Der heute vor 84 Jahren am 23. August 1939 abgeschlossene „Hitler-Stalin-Pakt“ war ein Türöffner für Angriffe auf europäische Nachbarn und ein halbes Jahrhundert Okkupationen.
Besuch im Lettischen Okkupationsmuseum im Juli 2022 + August 2023, Winfried Nachtwei (2022/23), Bilder auf www.facebook.com/winfried.nachtwei
Das Lettische Okkupationsmuseum am Rathausplatz neben dem wiederaufgebauten Schwarzhäupterhaus besteht seit 30 Jahren. Seine erste Ausstellung ab 1. Juli 1993 hatte zum Thema „The Soviet Occupation, 1940-1941“. Die aktuelle Dauerausstellung seit 30. Mai 2022 handelt von „Latvia under the Socviet Union and National Socialist Germany 1939-1991“. Das Museum dokumentiert umfassend und eindringlich, wie die drei kleinen Nationen des Baltikums ein halbes Jahrhundert lang zwischen den Interessen totalitärer und imperialisti-scher Großmächte in der Nachbarschaft zerrieben, von demokratischen Staaten alleingelassen wurden – und wie sie in der Schwächephase der Sowjetunion mit breitem und entschieden gewaltlosen Widerstand die Okkupation beenden und ihre Unabhängigkeit erringen konnten.
Im August 2023 richtet vor dem Museumseingang die Ausstellung „Hunger as a Weapon. Ukraine. 1932-1933. 2022.“ den Blick auf die Okkupationserfahrungen der Ukraine, vor allem mit Postern und Gemälden aus der Ausstellung „HOLODOMOR: Through the Eyes of Ukrainian Artists“. (Aufzeichnungen von meinen letzten Riga-Besuchen – von insgesamt rund 15 seit 1989– im Juli 2022 und August 2023)
I Okkupationsmuseum
II Zu einem frühen Kapitel der lettischen Gewaltgeschichte: Die Lettische SSR 1919
I Okkupationsmuseum, seit 1. Juni 2022 erweitert, modernisiert mit neuer Dauerausstellung am ursprünglichen Platz
(Da Folgende ist ergänzt um Informationen aus: Lettisches Okkupationsmuseum, Lettland unter der Herrschaft der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschland 1940-1001, verfasst von Valters Nollendorfs, Riga 2017; https://okupacijasmuzejs.lv/en ; Katja Wezel, The New Exhibition of the Occupation Museum in Riga,, https://www.cultures-of-history.uni-jena.de/exhibitions/feeling-the-horrors-of-the-20th-century-the-occupation-museum-in-riga )
In der Eingangshalle läuft ununterbrochen ein Video von 4:30 Minuten zum Hitler-Stalin-Pakt bis zur Besetzung der baltischen Staaten. Die Stationen:
Schlaglichter zu „Kommunismus – Nationalsozialismus: Diktatur – Terror, Feind: Nichtarische Menschen – Feind: reiche Menschen, Konzentrationslager – GULAG Lager, Kristallnacht – Der Große Terror, Holocaust – Holodomor“
Expansionsschritte
07.03.1936 Besetzung des Rheinlands
17.03.1938 Österreich
01.10. 1938 Sudetenland
16.03.1939 Restliche Tschechoslowakei
22.03.1939 Memelland/Litauen
23.08.1938 Hitler-Stalin-Pakt
28.09.1939 Geheimes Zusatzprotokoll teilt Europa
01.09.1939 Überfall auf Polen
17.09.1939 Sowjetische Besetzung Ostpolens 22.09.1939 Brest-Litowsk
28.09.1939 Estland: Die Sowjetunion zwingt die baltischen Staaten, sowjetische Militärbasen
auf ihrem Territorium zuzulassen.
