Wiedervorstellung bei 1493 Soldaten.

11Am 19.05.2007 starben beispielsweise auf dem Markt in Kunduz drei Bundeswehrangehörige und sieben afghanische Zivilpersonen; am 20.10.2008 zwei Soldaten und fünf afghanische Kinder.

12 Zum Beispiel Operation Halmazag 31.10.-03.11.2010

 

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