Minister Pistorius verleiht Preis „Bundeswehr und Gesellschaft“ – unter den vier Preisträgern erstmalig ein Grüner (ich)

Zum 9. Mal wurde der Preis verliegen, jetzt an die Stadt Freyung, das Axensprung Theater, den Solidaritätslauf e.V. und mich.

Minister Pistorius verleiht den Preis Bundeswehr und Gesellschaft –  unter den Preisträgern erstmalig ein Grüner (ich), Winfried Nachtwei, MdB a.D. (04.11.2023)(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Soldatinnen und Soldaten, die die Menschen in Deutschland vor bewaffneten Angriffen von außen schützen und Staatsbürger in Uniform sein sollen, brauchen die Einbindung in die Gesellschaft und ihren Rückhalt. Das gilt besonders, seitdem die Bundeswehr wegen stark gesunkener Personalstärke, der Aussetzung der Wehrpflicht und den vielen Auslandseinsätzen im Alltag eines Großteils der Bevölkerung kaum noch sichtbar und erfahrbar ist. Vor diesem Hintergrund sind Bemühungen, Kontakte, Austausch und Verständnis zwischen ziviler Gesellschaft und der Bundeswehr zu fördern, von fundamentaler sicherheits- und demokratiepolitischer Bedeutung.

Am 2. November 2023 fand zum inzwischen neunten Mal die Verleihung des Preises Bundeswehr und Gesellschaft durch den Bundesminister der Verteidigung statt. Der Preis würdigt Einzelpersonen und Institutionen, die sich in besonderem Maße für die Belange der Bundeswehr, ihrer Angehörigen und ihre Einbindung in die Gesellschaft einsetzen.

Verteidigungsminister Boris Pistorius verlieh zusammen mit dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Dr. Gerd Landsberg, im Stauffenberg-Saal des Bendler-Blocks vor rund 70 geladenen Gästen den Preis in vier Kategorien:

– in der Kategorie Gebietskörperschaften der Stadt Freyung in Bayern

– in der Kategorie Bildung und Kultur dem Axensprung Theater Hamburg

– in der Kategorie Einzelpersonen Winfried Nachtwei

– in der Kategorie Vereine dem Solidaritätslauf e.V. an der Bundeswehr-Uni in Hamburg.

Nach der Laudatio von Minister Pistorius bzw. Dr. Landsberg erhielten die Preisträger jeweils neben einer Urkunde eine Würfel-Skulptur der Künstlerinnen Anja Lapatsch und Annika Unger (Berlin) überreicht, bestehend aus drei sich ergänzenden Teilen aus Eiche (die Zivilgesellschaft symbolisierend), keramisches Gussmittel (Personen, die sich für die Bundeswehr einsetzen) und Messing (Bundeswehr). Ein Preisgeld von 2.500 Euro bekräftigt die Auszeichnung.

Anschließend wurde im Atrium des Gästekasinos die Invictus Games Mannschaft Deutschland geehrt. Die Invictus Games Foundation wurde mit dem Sonderpreis „Bundeswehr und Gesellschaft“ ausgezeichnet.

Bericht: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/preis-bundeswehr-und-gesellschaft-dokumentiert-engagements-5697046 ; Pressemitteilung https://www.bmvg.de/de/presse/verleihung-des-preises-bundeswehr-und-gesellschaft-2023-5698648 ;  Artikel auf der Seite des Deutschen Bundeswehrverbandes https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/blickpunkt/beitrag/verteidigungsminister-verleiht-preis-bundeswehr-und-gesellschaft

Ich erlebte die Auszeichnung in diesem Rahmen als eine mehrfache und ganz besondere Freude und Ehre. In einer Reihe durfte ich stehen mit Preisträgergruppen, die sich in ihren jeweiligen Welten ganz besonders für die Menschen in der Bundeswehr in der Gesellschaft einsetzen:

– Die Stadt Freyung im Bayerischen Wald mit ihren vielfältigen Unterstützungen, Solidaritätsaktionen und praktizierter Wertschätzung für die Truppe vor Ort, ihre Verwundeten und Veteranen.

– Der von Studierenden und Offizieren der Bundeswehr-Uni (Helmut-Schmidt-Universität) in Hamburg nach dem Karfreitagsgefecht 2011 gegründete Verein für den jährlichen „Solidaritätslauf“, wo sämtliche Startgelder, Erlöse und Spenden an Organisationen gehen, die sich um die Versorgung versehrter Soldatinnen und Soldaten und Einsatzkräfte von Polizei und Hilfsorganisationen sowie Hinterbliebener von Gefallenen kümmern. Beim 11. Solidaritätslauf über verschiedene Distanzen am 1. Juni kamen über 30.000 Euro Spenden zusammen. ( https://www.solidaritaetslauf-hamburg.de/Startseite/ )