05.10.1939 Lettland
10.10.1939 Litauen
30.11.1939 – 13.03.1940 Winterkrieg der Sowjetunion gegen Finnland
1940, April Deutsche Besetzung Dänemarks und Norwegens
05.06. 1940 Deutscher Angriff auf die Niederlande, Belgien, Luxemburg
14.06. 1940 Deutsche Besetzung von Paris
Die Sowjetunion besetzt die baltischen Staaten 15.-17.06. („Hitler in Paris, Stalin in Riga“)
15.06. 1940 Litauen
17.06.1940 Estland und Lettland
Okt./Nov. 1940 Verhandlungen in Berlin über den Zutritt der Sowjetunion zu Deutschland, Italien und Japan für eine weitere Teilung der Welt
„Die Sowjetunion weigerte sich über 50 Jahre, die Existenz des Hitler-Stalin-Paktes und des geheimen Zusatzprotokolls anzuerkennen
Das gegenwärtige Russland versucht die damalige Kooperation zu rechtfertigen.“
DIE AUSSTELLUNG
- Erste sowjetische Okkupation
– Nach kurzfristigen Ultimaten überschreiten sowjetische Truppen erst die litauische, dann die lettische und estnische; Demokratie-Simulation
– Lettland: Am 15.06.1940 Angriff an von Sondereinheiten des sowjetischen Innen-ministeriums auf drei Grenzstationen. „Drei Grenzschützer sowie Frau und Kind eines Grenzschützes werden getötet, 10 Grenzschützer und 27 Zivilisten werden in die Sowjetunion (UdSSR) verschleppt. Am 16.06., einem Sonntagnachmittag, stellt die UdSSR der lettischen Regierung ein neunstündiges Ultimatum. Sie bezichtigt Lettland der Verletzung des 1939 abgeschlossenen gegenseitigen Beistandspaktes und fordert die sofortige Bildung einer neuen Regierung sowie den Einmarsch sowjetischer Truppen in Lettland ohne jegliche Einschränkung.“ (Lettisches Okkupationsmuseum a.a.O., S. 34) In der Hoffnung, ein Blutbad zu verhindern, gibt Präsident Karlis Ulmanis nach.
– Unter Andrej Wyschinski, stellv. Vorsitzender der sowjetischen Regierung (1937/38 Chefankläger in Stalins Schauprozessen), Bildung einer „Volksregierung“ mit überwiegend nichtkommunistischen Ministern; Auflösung der Institutionen des unabhängigen Lettland; inszenierte Massendemonstrationen, Ausschreibung von Wahlen zum Parlament 10 Tage vor dem 14. + 15. Juli. Die einzige zugelassene Kandidatenloste „Block er Werktätigen Lettlands“ „erhält“ bei einer „Wahlbeteiligung“ von 94,8% 97,8% der Stimmen; am 21. Juli erklärt die „gewählte“ Volks-Saeima Lettland zu einer „sozialistischen Sowjetrepublik“ und beantragt die Aufnahme in die UdSSR.
– Konfiszierung von Privateigentum, Kollektivierung der Landwirtschaft;
– Repression und Terror durch Tscheka, NKWD, GPU, KGB
– Massendeportation am 14. Juni 1941: 15.443 Menschen in die Gulag-Lager (0,8% der Bevölkerung), 43 sterben
- Gequälte Menschen – ruiniertes Land: Krieg. Nazi-Deutsche Okkupation Holocaust 1941-1944/1945
- Juli 1941 Niederbrennen der Synagogen in Riga,
– Vormarschstrecken der Einsatzgruppe A: Karte mit Sargsymbolen Litauen 136.421, Lettland 35.238, Estland 963 „Judenfrei“
– Verantwortliche: Friedrich Jeckeln, Viktors Arajs, Walter Stahlecker, Rudolf Lange
– Fotos von Massenerschießungen in Libau
– „Der von den Nazis eingeleitete Holocaust ist der größte Massemord, der in Lettland geschah. (…) Im Sommer 1941 wurden die meisten Juden in kleinen Städten erschossen und in örtlichen Wäldern begraben.
Die Gesamtzahl der in Lettland von Nazis Ermordeten, einschließlich rund 3.000 lettische Roma, liegt bei ungefähr 100.000
– „Brüder gegen Brüder“: Insgesamt mindestens 200.000 lettische Soldaten in deutschen und sowjetischen Streitkräften, geschätzt die Hälfte davon getötet.
Von den rund 100.000 dreiwilligen oder zwangsverpflichteten lettischen Soldaten in der Roten Armee (Lettische Schützendivision und –korps) fällt mehr als die Hälfte; etwa 115.000 lettische Männer standen in verschiedenen Einheiten des deutschen Militärdienstes: in Selbstschutz- und Schutzmannschaftsbataillonen, an 1943 die „Lettische SS-Freiwilligen-Legion“ (85% Einberufene), 30.-50.000 Gefallene und Vermisste.
Flucht: Bis Kriegsende verließen etwa 200.000 Menschen Lettland, viele davon nach Deutschland, Schweden.
Von den rund 2 Millionen Einwohnern Lettlands lebten bei Kriegsende nur noch 1,4 Millionen im Land, ein Verlust von 30%.
- Zweite sowjetische Okkupation
– Sowjetisierung und Proletarisierung auf dem Land
– Stalinistischer Terror: 25.-28.03.1949 Deportation von 42.129 Menschen (vor allem Landbevölkerung) in 33 Zügen in „Spezialsiedlungen“ des GULAG; darüber hinaus „Zwangsverschickungen von rund 200.000 Menschen, in der Nachkriegszeit aus „Filtrations“- und Kriegsgefangenenlagern.
