Angriffs- und Terrorkrieg gegen die Ukraine – aus Erfahrungen lernen: Einige Konsequenzen für eine Außen- und Sicherheitspolitik, die Frieden bewahren + wiederherstellen will

Gewissheiten und Denkmuster wurden erschüttert. Was sollte uns der Schock dieses Angriffskrieges lehren?

Angriffs- und Terrorkrieg gegen die Ukraine – aus Erfahrungen lernen: Einige Konsequenzen für eine Außen- und Sicherheitspolitik,

die Frieden bewahren und wiederherstellen soll,  Winfried Nachtwei[1], 28.10./16.11.2022

Vorbemerkung: Zweckt dieses Beitrags ist, die angesichts des Ukrainekrieges notwendige Überprüfung und teilweise Umorientierung deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik etwas mehr durchzubuchstabieren- nicht zuletzt im Hinblick auf die kommende Nationale Sicherheitsstrategie.

(1) Kein Krieg wie viele andere: Seit mehr als acht Monaten führt das Putin-Regime einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er zielt auf die Vernichtung ihrer Eigenstaatlichkeit und Kultur. Er sollte ein Schritt zur Wiederherstellung des großrussischen Imperiums sein. Mit der systematischen Beschießung und Bombardierung von ziviler Infrastruktur und Wohnvierteln, mit Terror in und Massenverschleppungen aus besetzten Gebieten hat der russische Angriffskrieg genozidale Züge. Der intensive Beschuss der Kraftwerke seit dem 10. Oktober zerstört zunehmend die Strom- und Wasserversorgung, also die Lebensgrundlagen der Ukraine und provoziert eine humanitäre Katastrophe. Das zielt auf die Kapitulation der Ukraine und eine weitere Flüchtlingswelle Richtung EU-Europa. Das humanitäre Völkerrecht ist außer Kraft gesetzt.

Die Atommacht Russland brach mit einem bisherigen Tabu der atomaren Abschreckung, indem sie  wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte, um damit andere Staaten von direktem, völkerrechtlich zulässigem militärischen Beistand abzuschrecken. Die Vetomacht Russland blockiert Maßnahmen der UN-Friedenssicherung. Der Krieg gegen die Ukraine geht einher mit einer Informations- und Energiekriegführung, die vor allem das demokratische Europa erschüttern und schwächen soll.

Der vielfache Völkerrechtsbruch dieses Angriffs- und Terrorkrieges (UN-Charta, Schlussakte von Helsinki, Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Schlussakte, humanitäres Völkerrecht) spaltete die europäische Friedensordnung und bedeutet für Europa eine Zeitenwende. EU-Europa und die UN-Charta  stehen unter Beschuss.

Im Vorfeld gab es Warner, insbesondere bei unseren östlichen Nachbarn und in der sicherheitspolitischen Community. In der NATO erfuhr die Bündnisverteidigung seit 2010, vor allem seit der Krim-Annexion 2014 wieder vermehrte Aufmerksamkeit. In Deutschland gehörten die Grünen und die Heinrich-Böll-Stiftung zu der Minderheit, die deutlich das Putin-Regime kritisierten, Memorial verlässlich unterstützten und Nord-Stream 2 ablehnten.

(2) Böses Erwachen: Der russische Großangriff vom 24. Februar brachte aber allseits ein böses Erwachen. Einen Krieg solcher Dimension in Europa hatte kaum jemand für möglich gehalten. Überhaupt war hierzulande die Möglichkeit zwischenstaatlicher Kriege aus dem Blick geraten. Die Leitlinien „Krisen verhindern, Frieden fördern“ der Bundesregierung von 2017 (und damit das Politikfeld der Krisenprävention) waren auf innerstaatliche Konflikte und ihre Bearbeitung fokussiert. Im Grünen Grundsatzprogramm von 2020 und dem Bundestagswahlprogramm von 2021 dasselbe Grundmuster: Fokus auf innerstaatlichen Konflikten, kein Wort zu zwischenstaatlichen Konflikten, gar Verteidigungsfähigkeit und Friedenssicherung durch Abschreckung. Nicht nur für Alt-Grüne war seit den 80er Jahren der sicherheitspolitische Ansatz der Abschreckung (= atomar) regelrecht verbrannt. In breiten Teilen der deutschen Gesellschaft, insbesondere der friedensbewegten Öffentlichkeit wurde das Bedrohungspotenzial von Machthabern verdrängt, die Dialog für Schwäche halten und ihre Interessen auch militärisch durchsetzen. „Wenn wir (und die Amis) nicht böse sind, dann ist es keiner“, scheint manchmal die Denke zu sein.

