„Manifest für Frieden“ von Schwarzer + Wagenknecht: Solidaritätsverweigerung gegenüber Überfallenen. Mein Kommentar

Frieden in der Ukraine durch Waffenstillstand, Friedensverhandlungen, Einstellung der Waffenlieferungen?

Solidaritätsverweigerung gegenüber Überfallenen – zum „Manifest für Frieden“ von Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht, 69 Erstunterzeichner:innen und rund 600.000 Unterzeichner:innen

Winfried Nachtwei[1] (23.02.2023)

Vorab zur Klarstellung

(a) Friedenssehnsucht ist notwendig und ein zivilisatorischer Fortschritt, sollte aber nicht bei Friedenswünschen stehen bleiben. Solche verpuffen. Für wirksame Friedensarbeit und -politik braucht es

– einen klaren Orientierungsrahmen, der grundlegend mit der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie mit dem Grundgesetz vorliegt: Es muss immer um Frieden durch Recht und Solidarität gehen;

– Erfahrungslernen zu Krieg und Frieden nicht nur aus deutscher, sondern auch aus der Perspektive der Nachbarn und des globalen Südens;

– Verträge und Strukturen gemeinsamer und kollektiver Sicherheit;

– Fähigkeiten und Kapazitäten der Krisenprävention und der gemeinsamen Friedenssicherung zum Schutz vor illegaler Gewalt und Bedrohungen von internationaler Sicherheit und Weltfrieden;

– Friedenskompetenz, Fachleute und Investitionen;

– Wachheit, Klar- und Weitsicht und selbstkritische Ehrlichkeit: Nüchterne Wahrnehmung von Friedensbedrohungen jenseits von Dämonisierungen und Feindbilddenken einerseits und Verdrängungen und Wunschdenken andererseits; Bereitschaft und Fähigkeit, eigene schädliche Wirkungen zu erkennen und anzugehen.

(b) Bei allen historischen Parallelen, die sich bei dem ersten Angriffskrieg in Europa seit den deutschen Überfällen auf die europäischen Nachbarn seit 1939 ff. aufdrängen, ist ein Unterschied fundamental: Die Atombewaffnung beider Seiten und damit bei einer kriegerischen Konfrontation zwischen Russland und der NATO das Risiko der totalen Selbstvernichtung. Deshalb muss eine horizontale militärische Eskalation des Ukrainekrieges unbedingt verhindert werden. Darauf scheint man bisher bei der direkten Kommunikation zwischen Washington und Moskau sehr zu achten.

(c) Verantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik, die Frieden sichern und wiederstellen will, muss immer sondieren und ausloten, wo es Kontakte, Gesprächskanäle, Interessenüber-schneidungen, Verhandlungs- und Verständigungsmöglichkeiten gibt und geben könnte, oft erst außerhalb des Kernkonflikts (jetzt mit Gefangenaustausch und Getreideabkommen). Das geschieht in der Regel aber nicht auf offener Bühne, sondern hinter den Kulissen. Nach aller Konflikt- und Kriegserfahrung laufen kriegerische Auseinandersetzungen und Verhandlungs-prozesse lange Zeit parallel, stehen Waffenstillstände – außer befristete z.B. zu Feiertagen – nicht am Anfang, sondern am Ende einer ersten Verhandlungsphase. Deshalb stehen sich diplomatische Bemühungen in Richtung Verhandlungsansätzen und Verteidigungshilfen keineswegs alternativ gegenüber, sondern können sich ergänzen. Die bilateralen Verhandlungen zwischen der Trump-Administration und den Taliban waren ein Muster-beispiel dafür, wie eine Seite solche Verhandlungen total vergeigen und die andere Seite strategisch siegen kann – sogar gegen eine Atommacht.

(d) Zielklarheit bei der deutschen Unterstützung der überfallenen Ukraine, wo es auf den Inhalt und nicht das Etikett („nicht verlieren“, „siegen“) ankommt: Entscheidend ist, dass die Ukraine ihr staatliches Überleben sichern, territoriale Unversehrtheit soweit wie möglich wiederherstellen und nachhaltig (international) sichern kann. Aggressionen, die mit Grund-prinzipien der UN-Charta brechen, dürfen sich nicht lohnen und ermutigt werden.

Frühere Parlamentsdebatten um Auslandseinsätze in Konfliktregionen krankten daran, dass gegenüber dem dominierenden Rechtfertigungsdiskus der Wirkungsdiskurs viel zu kurz kam. Notwendige Hilfen zur Selbstverteidigung, also Waffenlieferungen müssen immer mit sorgfältiger Wirkungsabschätzung (auch ungewollter Nebenwirkungen und „Rutsch-gefahren“) einhergehen. Da gehören Besonnenheit und Entschlossenheit zusammen.