– Kolonisierung: Bis 1990 Ansiedlung von rund 850.000 Nichtletten, Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung sinkt von 73% nach dem Krieg auf um die 50% Ende der 80er Jahre.
Diskriminierung der lettischen Bevölkerung in Behörden und Betrieben. Russisch wird vorrangige Sprache.
- „Verzweifelte Hoffnung und Entschlossenheit – Bewaffneter Kampf und gewaltloser Widerstand gegen totalitäre Herrschaft 1944/1945-1991“
– Der Krieg der „Waldbrüder“ gegen das Sowjetregime über mehr als 10 Jahre seit Sommer 1944, ab 45/46 vor allem in Kurland und im östlichen Lettgallen; zwischen 1944 und 1953 ungefähr 15.000 Partisanen, von Teilen der Landbevölkerung unterstützt, mehr als 3.000 Gefallene.
– Gewaltloser Widerstand: Aktivisten vor allem aus der Schuljugend gründeten Untergrundorganisationen, verbreiteten Flugblätter und westliche Radioberichte, rissen Sowjetfahnen herunter, hissten die lettische Fahne, demolierten Stalinbilder. (…)
Im 1. Stock Kampf für Unabhängigkeit
Die Stationen entlang der Treppe
- Juni 1987 erste öffentliche Demonstration seit 1944 am Freiheitsdenkmal, Gedenken an die Opfer der sowjetischen Deportation (Initiative von Helsinki-86)
1.-2. Juni 1988 Öffentliches Bekenntnis zur Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt (Mavriks Vulfsons)
- Oktober 1988 150.000 Menschen demonstrieren für Rechtsstaatlichkeit
8.-9. Oktober 1988 Gründung der Lettischen Volksfront
- November 1988 erstes Begehen des Gedenktages für die lettischen Freiheitskämpfer nach dem Krieg
- August 1989 am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts Menschenkette von 1,5 Millionen Menschen über 660 km durch Estland, Lettland, Litauen („Baltischer Weg“, „Singende Revolution“)
- November 1989 Großkundgebung am Ufer der Daugava
- März 1990 erste freie Wahlen zum Obersten Sowjet Lettlands, Sieg der Volksfront
- Mai 1990 Unabhängigkeitserklärung des Obersten Rates der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (von Gorbatschow mit Wirtschaftssanktionen beantwortet und für ungültig erklärt)
- Januar 1991 500.000 am Ufer der Daugava, Protest gegen einen möglichen Militärputsch nach dem Angriff der sowjetischen Armee in Vilnius (Besetzung des Fernsehturms, 14 Tote, 200 Verletzte; in Riga am 2.Januar Besetzung des Pressegebäudes durch OMON-Kräfte, Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums)
(80.000 Freiwillige errichten Barrikaden, um strategisch wichtige Institutionen zu schützen; „Barrikadentage“ über zwei Wochen)
20 Januar 1991 OMON-Kräfte erschießen in der Innenstadt von Riga fünf Personen, Sowjetarmee bleibt in den Kasernen;
- September 1991 Sowjetunion erkennt die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten an
(Aktuell zum Sowjetischen Siegesdenkmal in Riga:
Seit 2001 Massenkundgebungen vor allem von Russischsprachigen zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai, 2015 mehr als 100.000. 2022 kamen rund 20.000, obwohl das Gelände eingezäunt und Versammlungen verboten waren. Im Juni beschloss das lettische Parlament bei einer Gegenstimme eines Harmonie-Abgeordneten den Abriss des achtzig Meter hohen Obelisken bis zum 15. November. Bei der lettischsprachigen Bevölkerung gilt das Siegesdenkmal seit Beginn des Ukrainekrieges und seiner offiziellen Begründung als Fortsetzung des „antifaschistischen Kampfes“ der Roten Armee als Ausdruck des russischen Imperialismus. Am 25, August wurde der Obelisk kontrolliert gesprengt. Die Skulpturen rechts und links (Gruppe sowjetischer Soldaten und „Mutter Heimat“) wurden abgebaut.)
Kommentar
– Auffällig ist die zeitliche Parallelität der vielen Expansionsschritte von Nazi-Deutschland und Sowjetunion in den 1930ern und 1940er Jahren.
– Die Vorgehensweise der stalinistischen Sowjetunion und der heutigen Russischen Föderation bei der Okkupation von Nachbarländern sind nicht unähnlich; damals schnell erfolgreich wg. völliger militärischer Überlegenheit der UdSSR und strategischer „Einsamkeit“ der baltischen Staaten (null internationaler Beistand).