(3) Werteorientierte Solidarität: Dass die überfallene Ukraine gegenüber den Angreifern ihr Völkerrecht auf Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta) wahrnahm, fand in Deutschland breite Zustimmung, sehr deutlich auch bei Grün-Wähler:innen. Ähnlich bei der Frage des Beistandes durch Waffenlieferungen: „Überfallenen muss geholfen werden, nicht nur humanitär, auch zur Selbstverteidigung mit Waffen.“ Das war eine Grundwerteentscheidung.

Mit der Ankündigung des 100-Milliarden-„Sondervermögens Bundeswehr“ am vierten Kriegstag bekannte sich Bundeskanzler Scholz – und in den Wochen danach auch die Fraktionen von Koalition und Union – zur Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Was das aber bedeutet, ob es um sicherheitspolitischen Nachholbedarf geht oder den Einstieg in erneutes Auf- und Hochrüsten, war dann in der Gesellschaft umstritten. Große Teile der – geschrumpften – Friedensbewegung protestieren seit Monaten primär gegen die neue „Aufrüstung“, die realiter nicht mehr als eine Vollausrüstung zum Ziel hat – und nur in Nebensätzen gegen den russischen Angriffskrieg. „Internationale Solidarität“ – in früheren Jahrzehnten zentrale Parole auf linken + Friedensdemos – wird den Ukrainer:innen in ihrem  Überlebenskampf da oft verweigert.

(4) Klärungsbedarf: Der Realitätsschock des Ukrainekrieges erschütterte verbreitete Gewissheiten und Denkmuster, insbesondere außerhalb der sicherheitspolitischen Community und in der gesellschaftlichen Fläche  – und dabei auch friedenspolitische Positionen, wie sie ältere Grüne und Friedensbewegung in bzw. seit den 80er Jahren vertraten.

Erste solche friedenspolitisch erschütternden Erfahrungs- und Lernprozesse machten Grüne (und viele Friedensbewegte) im Kontext der Balkankriege der 1990er Jahre. Zivilbevölkerung wurde belagert, beschossen, massakriert. Sarajevo und Srebrenica stehen beispielhaft für das jahrelange Versagen der Staatengemeinschaft, Zivilbevölkerung vor Massengewalt zu schützen. Die Einsicht wurde unausweichlich, dass es Situationen gibt, wo der Einsatz von Militär zum Schutz von Zivilbevölkerung vor Massengewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann. Auslandseinsätze der Bundeswehr „zum Schutz“ wurden so auch für die militärskeptischen Grünen zustimmungsfähig. Mit der ersten Beteiligung an einer Bundesregierung ab 1998 wurden Grüne zwangsläufig mitverantwortlich für das  rechtsstaatliche Gewaltmonopol nach Innen und Außen. Strikte Gewaltfreiheit und fundamentaler Pazifismus – für Individuen und Gruppen eine legitime Grundhaltung – stießen auf der Ebene staatlicher Verantwortung an ihre Grenzen. Gewaltfreiheit war damit nicht passé, musste aber anders buchstabiert werden: Gewaltfreiheit bleibt ein zentrales Ziel, das durch Krisenprävention, zivile Konfliktbearbeitung, Abrüstung, aber auch durch Schutz der Bevölkerung vor illegaler Gewalt, durch die Wahrnehmung des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols, durch die Beteiligung an gemeinsamer Friedens- und Sicherheitspolitik nach den Prinzipien der UN-Charta verfolgt wird.

Heute, im Angesichts des russischen Angriffskrieges, sind bisherige Gewissheiten wie „Wandel durch Handel“, „Wandel durch Annäherung“, „Keine Waffenlieferungen in Konfliktgebiete“, „Militär löst keine Konflikte“, „Frieden durch Abrüstung“, „Frieden durch Dialog“, „Frieden schaffen ohne Waffen“ infrage gestellt. wenn auch keineswegs generell hinfällig geworden.