Zum Manifest

(1) Die Art der Formulierungen, insbesondere die acht Fragen stellen Fragestellungen in den Raum und sprechen Gefühle an, die viele Menschen umtreiben, Raum für Interpreta-tionen lassen und in viele Richtungen anschlussfähig machen – bis zu der berechtigten Unzufriedenheit mit einem medialen Ukrainediskus, wo es fast nur um Waffenlieferungen und kaum um Wege zum Frieden zu gehen scheint. Das war vor einer Woche bei „Maischberger“ zu beobachten, wo Katrin Göring-Eckart und Franz Alt als Manifest-Erstun-terzeichner zusammentrafen aber gar nicht so weit auseinander lagen. Deshalb Vorsicht vor einer pauschalisierenden Wahrnehmungen der Unterzeichner:innen.

(2) Ohne friedenspolitische Kernforderung: Das „Manifest für Frieden“ vermeidet zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgerechnet die friedenspolitische Kernforderung nach Rückzug der russischen Angreifer aus der Ukraine – im Unterschied zu vielen Organisationen und Gruppen der traditionellen Friedensbewegung. Das ist schon ein Kniefall vor dem Aggressor Putin.

(3) Verharmlosung und Relativierung des russischen Angriffskrieges: Die Rede ist von der „von Russland brutal überfallenen ukrainischen Bevölkerung“. Der Angriff war und ist aber kein „brutale Überfall“ wie viele andere. Er zielt auf die Vernichtung ukrainischer Staatlichkeit und Kultur, auf die Einverleibung der Ukraine in ein angestrebtes Großrussland, damit auf die gewaltsame Änderung von Grenzen und ist damit ein Verstoß gegen ein fundamentales Grundprinzip des Völkerrechts. Das geschieht seit 1939 ff. in Europa zum ersten Mal wieder.

Der Angriffskrieg wird geführt mit Distanzwaffen, mit systematischer Terrorisierung, Vergewaltigung und Strangulierung von Zivilbevölkerung und ihrer Vertreibung – und dem hemmungslosen „Verfeuern“ eigener Soldatenleben, mit der Androhung einer atomaren Eskalation.

Schwarzer und Wagenknecht fragen, „was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel des Krieges?“ Die Frage tut naiv. Die Ziele des russischen Aggressors sind von Putin vielfach öffentlich genannt – bis zur Wiederherstellung eines Großrussischen Imperiums mindestens in den Grenzen der Sowjetunion. Auf ukrainischer Seite ist das Überleben als Staat, als Demokratie und die Wiederherstellung der territorialen Integrität das Ziel.

Relativiert wird der Angriffskrieg, indem Putin kein Mal mit seinen besonderen „Leistungen“ benannt wird – Völkerrechtsverbrechen, imperialistische Agenda, brutale Diktatur, Lügenpropaganda -, dafür aber Außenministerin Baerbock und Präsident Selenskyj in die Nähe von Kriegstreibern gerückt werden.

Die Verharmlosung des Angriffskrieges, die völlige Schonung des Hauptkriegsverbrechers Putin sind Türöffner sondergleichen nach Rechtsaußen und „Querfront“.

(4) Geheuchelte Solidarität: Schwarzer und Wagenknecht schreiben, die „ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch?“ Vielleicht sollte man da einfach mal bei den ukrainischen Flüchtlingen, bei den Vertriebenen, Ausgebombten, Hinterbliebenen nachfragen.

Wo ein Volk mit Vernichtungsabsicht überfallen und terrorisiert wird, wo die Überfallenen ihr Völkerrecht auf Selbstverteidigung wahrnehmen, da liegt doch auf der Hand, was da solidarisch ist: humanitäre, finanzielle, wirtschaftliche und militärische Überlebenshilfe, Beistand zur Selbstverteidigung durch Waffenlieferungen. Laut Caritas International sind in der Ukraine 17,7 Millionen Menschen dringend auf Hilfe angewiesen. Was gibt es da zu fragen, was jetzt solidarisch ist!

Schwarzer und Wagenknecht stehen ausdrücklich für Einstellung der Waffenlieferungen. Das heißt im Klartext für die schnelle Schwächung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit und damit für den ungehinderten russischen Vormarsch. Hätte es vor dem 24. Februar 2022 keine Waffenlieferungen seitens der USA und Großbritanniens gegeben, gäbe es heute keine selbständige Ukraine mehr. Im Manifest ist es scheinbar zurückhaltender formuliert mit Stopp der „Eskalation der Waffenlieferungen“, d.h. von Panzerlieferungen in einigen Monaten, von Munitionslieferungen… Damit würde der Ukraine die Möglichkeit genommen, besetzte Gebiete zurückzugewinnen, und die russische Offensivfähigkeit begünstigt.