– Spaltung der lettischen Gesellschaft, wo unter den wechselnden Okkupationen die Gruppen der Verfolgten und Opfer und die Gruppen der (Mit-)Täter und Helfershelfer wechselten, wo im Krieg in großer Zahl Letten im Dienst fremder Mächte gegen Letten kämpften.
– Krass sind die Opferzahlen durch Holocaust und NS-Terror, Krieg, stalinistischen Terror.
– Der Unabhängigkeitsprozess der baltischen Staaten war ein historischer Sieg des gewaltlosen Widerstandes einer ganzen Gesellschaft – trotz sowjetischer Wirtschaftsblockade, Drohung mit Militärintervention und gewaltsamem Vorgehen der OMON-Spezialeinheiten. Begünstigt wurde dieser Sieg durch die strategische Schwäche der Sowjetunion und den Reformkurs von Michael Gorbatschow. Der Unabhängigkeitsprozess im Baltikum hätte auch ganz anders verlaufen und in einen Gewaltkonflikt münden können.
– In der Ausstellung sind besondere Schwerpunkte die sowjetischen Deportationen und der Kampf um Unabhängigkeit. Dem Holocaust sind neun Tafeln auf rund fünf Metern gewidmet. Die lettische Beteiligung kommt – bis auf Arajs – kaum vor. (Margers Vestermanis verweist auf die Rolle des lettischen Oberstleutnant Voldemars Veiss, der vom ersten Tag der Besatzung ein führender Kollaborateur war)
Die traumatischen Kollektiverfahrungen von 50 Jahren wechselnden Okkupationen leben fort und prägen Bedrohungswahrnehmungen und (sicherheits-)politische Grundorientierungen in Lettland – und den anderen baltischen Staaten – bis heute. In Deutschland werden diese Kollektiverfahrungen nach meiner inzwischen 30-jährigen Beobachtung wenig wahrgenommen. In der Friedensbewegung der 80er Jahre stellten DKP-Anhänger Unabhängigkeitsbestrebungen im Baltikum schnell unter Faschismusverdacht. Über viele Jahre war in der Bundesrepublik die politische Empathie für die russische Führung größer als für die kleineren Nachbarn im Osten.
Ergänzung zu einem frühen Kapitel der lettischen Gewaltgeschichte: Lettische Sozialistischen Sowjetrepublik in Riga 4. Januar bis 25. Mai 1919
Hierüber gibt es bisher kaum Veröffentlichungen. Anita Kugler, Historikern und frühere taz-Redakteurin[1], hat dazu geforscht und berichtet darüber bei einem Treffen mit Margers Vestermanis. Die Lettische SSR war die erste Sowjetrepublik außerhalb von Moskau, exekutiert von roten Lettischen Schützenregimentern, beteiligt waren auch demobilisierte deutsche Soldaten und entlassene deutsche Kriegsgefangene („Legion Karl Liebknecht“). Schon bis Ende Januar 1919 sollen 2.800 Todesurteile gefällt und heimlich vollstreckt worden sein. Danach begann der sog. „legale Terror“: Öffentlich zugängliche Revolutionstribunale fällten Urteile mit Begründungen auf Zwangsarbeit, Gefängnis, Konzentrationslager, Bereitstellung als Geisel, Tod durch Erschießen. Die Namen der exekutierten „Konterrevolutionäre“ wurden in der „Roten Fahne“ veröffentlicht. Erschießungen fanden im Zentralgefängnis und vor allem im Wald von Bikernieki statt. Laut „Rote Fahne“ wurden ab Mitte Februar 1.549 Menschen in Riga-Stadt und 2.081 in Riga-Land erschossen. Die Gesamtzahl der bolschewistischen Terroropfer wird mit 5.000 bis 7.000 beziffert. Der „Rote Terror“ endete am 22. Mai 1919 mit dem Einmarsch der Baltischen Landwehr, Freikorps und Eiserner Division grausam Rache nahmen. besonders an weiblichen Rotarmisten. Allein in Riga wurden laut Presseberichten 2.000 bis 4.000 Menschen erschossen. (Anita Kugler, Zeitnahe Berichte von Deutschbalten zur Bolschewikenherrschaft in Riga 1919, Mare Balticum Braunschweig 2020)
[1] Ihre Besprechung des Buches „Judenmord in Lettland“ von Bernhard Press 1989 in der taz vom 26.06.1989 war ein wesentlicher Anstoß für unsere erste Reise in das noch sowjetische Lettland einige Wochen später: https://taz.de/Der-Judenmord-in-Lettland/!1807952/ .