(5) Historische Verantwortung

Nach dem von Nazi-Deutschland verbrochenen Weltkrieg und Völkermorden steht das demokratische Deutschland in besonderer historischer Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben in Europa und die internationale gemeinsame Sicherheit. Bis zum 26. Februar 2022 begründeten Bundesregierungen wie grüne Mehrheiten ihre Ablehnung von Militärhilfe für die seit Jahren kriegerisch bedrohte Ukraine mit „historischer Verantwor-tung“. Ausgeblendet wurde dabei, wie sehr ab 1941 der deutsche Angriffs- und Vernichtungs-krieg gegen die Sowjetunion gerade auf dem Gebiet der Ukraine gewütet hatte. Der Wehrmacht und den Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD fielen acht Millionen Menschen. ein Viertel der Gesamtbevölkerung, davon 5 Mio. Zivilisten, 1,6 Mio. jüdische Menschen zum Opfer. 1945 trug die 1. Ukrainische Front der Roten Armee unter höchsten Opfern (78.000 Gefallene) zur Einnahme Berlins und damit zur Befreiung Europas vom Naziterror bei.

Wo jetzt die Nachkommen der ukrainischen Kriegsgeneration ihre Eigenstaatlichkeit, Freiheit und Selbstbestimmung gegen den russischen Angriff verteidigen und damit das Völkerrecht der nationalen Selbstverteidigung wahrnehmen, stehen die Nachkommen der deutschen Angriffskriegsgeneration in der historischen Verantwortung, im Rahmen der UN-Charta Überlebenshilfe zu leisten – durch Waffenlieferungen, durch humanitäre Hilfe.

In Ländern Mittel- und Osteuropas sind traumatische Kollektiverfahrungen mit jahrzehntelangen Okkupationen regelrecht eingebrannt, Nationale Unabhängigkeit wird dementsprechend hoch geschätzt. Die Schlussfolgerung daraus ist: NIE MEHR WEHRLOS, NIE MEHR ALLEIN  sein zu wollen. In Deutschland, das im Generationenabstand eine ungewöhnliche Erinnerungskultur entwickelte, wird diese historisch begründete Wehrhaftig-keit der von Deutschland überfallenen Nachbarn, eigenartig wenig wahrgenommen. (vgl. W.N.,  „Bericht von der 4. Gedenkreise des Dt. Riga-Komitees“, 02.11.2022, und „Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung“, 10.04.2022,  https://domainhafen.org / )

(6) Notwendig Schritte

(a) Aktualisierte Bedrohungslage: Neben den bisher wahrgenommen Sicherheitsbedrohun-gen ist mit dem Ukrainekrieg die militärische und nichtmilitärische Bedrohung der nationalen Souveränität und territorialen Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten wieder ins Zentrum von Sicherheitspolitik gerückt. Jahrelang ging es primär um die Sicherheit „anderer“ in ferneren Krisengebieten, jetzt geht es vermehrt um „Eigensicherung“. Wo staatliche Unabhängigkeit durch Aggression und Okkupation verletzt wird, kann auch schnell menschliche Sicherheit stranguliert werden. Insofern stehen in einem erweiterten Sicher-heitsbegriff menschliche und staatliche Sicherheit auch nicht gegeneinander („menschliche Sicherheit statt Sicherheit von Staaten“ war bisher eine gängige Formulierung nicht zuletzt im grünen Diskus), sondern gehören zusammen.

Bei der Auftaktveranstaltung zur ersten Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik am 18. März benannte  Außenministerin Baerbock drei essentielle Punkte für die Strategie:

– Die Sicherheit der Unverletzlichkeit unseres Lebens, zuvorderst vor Gewalt und Krieg

– Die Sicherheit unserer Freiheit, der Resilienz unserer Demokratie.

– Die Sicherheit unserer Lebensgrundlagen, der Schutz unserer Umwelt und Ressourcen.´

In der globalisierten Einen Welt muss das einhergehen mit dem fundamentalen Interesse an und der Miterantwortung für internationale regelbasierte Ordnung und kollektive Friedenssicherung.