(5) Mit Völkerrechtsverbrechern verhandeln? Im Manifest heißt es „Verhandeln heißt nicht kapitulieren, sondern Kompromisse machen“.

Für bestimmte Konfliktkonstellationen stimmt das. Bei vielen konkurrierenden Interessenkonflikten auf allen Ebenen, von Beziehungskonflikten bis zu zwischenstaatlichen Konflikten. Deshalb verpflichtet die UN-Charta alle ihre Mitglieder zur friedlichen Streitbeilegung.  (Art. 2 und Kapitel VI mit Maßnahmen) Aber die Aussage stimmt – auch nach aller Lebenserfahrung – nicht für jede Konfliktkonstellation, nicht, wenn Rechtsbrecher, Gewalttäter, Aggressoren und Opfer klar unterscheidbar sind. Dann geht es um Rechtsdurchsetzung mit rechtserhaltender Gewalt. Die UN-Charta hat dazu das Kapitel VII „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“.

Das besondere Problem beim russischen Angriffskrieg, der eindeutig gegen Art. 2, 4 der UN-Charta verstößt, ist, dass die UN-Veto-Macht Russland alle entsprechenden Maßnahmen blockiert.

Zur russischen Kriegführung in der Ukraine gehört das systematische Terrorisieren von Zivilbevölkerung, eischließlich Vergewaltigung als Kriegswaffe, Entführungen und Massenvertreibungen.

Frau Schwarzer, seit wann empfehlen Sie, mit Vergewaltigern zu verhandeln und Kompromisse zu machen?

Mir ist bewusst, dass bei Friedensverhandlungen auch immer wieder mit Kriegsverbrechern verhandelt werden muss.

Aber warum verzichten Frau Schwarzer und Frau Wagenknecht sogar darauf, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu fordern?

(6) Nur die Bundesregierung erreichbar? Das man „nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken“ könne, stimmt in einer globalisierten Medienöffentlichkeit und im Kontext von Informationskriegführung ganz und gar nicht. Ob das Manifest im Washington wahrgenommen wird, ist zu bezweifeln. Bei europäischen Nachbarn insbesondere im Osten könnte es sehr wohl wirken – eher verunsichernd – und bei der russischen Botschaft sicher ermutigend. Vor allem wenn sich am Samstag in Berlin fortsetzt, was sich vor einer Woche in München zeigte: das Anwachsen einer „Friedens“-Querfront mit einem hohen Anteil von Rechtsextremen und Querdenkerszene.

(7) Geschichtsvergessenheit: Das Manifest steht für Solidaritätsverweigerung gegenüber einer Bevölkerung, deren Vorfahren ab 1941 einen beispiellosen Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, von Einsatzgruppen und Polizeibataillonen durchleiden mussten. Acht Millionen Menschen, davon fünf Millionen Zivilisten, 1.6 Millionen jüdische Menschen wurden dabei getötet und ermordet, ein Viertel der Bevölkerung. (vgl. „Bloodlands Ukraine und deutsche historische Verantwortung“, 20.02.2023, auf www.domainhafen.org der vorige Text) Bei den Generationen in der Ukraine hat sich eingebrannt, was Okkupation bedeutet. In ihr kamen mehr Menschen um`s Leben als bei den Kampfhandlungen! Deshalb wollen die Menschen in der Ukraine – wie in vielen anderen von Nazi-Deutschland überfallenen Ländern – nie mehr wehrlos und nie mehr allein sein. Wer eine besondere historische Verantwortung Deutschlands anerkennt, müsste diese Jahre der deutsch-ukrainischen Geschichte beachten.

Für Frau Schwarzer und Frau Wagenknecht ist der einmütige Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung bei der Wahrnehmung des Völkerrechts der Selbstverteidigung nicht der Rede wert. Im Manifest und den Stellungnahmen seiner Initiatorinnen ist nichts zu spüren von Empathie gegenüber einem Volk mit einer solchen, von Deutschland verursachten Leidensgeschichte, nichts zu spüren von der linken Tradition einer internationalen Solidarität mit Angegriffenen, Verfolgten, Unterdrückten, nichts von einer feministischen Solidarität mit Vergewaltigten.

Das Manifest läuft auf Appeasement nicht vor, sondern mitten im Angriffskrieg hinaus.

WEM NUTZT DAS?

 

[1] Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention + Friedensförderung der Bundesregierung, im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen/DGVN, MdB 1994-2009, Mitinitiator des Deutschen Riga Komitees (Erinnerungsnetzwerk für die 1941/42 nach Riga deportierten jüdischen Nachbarn von nebenan), in der Bundesarbeits-gemeinschaft Frieden & Internationales von Bündnis 90/Die Grünen

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