– Das Axensprung Theater war mir erstmalig Ende 2016 begegnet – mit seinem Stück „Kampfeinsatz – Stell Dir vor, es ist Krieg und Du gehst hin“. Eine hoch-intensive Szenen-Collage um Kriegsteilnehmer und –rückkehrer heute, unterlegt mit Videos, Zitaten von Kriegsheimkehrern, Philosophen und Politikern. Die Geschichte, die Erlebnisse, die Konflikte, die Dialoge, das Hin- und Hergerissene – es stimmt voll und ganz. (…) Das vierköpfige Ensemble bewegt die Zuschauer zutiefst und öffnet zugleich für die verschiedenen Erfahrungen, Perspektiven, Positionen. Es wirft Fragen auf, stößt Nachdenken und Austausch an, statt fertige Antworten zu geben und übliche Spiralen der Selbstbestäti-gung zu bedienen. Das war in der anschließenden Gesprächsrunde deutlich zu spüren.“ (Unter http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=81&aid=1448 meine vollständige „Besprechung“. (Das Wiedersehen mit dem Gründer Oliver Herrmann und seinen Teamkolleg:innen ist eine besonders herzliche Freude. https://www.axensprung-theater.de/ )

– Die Invictus Games Mannschaft Deutschland, den Wettkämpfern der ganz besonderen Art, mit ihren Unterstützern; die Invictus Games Foundation, die diese einzigartigen und unvergesslichen Spiele ermöglichte.

– Schließlich die Ehrung durch einen Minister, der nach längerer ministerieller Dürrezeit ein sicherheitspolitischer Chancenträger ist und auf andere Art die gute Tradition eines Peter Struck fortsetzen könnte.

Die Laudatio des Ministers in der Kategorie Einzelpersonen: Winfried Nachtwei]

(auf den Bildschirmen ich 2008 „im Einsatz“ mit Schreibblock und Kuli auf der Platte bei Kunduz neben drei deutschen ISAF-Soldaten)

„Der ehemalige Lehrer und Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei begleitet die Bundeswehr, ihre Soldatinnen und Soldaten und deren Einsätze seit Jahrzehnten. In Ihrer Zeit im Bundestag und als sicherheitspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen waren Sie an über 70 Mandatsentscheidungen beteiligt.

Die Themen, die Sie schon seit Jahrzehnten behandeln und begleiten, sind vielfältig: Von Abrüstung und ziviler Friedensförderung bis zu Erinnerungsarbeit.

Sie haben mehr als 40 Krisenregionen besucht und zahlreiche Reiseberichte veröffentlicht. Allein aus Afghanistan gibt es 20 Berichte von Ihnen, in denen Sie detailliert Ihre Eindrücke schildern.

Sie berichten aus der Überzeugung heraus, dass die Einsätze der Bundeswehr nicht nur die Politikerinnen und Politiker, sondern alle etwas angehen. Diese Reiseberichte sind von unschätzbarem Wert und Wissen, was frei verfügbar ist. Viele Menschen lesen sie und erhalten so wertvolle Einblicke in unsere Auslandseinsätze.

Mit Ihrer Arbeit tragen Sie dazu bei, dass die Bundeswehr und ihre Angehörigen in der Gesellschaft sichtbarer werden.

Dafür und für Ihr langjähriges großes Engagement zum Wohle der Bundeswehr, unter anderem als Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung, im Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung und im Vorstand des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie, möchte ich Ihnen danken.

Und dafür erhalten Sie den Preis Bundeswehr und Gesellschaft.“

Wenn ich vor Vorträgen mit Lobesworten zu meiner Arbeit begrüßt werde, bin ich immer völlig cool. Die kompakte Laudatio heute bewegt mich ungewöhnlich tief. Mein Berichtswesen, vor allem meine Reiseberichte waren nie spektakulär, wurden nur selten zu wissenschaftlich lizensierten Beiträgen. Ich bekam wohl immer wieder von Einsatzkundigen, -interessierten und -verantwortlichen zurückgespiegelt, dass die Berichte wohl eine einmalige Quelle waren. Aber die heutigen Worte des Ministers empfinde ich als Volltreffer an Wertschätzung.

Als ich erfahre, dass der Deutsche Bundeswehrverband, in dem mehr als 200.000 Bundeswehrangehörige zusammengeschlossen sind, mich für den Preis vorgeschlagen hat und dass ich unter 36 Vorschlägen ausgewählt wurde, steigert das nochmal meine Dankbarkeit.