(b) Neugewichtung von Landes- und Bündnisverteidigung (LBV) im Gesamtaufgaben-spektrum der deutschen Sicherheitspolitik: Internationale Krisenbewältigung und -prävention bleiben weiterhin unverzichtbar, auch wenn Kriseneinsätze zur Stabilisierung und Statebuilding-Unterstützung mit dem strategischen Scheitern in Afghanistan eine enorme Ernüchterung erfahren haben. LBV soll glaubwürdig einen möglichen Aggressor abhalten, abschrecken – also Frieden sichern – oder eine Aggression abwehren – Frieden wiederherstellen / erzwingen können. Möglichst „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“. Dabei lassen sich Cyberattacken nicht abschrecken, sondern nur erschweren und abwehren. Die LBV wird dadurch verkompliziert, dass moderne, hochvernetzte Gesellschaften besonders verwundbar sind und hybride Operationen genau darauf zielen. Ungeschützte Unterseepipelines und Tiefseekabel sind lebenswichtige Arterien  moderner Gesellschaften. Da kommt es besonders auf Schutz kritischer Infrastruktur, Resilienz und auch gesellschaftliche Wehrhaftigkeit an  (vgl. f). Das Verteidigungswerte soll erhalten werden und nicht – wie bei der Atomkriegsplanung zzt. des Ost-West-Konfliktes – bei Versagen der Abschreckung in Selbstzerstörung münden.

Schließlich ist bei der Rückkehr zur LBV das Sicherheitsdilemma zu beachten, wo die Ver-folgung legitimer eigener Sicherheitsinteressen immer wieder zu Destabilisierung (Aufrüstungsspiralen) führen kann. Deshalb ist Rüstungskontrolle ständig mitzudenken und anzustreben.

(c) Identifizierung der Fähigkeitslücken und –bedarfe auf dem Feld einer zukunftsfähigen LBV (vgl.Grüne Positionen im Rahmen der Refokussierung und Wiedererlangung der Bündnis- und Vereidigungsfähigkeit“, das zzt. in der BAG-AG „Bundeswehr beraten wird):

Dass die Bundeswehr seit den 90er Jahren eine beispiellose Abrüstung im Frieden erlebt hat, ist überwiegend unbekannt: Die Zahl der Kampfpanzer ging von 4.500 auf 225 zurück, die Zahl der Kampfflugzeuge von 620 auf 230. Die Artillerietruppe umfasste 42.000 Soldaten in 81 voll ausgestatteten Artilleriebataillonen, heute sind es noch vier mit 3.500 Soldaten Eine Luftverteidigung gibt es nur noch rudimentär. Die heute noch acht Brigaden (je 5.000 Soldaten) des Heeres sind nur zu 70% ausgestattet  und damit nur nach langwieriger Ausrüstungs“fernleihe“, nie aber aus dem Stand einsatzfähig. Die Vollausstattung einer Brigade kostet 3,5 Mrd. Euro.

Im Kontext von NATO und EU hat Deutschland eine herausragende sicherheits- und militärpolitische Bedeutung: Ohne das wirtschaftlich stärkste Land in der Mitte Europas wäre der Bündniszusammenhalt und seine Struktur kollektiver Sicherheit in Europa zerstört. In vielen Kriseneinsätzen ist Deutschland „Anlehnungsmacht“ für kleinere Verbündete, die nur noch über begrenzte militärische Fähigkeiten verfügen.  Die Verbündeten erwarten von Deutschland die Übernahme von mehr Führungsverantwortung. Und schließlich ist Deutschland bei Übungen und Verstärkungen für die NATO-Ostflanke die Drehscheibe für Verlegungen und Logistik.

Wer wie die Kampagne „Sicherheit neu denken“ die vollständige militärische Abrüstung Deutschlands bis 2040 anstrebt, zielt faktisch auf die Auflösung kollektiver Sicherheit in Mittel- und Westeuropa.

(d) Stellenwert von Rüstungskontrolle, Abrüstung und Rüstungsexporten

Rüstungskontrolle ist immer mitzudenken und anzustreben, damit notwendige Ausrüstung nicht in Wettrüsten und Überrüstung mündet, die sicherheits- und friedensgefährdend sind. Ein wichtiges aktuelles Signal dafür ist die Zertifizierung des Airbus A319 OH der Bundeswehr seit dem 24. Oktober im Rahmen des Rüstungskontrollabkommens Offener Himmel (Open Sky). Das 1992 entstandene Abkommen von 32 Vertragsstaaten war ein zentrales Instrument der kooperativen Rüstungskontrolle aus der Luft im OSZE-Raum und förderte über Jahre Transparenz und Vertrauensbildung. Durch den Ausstieg der USA (2020) und Russlands (2021) wurde das Abkommen elementar geschwächt. Am jetzigen Zertifizierungsakt nahmen 25 Vertragsstaaten teil. Die Beobachtungsflüge können auch bei Naturkatastrophen und internationalen Krisensituationen zur Konfliktverhütung und –bewältigung eingesetzt werden.

