Hoch-Zeit des Kalten Krieges und der Friedensbewegung der 1980er Jahre – Doku-Rückblick in geheime Welten + auf beide Seiten der Zäune

Zum sehr sehenswerten Dokumentarfilm „Achtung, ABC-Alarm! Der Kalte Krieg vor der westfälischen Haustür“

Hoch-Zeit des Kalten Krieges und der Friedensbewegung vor 40 Jahren – Doku-Rückblick in geheime Welten und auf beide Seiten der Zäune, Winfried Nachtwei MdB a.D. (25.10.2023)

In diesen Wochen des Jahres 1983 bewegte und spaltete Sicherheitspolitik so viele Menschen in Westdeutschland wie nie mehr seitdem. Am 22. Oktober gingen 1,3 Millionen gegen die Stationierung neuer Atomraketen auf die Straße. Am 22. November billigte der Deutsche Bundestag mit 296 gegen 226 Stimmen die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik.

Am 12. Oktober 2023 erlebten in Dülmen/Westfalen 400 Zuschauer die Premiere des vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) produzierten Dokumentarfilms „Achtung, ABC-Alarm! Der Kalte Krieg vor der westfälischen Haustür„, Regisseur Harald Sontowski.

In Dülmen befand sich ein „Sondermunitionslager“, in dem über mehr als zwei Jahrzehnte auch Atomgranaten gelagert waren. Der Film blickt in die Stützpunkte des Kalten Krieges, die damals streng geheim waren, und lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, die in den Hochsicherheitstrakten arbeiteten – oder davor protestierten.

Die ausführliche Presse-Info des LWL mit Links und Fotos unter https://www.lwl.org/pressemitteilungen/nr_mitteilung.php?urlID=58010 ; der Trailer unter

https://www.youtube.com/watch?v=JlPyWD83QjA ; der ganze Dokumentarfilm (1:23) auf https://www.youtube.com/watch?v=bvImyWkDwWk . In den ersten vier Tagen wurde der Film schon 80.000 Mal aufgerufen.

Die Stationen des Films sind:

Das Munitionslager Visbeck bei Dülmen, angelegt 1963-65, 25 Bunker, davon drei große, massiv gesicherte für konventionelle und atomare Artilleriegranaten (155 mm und 203 mm), letztere unter US-Hoheit, bewacht von 40 deutschen Sicherungssoldaten. Freimütig und nachdenklich berichtet hierzu Generalmajor a.D. Robert Bergmann. Er war mehrere Jahre Kommandeur eines Artillerieverbandes in Dülmen, später u.a. sicherheitspolitischer Berater des Bundeskanzlers. 2003 waren wir ihm als KFOR-Kommandeur bei einer Studienreise im Kosovo begegnet. Seit einigen Jahren bietet er spannende Führungen durch das ehemalige Atomwaffenlager an.

Der Notlandeplatz auf der A43 zwischen Dülmen-Nord und Nottuln.

Sprengschächte an Engpässen, Tunnels und Brücken, um im Verteidigungsfall technische Sperren zu bilden

Luftverteidigungsbunker Erndtebrück (Kreis Siegen-Wittgenstein) „Bunker Erich“ (Tiefbunker) für die militärische Luftraumüberwachung im Zentralbereich des deutschen Luftraums: Ab 1968 Überwachung des Luftraums über BRD und DDR, ab 1972 auch Führung von taktischen Einsätzen von Abfangjägern und Raketen; 30 Tage arbeits- und überlebensfähig;

Flugabwehrraketenstellung / Nike-Feuerstellung Oedingen bei Lennestadt, Kreis Olpe 1962-2002: Reichweite der Nike-Ajax, ab 1965 nur Nike-Hercules bis zur Demarkationslinie (180 km, 4,8 to); ab 1962 hier auch US-Soldaten, also Atomsprengköpfe.

Hauptmann a.D. A.F. berichtet: 48- oder 72 Stunden Schichtdienst, Tag und Nacht saßen 50 Mann am Gerät, um den Himmel zu überwachen und das Waffensystem fertig zu machen. Scharfe Übungen fanden in Griechenland statt. „Welches Gefühl überwiegt in der Nachbetrachtung?“ Schon wenn man nachts im Bunker saß, die Raketen aufgerichtet, „überleg mal“. Dann habe man mit den Kameraden gesprochen, mit den Wehrpflichtigen, mit den Älteren. Dann kamen schon Argumente hoch. „Wir haben immer nur gehofft, um Himmels willen, hoffentlich macht keiner irgendeinen Fehler. Hoffentlich sind die Politiker schlau genug, zu verhindern, dass so etwas passiert. Hoffentlich kommt keiner über die Grenze mit dem Willen, uns irgendwas anzutun. Denn dann hätten wir schießen müssen. Diese Gedanken sind einem immer durch den Kopf gegangen. Wenn Sie drei Tage im Bunker gesessen haben, das bleibt hängen. Aber was hätte es genutzt, was machste denn sonst? Wie geht es dem Zivilisten, das war immer eine Frage, die ich stellte, wenn ich drei Tage Krieg spiele. Was ist mit meiner Familie?“

Nordkirchen, atombombensichere Grundnetz-, Schalt- und Vermittlungsstelle (GSV), eine von 34 bundesweit, sechs in NRW. Diese teuren und technisch sehr gut ausgestatteten Anlagen gehörten zum militärischen Telefonnetz. Sie sollten im Falle eines Atomkrieges die Kommunikation sicherstellen. Sie entstanden zwischen 1962 und 1966 aus Angst vor einem atomaren Erstschlag und hatte drei bis vier Meter dicke Wände. Der Landschaftsverband Westfalen Lippe kürte den Nordkirchener Bunker, der als einer der besterhaltenen Atombunker in NRW gilt, 2005 zum Denkmal des Monats Dezember.

