Großfehler Afghanistaneinsatz 9/2021 und nach den Erkenntnissen der Enquete-Kommission 2/2024

Auf einen Blick: Die Sicht nach dem Einsatzabbruch + Rückkehr der Taliban und nach den Untersuchungen der Enquete-Kommission

Bilanz des größten, teuersten, opferreichsten Kriseneinsatzes der (v.a. westlichen) Staatengemeinschaft + Deutschlands , Winfried Nachtwei (09/2021)

Zentrale strategische Ziele verfehlt: wohl Al-Qaida-Schwächung, aber keine nachhaltige Terrorbekämpfung; höchst unsicheres Umfeld; keine verlässliche Staatlichkeit, Teilfortschritte bei Aufbau/Entwicklung „am Boden“

WARUM? (Gründe auf Seiten des Westens, ohne die Gründe bei anderen)

  • Überkomplexität des internat. Einsatzes (85 beteiligte Staaten, 15 große internationale Organisationen, 1.700 NGO`s, 3 Militäroperationen) in kriegszerrüttetem Land
  • Mangelnde Landeskenntnis, Kontext- und Konfliktverständnis, kulturelle Überheblichkeit, Selbstüberschätzung/Machbarkeitsillusionen bis Hybris, Unterschätzung der Taliban (ihrer Quellen/Stärken, ihrer strategischen Geduld)
  • Strategiemangel, strategische Großfehler: unklare Ziele (Missachtung Brahimi-Report 2000), strategischer Dissens (War on Terror/milit. Sieg vs. Staatsaufbau/ Stabilisierung); US-Schwerpunktverlagerung zum Irak-Krieg; „Partnerwahl“ pro korrupte Warlords, Vernachlässigung der Reformkräfte; Fokus auf Zentralregierung (vs. dezentrale Tradition) + städt. Bevölkerung (>30 Mio. auf dem Land); politische Verhandlungen viel zu spät
  • Primärinteressen in den polit. Spitzen: Vorrang von Bündnisloyalität + innen-politischer Opportunität vor Wirkungsorientierung und Wirkungsevaluationen;
  • Realitätswahrnehmung behindert durch Tunnelblicke, Ausbremsen von Warnungen/kritischen Berichten, Schönfärberei; nach jahrelanger Realitätsver-leugnung die „große Überraschung“ in 2021
  • Kräfteansatz: verspäteter Aufwuchs, Missverhältnis zwischen militärischen + schwachen zivilen Fähigkeiten + Kapazitäten, hinkender vernetzter Ansatz (je höher, desto mehr)
  • Knackpunkt: Kollektives politisches Führungsversagen in vielen Hauptstädten (insbes. Washington, Kabul, Islamabad), Folgsamkeit vieler Verbündeter, auch DEU; unkritisches Mitmachen; strukturelle Überforderung der Staaten“gemeinschaft“ in ihrer heutigen Verfasstheit

Es lag NICHT AM BODENPERSONAL der entsandten Frauen + Männer in Uniform + Zivil, die mit hohem Einsatz, Kompetenz + Risiko zu wichtigen Teilfortschritten beitrugen. Sie verdienen Interesse, hohen Respekt und Dank – und die an Leib und Seele Geschädigten verlässliche Betreuung und Fürsorge.

Wichtigste Ergebnisse der Enquete-Kommission des Bundestages laut Zwischenbericht (W.N., 19.02.2024)

– Erste Enquete-Kommission zu außen- und sicherheitspolitischem Thema;

– kritische Überprüfung gerade auch der politisch-strategischen Ebene (nicht nur der Umsetzungsebenen) einschließlich parlamentarischer Selbstkritik;

– Anspruch „differenzierter Klartext“, Risiko von Besserwisserei aus dem Nachhinein;

– einstimmiger Beschluss des Zwischenberichts bei nur wenigen punktuellen Sondervoten;

– erhebliche Übereinstimmungen mit den Ergebnissen der strategischen Ressortevaluation.      

Bestätigung aller Punkte von 2021 – WEITERE ERKENNTNISSE

  • Breites Unverständnis der afghanischen Gesellschaft in ihrer Breite, ihrer Geschichte, Kultur, ihrer religiösen Dimension und Konflikte („Wiederherstellung dauerhafter Institutionen“ in einer Gesellschaft, die vor allem durch Personen, ihre Beziehungen und informelle Machtstrukturen geprägt ist);
  • Militärlastige Wahrnehmung des realiter zivil-militärischen Einsatzes in Medien, Parlament; Minimalwahrnehmung von zivilen Komponenten + vernetztem Ansatz
  • Trotz offiziell proklamiertem Unterstützungsansatz vorherrschend „Import“ von westlichen Modernisierungsansätzen (externes Statebuilding) in verschiedenen nationalen Spielarten (z.B. deutsches Polizeiverständnis, US-Militärmodell)
  • Inkohärenz der Ziele (internationale Akteure, Ressorts, zivil-militärisch) + Mangel an überprüfbaren Zwischenzielen
  • Durchgänger Mangel an Wirkungsanalysen, a. auf politisch-strategischer Ebene
  • Stabilisierungsmaßnahmen von AA und BMZ nicht wirksam bei Verringerung der Gewalt, Verbesserung der Regierungsführung + effizienteren Verwaltungsstrukturen; kleine, lokal eingebettete Projekte zur Basisversorgung am effektivsten, resilientesten + nachhaltigsten, Projekte für strukturellen Wandel + Verhaltensänderungen am wenigsten
  • Gesellschaftliche Friedensförderung: ZFD einmalig, Beiträge zur Konfliktschlich-tung auf der lokalen Mikroebene, Potenzial für systematische Friedensförderung nicht genutzt; Bezug primär zu „zugänglichen“ und „nahestehenden“ Reform- und Dialogpartnern, kaum zu traditionellen/religiösen Multiplikatoren (die strategische Bedeutung von Religion wurde auch von der Enq-Kom verkannt)
  • Parlamentsbeteiligung: kaum vernetzt; Vorrang der Mikrokontrolle, keine politisch-strategische Kontrolle; Wirkungsevaluierungen nicht durchgesetzt (Möglichkeiten der Parlamentsbeteiligung nicht ausreichend genutzt); strukturelle Überforderung der Parlamentsbeteiligung in ihrer jetzigen Verfasstheit (die jahrelange Nichtbeachtung der strategisch bedeutsamen dt. Polizeihilfe im Bundestag setzt sich bei der Plenardebatte des Zwischenberichts fort)
  • Zum Teil strittig: Bewertung der US-geführten Terror- und Aufstandsbekämpfung (OEF, black operations, Teile der internationalen Truppen als Besatzer), „Bündnis-dilemma“ (Gegnerfokussierung vs. Bevölkerungsorientierung)
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