Abrüstung ist generell schon deshalb anstrebenswert, weil weltweit immense Rüstungs-ausgaben zur Förderung menschlicher Sicherheit fehlen. Sicherheits- und friedenspolitisch kontraproduktiv kann Abrüstung aber werden, wenn sie – über einzelne Schritte der Vertrauensbildung hinaus – umfassend einseitig erfolgt und auf Wehrlosigkeit gegenüber einer aggressiven Macht oder möglichen Bedrohungen hinausläuft.

Rüstungsexporte: Militärgestützte Sicherheitspolitik in Bündnissen kann auf internationale Arbeitsteilung in der Rüstungsproduktion und Rüstungsexporte nicht verzichten. Der Knackpunkt ist, an welche Akteure in welchen Konfliktkontexten Rüstungsgüter (nicht) geliefert werden. Bei innerstaatlichen Konflikten wirken sie nach aller Erfahrung als Brandbeschleuniger. Bei Angriffskriegen können Rüstungslieferungen an die Überfallenen dem Völkerrecht der Selbstverteidigung dienen und deshalb legitim und notwendig sein. Am 26. Februar erkannten das auf letzten Drücker auch die Führung von SPD und Grünen. Ein historisches Beispiel dafür ist das Leih- und Pachtgesetz der USA von 1941, ohne dessen enorme Rüstungslieferungen Großbritannien, die Sowjetunion und andere Alliierte wohl kaum die Kriegswende gegen Nazi-Deutschland geschafft hätten.

Das im Koalitionsvertrag angekündigte Rüstungsexportgesetz ist nichtsdestoweniger weiterhin notwendig.

(e) Stellenwert von Eskalationsvermeidung, von struktureller und operativer (ziviler) Krisenprävention + Friedensförderung:

Eskalationsvermeidung + politischer Dialog sind eine Daueraufgabe auf verschiedenen Ebenen, sind immer mitzudenken und anzustreben, aber kein Allheilmittel in jeder Situation. Vor dem 24. Februar stießen intensive Dialogbemühungen vieler internationaler Spitzenpolitiker bei Präsident Putin an ihre Grenzen. In einer physischen Angriffssituation kann Eskalationsdominanz überlebensnotwendig sein. Zugleich hat die Verhinderung einer Eskalation zum Atomkrieg höchste Priorität – zusammen mit der zwingenden Notwendigkeit, dass atomare Erpressungen nicht üblich und erfolgreich werden dürfen.

Politischer Dialog, Suche nach Verhandlungslösungen bleiben eine Primäraufgabe von Diplomatie. Kommunikationskanäle zu halten (insbesondere auch zwischen militärischen Führungen) und auch Dialogzipfel auszuloten, ist essentiell. Zugleich bleibt die nüchterne Erfahrung, dass Waffenstillstands-, gar Friedensverhandlungen nur Sinn machen, wenn die Ziele der Parteien nicht total antagonistisch sind und Vorteile für die Interessen der Konfliktparteien möglich erscheinen. „Frieden durch Dialog“, so die ernüchternde Erfahrung des westfälischen Friedens, wurde erst möglich, als alle seiten nach jahrzehntelangem Gemetzel und Verheeren erschöpft waren.

(Zivile) Krisenprävention und Friedensförderung: Internationale Sicherheitspolitik beschränkte sich bis in die 1990er Jahre bei innerstaatlichen Konflikten  meist auf (zu) späte, dann oft nur militärische Krisenreaktion. Seit der ersten rot-grünen Koalition ab 1998 entstanden in Deutschland neue Ansätze und Instrumente der operativen und strukturellen Krisenprävention, der – insbesondere auch zivilen – Konfliktbearbeitung (vgl. Aktionsplan 2004, Leitlinien 2017). Das schuf neue Möglichkeiten der Gewaltverhütung und nachhaltigen Friedensförderung. Nach unserem jahrelangen Drängen kündigte der Ampel-Koalitionsver-trag „zivile Planziele“ an, mit deren Hilfe die Instrumente der Krisenprävention planmäßig gestärkt werden sollen (Aufbauplan ZKP), um angesichts gestiegener Anforderungen endlich schneller besser zu werden.