(Die besondere Betonung meiner Reiseberichte erinnert mich an einem Kommentar von Thomas Wiegold auf seinem sicherheitspolitischen Blog „Augen geradeaus“ am 14.10.2009 zu meinem letzten Afghanistan-Reisebericht als Abgeordneter:  „Nachtweis stilechter Abschied (…) Und mit seinen regelmäßigen Berichten aus Afghanistan hat er Abgeordneten aller Fraktionen, uns Journalisten und, ich vermute, selbst manchen Ministerialen mehr Informationen vermitteln können als die Zeitungsberichte, offiziellen Unterrichtungen des Parlaments und sonstigen Papiere zusammengenommen. Aber natürlich verabschiedet sich Nachtwei stilecht: Mit einem Bericht von seiner letzten Abgeordnetenreise nach Kabul, Mazar-e Sharif und Feyzabad. Und da steht wieder mehr drin, als man anderswo in den letzten Monaten zusammengenommen lesen konnte. (…)“ Der Bericht unter http://www.nachtwei.de/downloads/bericht/reise_afghanistan_sept-2009.pdf )

Wie sich Zeiten ändern

Vor 40, vor 30 Jahren wäre für mich eine solche Auszeichnung undenkbar gewesen. Vor 40 Jahren stand ich als Aktivist der damaligen Friedensbewegung auf der anderen Seite des Zauns. Oder wir saßen aus triftigen Gründen vor Atomwaffenlagern und dem I. Korps der Bundeswehr in Münster.

Vor 30 Jahren beurteilte unsereins die aufkommenden Auslandseinsätze als „Militarisierung von Außenpolitik“. Aber dann machten Schlüsselerfahrungen ein Umdenken unausweichlich:

– Der Besuch 1996 im kriegszerstörten Bosnien am Hang über Sarajevo, das mehr als drei Jahre belagert und beschossen worden war mit mehr als 10.000, vor allem zivilen Opfern. Die Erkenntnis, dass es Situationen gibt, wo zum Schutz von Zivilbevölkerung vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann. Dann der politische Wille, angesichts der Gewalteskalation im Kosovo ein „zweites Bosnien“ unbedingt zu verhindern. Parallel zur militärischen Komponente von Schutzverantwortung trug ich dazu bei, neue Ansätze und Instrumente der zivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung auf den Weg zu bringen.

– Der Terrorangriff des 11. September 2001, der ein unberechenbares Bedrohungspotenzial für internationale, europäische und deutsche Sicherheit offenbarte und wo Bundestagsabgeordnete einer Regierungskoalition in Mitverantwortung standen für den Schutz der eigenen Bevölkerung und die kollektive Sicherheit.

– Die genaue Beobachtung von zivil-militärischen Einsätzen auf dem Balkan, in Afghanistan (Devise „Genauer Hinsehen“) und anderswo, die erneute Kriegsgewalt verhindern, stabilisierend wirken und Frieden fördern sollten. Die zwiespältige Erfahrung mit diesen Einsätzen: Einerseits mit den aus Deutschland entsandten starken Frauen und Männern von Bundeswehr, Auswärtigem Amt, Entwicklungszusammenarbeit, Polizei und Hilfs-organisationen, wo zahllose Begegnungen mit Bundeswehrsoldaten und -offizieren frühere Skepsis in hohe Wertschätzung verwandelte, wo ihre Professionalität, Entschlossenheit, Besonnenheit überzeugend waren. Andererseits die politische Beauftragung und Führung der Einsätze, wo es vor allem im Fall Afghanistan an Auftragsklarheit, Realitätsnähe, Wirkungsorientierung und Ehrlichkeit mangelte und eine Wirksamkeitsevaluierung erst auf den Weg gebracht wurde, als der größte, teuerste und opferreichste deutsche Kriseneinsatz strategisch gescheitert war. So wurde die Verbundenheit mit den von uns Parlamentariern Entsandten, insbesondere den Einsatzgeschädigten, und den kriegsgeplagten Menschen in Afghanistan zum treibenden Motiv meines andauernden Afghanistanengagements.

– Der Realitätsschock des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, ihre Zivilbevölkerung und eigenstaatliche Existenz, gegen die europäische Friedensordnung und die VN-Charta: Er relativierte und erschütterte friedenspolitische Grundorientierungen und Positionen, die vor allem in den 1980er Jahren verbreitet waren und seitdem Einstellungen großer Teile der deutschen Gesellschaft und Politik prägten. Widerlegt wurden Bedrohungswahrnehmungen, die das Risiko zwischenstaatlicher Aggressionen, gar Kriege in Europa praktisch ausschlossen. Widerlegt wurden Einstellungen, Frieden durch Dialog, Abrüstung sichern und auf Abschreckung generell verzichten zu können. Jetzt ist unübersehbar, dass nicht nur Demokratie, sondern auch Frieden wehrhaft sein muss, dass glaubwürdige kollektive Verteidigungsfähigkeit, Resilienz und Abschreckung neben Dialog, friedlichem Interessenausgleich und Bemühen um Rüstungskontrolle eine tragende Säule von Friedenssicherung in Europa sein müssen.

Viele Umbrüche der letzten Jahrzehnte machten viel ernüchterndes, aber auch ermutigendes Erfahrungslernen und Neuorientierungen unumgänglich.

Zu den ermutigenden Erfahrungen gehört, dass es heutzutage mit der Bundeswehr so viele rechtsstaats- und friedensorientierte Soldaten gibt wie bei weitem nie zuvor in der deutschen Geschichte. Eine wehrhaft demokratische Gesellschaft ist auf eine Bundeswehr  i n  der Gesellschaft – wahrgenommen, wertgeschätzt, unterstützt – angewiesen.

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