Mit dem Ukrainekrieg traten aber die Grenzen der zivilen Krisenprävention zutage, die bisher  auf innerstaatliche Konflikte fokussiert war. Ihre Maßnahmen können im Ukrainekrieg von unten zu gesellschaftlichem Zusammenhalt, zu Resilienz, zum Umgang mit Traumatisierun gen und zu Verständigungsprozessen beitragen (vgl. Projekte des Zivilen Friedensdienstes). Punktuell kann auch gewaltfreier Protest möglich sein (z.B. anfangs in Cherson). Gegenüber einem Angriffskrieg mit Distanzwaffen gegen Zivilbevölkerung und exzessiver Gewalt sind aber Dialoginitiativen, Mediation, gewaltfreier Widerstand wehr- und aussichtslos. Zur Beendigung des russischen Angriffskrieges können sie zzt. nicht maßgeblich beitragen.

Die Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung ist zur Friedenssicherung in Mittel- und Westeuropa lebensnotwendig. Damit hat sich aber die Bedrohung internationaler und menschlicher Sicherheit durch innerstaatliche Konflikte, fragile und zerfallende Staatlichkeit, Terrornetzwerke ganz und gar nicht erledigt! Im Gegenteil: Diese Konflikte werden durch den Systemkonflikt mit autoritären Mächten eher noch befeuert. Das zeigt sich auf dem Westbalkan, in Mali/Westafrika und vielen anderen Regionen. Vor diesem Hintergrund wäre es friedens- und sicherheitspolitisch äußerst kurzsichtig und kontraproduktiv, wenn jetzt das Politikfeld Krisenprävention, Stabilisierung  und Friedensförderung, ohne das z.B. der MINUSMA-Einsatz in Mali völlig aussichtslos wäre, hintangestellt und vernachlässigt würde! Dafür gibt es leider beunruhigende Indizien.

Im Entwurf des Bundeshaushalts 2023 sanken die AA-Etatposten für Friedenssicherung und Stabilität von 4.07 Mrd. auf 3,43 Mrd. Euro, für Krisenprävention und humanitärer Hilfe von 3 auf 2,52 Mrd. Euro.

Aktualisierung 16.11.: Bei der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses gab es eine erfreuliche Kehrtwende.  Die Etats von AA und BMZ werden je um rund 1 Milliarde Euro erhöht. Der Titel Krisenprävention + Stabilisierung (AA) steigt um 52 Mio. auf 550 Mio. Euro, Abrüstung/Rüstungskontrolle/Nichtverbreitung um 40 Mio., die Reduzierung bei Auswärtiger Kulturpolitik wird voll zurückgenommen. Der BMZ-Titel „Krisenbewältigung und Wiederaufbau“ (BMZ werden ggb. 2022 deutlich erhöht.

Im Unterausschuss „Vereinte Nationen, internationale Organisationen und zivile Krisenprä-vention“ des Auswärtigen Ausschusses dominierten in seinem ersten Jahr UN-Themen. ZKP-Themen spielten offenbar keine nennenswerte Rolle. Ein strukturelles Problem ist, dass praktisch alle Erfahrungsträger:innen in Sachen ZKP nicht mehr Abgeordnete sind oder in anderen Ausschüssen wirken. Neue Abgeordnete sind überreichlich durch die gegenwärtigen Akutkrisen absorbiert.

Der Konsultationsprozess zur Nationalen Sicherheitsstrategie wird von vielen in der ZKP-Community als weniger transparent erlebt als der zu den Leitlinien von 2017. Befürchtungen sind verbreitet, dass Krisenprävention, Stabilisierung und Friedensförderung an Gewicht verlieren könnten. Dass im medialen Diskurs die „Zeitenwende“ überwiegend um die militärische Dimension und Energiesicherheit kreist, befördert diese Befürchtung. Würde sich das bewahrheiten, würde das dem so sehr betonten umfassenden Sicherheitsbegriff völlig zuwiderlaufen und die friedens- wie sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit gerade einer Regierungskoalition, deren SPD- und Grünen-Teile dieses Politikfeld im Bundestag initiiert und vorangebracht haben, massiv beschädigen. Das darf nicht geschehen! (Anm.: Mit Helmut Königshaus, dem späteren Wehrbeauftragten, und Joachim Spatz, Vorsitzender des neuen Unterausschusses Zivile Krisenprävention ab 2010, haben sich auch FDP-Kollegen um die Förderung des Politikfeldes verdient gemacht)

(f) Resilienz und „wehrhafter Frieden“: Alle Wiederherstellung militärischer Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit bleibt blank, wenn sie nicht mit gesamtstaatlicher und gesellschaftlicher Resilienz und Wehrhaftigkeit einhergeht. Das knüpft an die „Gesamt-verteidigung“ aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation an und geht zugleich über sie hinaus: Damals ging es um die gesellschaftliche Unterstützung der militärischen Verteidigung durch Zivilschutz und Sicherstellungsmaßnahmen an der Zentralfront zwischen NATO und Warschauer Pakt.. Heutzutage geht es um die Abwehr eines breiten Spektrums an Angriffsmethoden gegen eine differenzierte Gesellschaft mit weniger Zusammenhalt. Von einer notwendigen Resilienz sind in Deutschland Staat und die Gesellschaft weit entfernt. Beide sind ausgesprochen verwundbar und noch viel weniger verteidigungsfähig als die Bundeswehr. Das gilt schon für den Fall einer akuten Bündnisverteidigung im Baltikum. Ein militärischer Angriff Russlands wird – als Verletzung des NATO-Gebiets – wohl für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Nur eine Minderheit würde nach Umfragen deutschen militärischen Beistand für ein angegriffenes Baltikum mittragen. Mit anderen Worten: Das Beistandsversprechen der Bundesregierung wird bisher gesellschaftlich dementiert.

(g) Friedens- und sicherheitspolitische Kommunikation, Krisenkommunikation: Das sicherheitspolitische Stimmungsbild hat sich deutlich zugunsten von Wehrhaftigkeit verschoben. (vgl. Bevölkerungsbefragung 2022 des ZMSBw,  https://zms.bundeswehr.de/de/zeitenwende-im-verteidigungspolitischen-meinungsbild-5497508 ) Nichtsdestoweniger sind hier besonders gefährliche Schwächen zu beobachten, begünstigt durch den revolutionären Strukturwandel der öffentlichen-privaten Kommunika-tion. Russische Propaganda wirkt über soziale Medien und zahllose Multiplikatoren in die Tiefe demokratischer Gesellschaften, begünstigt durch die viel höhere Verbreitungsgeschwin-digkeit und Reichweite von Fake-News, Hass- und Verwirrungsbotschaften etc. im Vergleich zu differenzierten Sachdarstellungen. An rechten und verschwörungsideologische Telegramgruppen gibt es allein 20 mit über 100.000 Mitgliedern – von links keine. (taz 08.10.2022, https://taz.de/Zur-gegenwaertigen-Schwaeche-der-Linken/!5884269/ )

Ein demokratischer Rechtstaat darf darauf nicht mit Gegenpropaganda antworten. Bei aller Informations- und Öffentlichkeitsarbeit, die Ressorts und sicherheitspolitische Akteure, Verbände etc. betreiben, scheint eine Gegeninformation, die individuell, flexibel und schnell im Netz einordnet, erklärt und gegenhält, noch ziemlich schwach zu sein.

Ein weiterer Aspekt ist die Krisenwahrnehmung und –„verarbeitung“: Seit Corona, Ukraine-krieg und zunehmenden  Klimafolgenkatastrophen haben wir es mit einer Häufung von dynamischen Großkrisen und Ungewissheiten zu tun, die nicht mehr „nur“ ferne Krisen-regionen, sondern zunehmend auch unsere Gesellschaften betreffen, bedrohen und die sich nicht wie ein Unwetter wieder verziehen werden. Befördert durch den medialen Bad-News-Mechanismus macht das begründet Angst. Es überfordert, fördert Ohnmacht und Entpolitisierung, wird zum Einfallstor für Angstschüren von Populisten und Extremisten.

Das kann man politisch-psychisch nur durchstehen, wenn Erfolge am Boden, Hoffnungs-funken und -inseln, Mutmacher, Chancen wahrgenommen und sichtbar gemacht werden.

Von denen gibt es viel mehr, als gemeinhin bekannt ist. Neben Bedrohungsanalysen braucht es auch deshalb dringend systematische Chancenanalysen und –kommunikation.

  1. h) Nationale Sicherheitsstrategie: Was seit vielen Jahren in der sicherheitspolitischen Community und von Praktikern der Kriseneinsätze immer wieder gefordert und von verschiedenen Bundesregierungen abgelehnt wurde, brachte die Ampelkoalition auf den Weg: eine erste deutsche Nationale Sicherheitsstrategie.

Erstmalig werden in ihr – so der Anspruch – die verschiedenen Dimensionen eines umfassenden Sicherheitsbegriffs – hoffentlich ausgewogen – durchbuchstabiert. Sie muss Orientierung geben in einem Umfeld sich häufender, multipler und dynamischer Großkrisen mit erheblichen Ungewissheiten.

Auch wenn die Pegel der Unfriedlichkeit weltweit steigen und die Nährböden von Gewaltkonflikten wuchern. darf über die lebensnotwendige Sicherheit VOR nicht der Frieden MIT an den Rand geraten. Gerade wo das friedliche Zusammenleben der Staaten und Völker unter Feuer steht, gelten der Friedensauftrag von UN-Charta und Grundgesetz, das Friedensleitbild der Leitlinien „Krisen verhindern, Frieden fördern“ der Bundesregierung von 2017 weiterhin. Frieden bleibt Staatsziel, auch wenn er durch solche diskreditiert wird, die bedingungslosen Frieden predigen und unausgesprochen auf negativen Frieden durch Kapitulation und Wehrlosigkeit gegenüber Angreifern und Völkerrechtsverbrechern drängen.

Eine Grunderfahrung der deutschen Beteiligung an internationalen Kriseneinsätzen der letzten 25 Jahre war: Es fehlten ein Ort der strategischen Entscheidungsfindung und Führung und verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen staatlichen Akteuren. Bloße Vernetzung reichte nicht aus. Dieser Mangel verstärkt sich heutzutage angesichts sich häufender dynamischer Großkrisen, die nicht nacheinander „abgearbeitet“ werden können, sondern gleichzeitig bearbeitet werden müssen. (Krisen-Multitasking)

Soll die Nationale Sicherheitsstrategie nicht ein bloßes Grundlagenpapier bleiben, sondern einen Schub zur Leistungssteigerung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik erbringen, dann muss sie auch die Weiterentwicklung ihres Unterbaus anstoßen.

Weitere Beiträge zum Thema (Auswahl)

Widerworte zur Antikriegstagsrede von Margot Käßmann am 1. September 2022 in der Erlöserkirche in Münster („Nein zum Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen!“), https://domainhafen.org/2022/09/06/widerworte-zur-antikriegstagsrede-von-margot-kaessmann-in-muenster/

Zwei Kriege in der Ukraine – vor 80 Jahren und heute zwischen Charkiw und Donesk (mit Münsterbezug), 22.06.2022. https://domainhafen.org/2022/06/22/zum-22-juni-zwei-kriege-in-der-ukraine-vor-80-jahren-und-heute-zwischen-charkiw-und-donezk/

Stellungnahme zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, Empfehlungen des Beirats der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung (Mitarbeit in der Schreibgruppe des Beirats), Mai 2022, https://beirat-zivile-krisenpraevention.org/neuigkeit/stellungnahme-des-beirats-zum-russischen-angriffskrieg-gegen-die-ukraine/

Zwischen Geschichtsvergessenheit und historischer Verantwortung – Deutscher Vernichtungskrieg in der Ukraine 1941-43 und russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt, 11.04.2022, https://domainhafen.org/2022/04/10/zwischen-geschichtsvergessenheit-und-historischer-verantwortung-der-deutsche-vernichtungskrieg-in-der-ukraine-1941-43/

Waffenlieferungen an die Ukraine: Überlebenshilfe, 26.02.2022, Stellungnahme vor der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar, übersandt an Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck, https://domainhafen.org/2022/02/27/waffenlieferungen-an-die-angegriffene-ukraine-ueberlebenshilfe/

Rede bei der Kundgebung „Für Frieden und gegen die russische Aggression in der Ukraine“ am 25.02.2022 vor dem Historischen Rathaus in Münster, https://domainhafen.org/2022/02/25/166/

 

[1] MdB 1004-2009. Beirat Zivile Krisenprävention + Friedensförderung der Bundesregierung, Beirat Innere Führung / BMVg, Präsidium DGVN, Sachverständiger Enquete-Kommission Afghanistan des Bundestages, BAG Frieden & Internationales von Bündnis 90/Die Grünen

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