Elmlohe/Drangstedt, GSVBw 22

Bünde, Sowjetische Militärmission für die britische Besatzungszone ab 1957 gemäß Londoner Zonenprotokoll von 1944.

Meinerzhagen, Warnamt IV: dreistöckiger ABC-sicherer Bunker, Dekontaminations-einrichtungen, Warndienst als Teil des Zivilschutzes; Sirenentöne; Übung;

Schulungsfilm zu „Luftalarm für die Regierungsbezirke, Düsseldorf, Köln, Aachen“;

Luftschutzwarnamt 1 in Schleswig-Holstein, Fernschreiberkommunikation; Bevölkerungs-information auch über Radio;

Ratgeber zum Selbstschutz bei Atombombenangriff: Hinter Baumstamm mit Aktentasche „so bist Du besser geschützt“, „Die Deckung bietet Dir einige Sicherheit“, „Der Luftschutzraum bietet Dir den besten Schutz“. Die staatlichen Institutionen scheinen atomare Strahlung für beherrschbar zu halten.  Film des Bundesluftschutzverbandes: Kunststofffolie vor Fenster, Sandsäcke, Plane über Heu und Stroh.

Bunkeranlagen: Dortmund, in Münster zehnstöckige Tiefgarage unter dem Aegidiimarkt, unterstes Stockwerk Schutzraum für 3.000 Personen über 14 Tage, Wasser- und Frischluftversorgung unter kontaminierten Bedingungen; Zugänge über Schleusen mit leichtem Überdruck; insgesamt 30 Schutzräume neuerer Bauart im 1,5 km Innenstadtring von Münster, z.B. in Uni-Kliniken und Hauptbahnhof. Eine US-amerikanische Studie von 1979 zeigt für Münster: Eine Explosion einer Atombombe von einer 1 Megatonne in 2.000 m Höhe über der Altstadt hätte verheerende Folgen für alles im Innenstadtradius: Feuer, Hitze, Verwüstung, Tod. So könnte er Schutzraum auch zum Krematorium werden.

Information des Bundesverbandes für den Selbstschutz: Aufruf zur Eigeninitiative; Aufruf zum Selbstschutz, Anleitungen zum Überleben.

Bundesregierung und Landesregierungen verfügten über eigene Schutzräume; für die Bezirksregierung Münster der Ausweichsitz in Nottuln Krs Coesfeld in der 1968-71 errichteten Geschwister-Scholl-Hauptschule; atombombensicher; für ca. 100 Leute autark für 14 Tage; an den Wänden Bilder von Bergen und Meer.

Ungeliebtes offenes Geheimnis, manche befürchteten, darüber zum Angriffsziel zu werden. Die Friedensinitiative Nottuln versuchte dagegen ein sichtbares Zeichen des Protestes zu setzen. Bei der NATO-Übung WINTEX-CIMEX sperrten Demonstranten kurzzeitig den Zugang zum Bunker mit einem Netz von Bindfäden. (Der nachfolgende Zeitzeuge war daran beteiligt. Er unterstützte 1987 und 1989 ein bundesweites Bündnis von Friedensgruppen gegen die Übung.) WINTEX (Winter Exercise) wurde seit 1971 alle zwei Jahre in der gesamten NATO geübt, ab 1979 als zivil-militärische WINTEX-CIMEX-Übung. Alarmplan der Bundeswehr und ziviler Alarmplan mit Hunderten Einzelmaßnahmen von der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Telefonkommunikation bis zu Lebensmittelkarten, Spritgutscheinen und Ersatzwährung.

Im Gespräch mit Winfried Nachtwei (1:01), Leutnant der Reserve, Gymnasiallehrer in Dülmen, Gründungsmitglied der Grünen und langjähriges Mitglied des Bundestages, 1980 bis Ende der 1990er Jahre in der Friedensbewegung aktiv. Erinnerungen …

Zur Friedensbewegung der 1980er Jahre, Kristallisationspunkte; Minimalkonsens und Uneinigkeiten; Ziviler Ungehorsam, um mehr politischen Druck auszuüben; Training in gewaltfreien Aktionen; zwei Tage vorm I. Korps in Münster; Demonstrationen an anderen Orten, keinerlei Aggressionen; Ausbreitung von Laienexpertentum.

Hat die Friedensbewegung ihr Ziel erreicht? W.N.: „keine Jugendsünden!“ „Wenig Gedanken gemacht um Alternativen, ein strategisches Defizit, aber Protestbewegungen falle das Contra oft leichter als das Pro.

Robert Bergmann: „Ich hatte Geschütze, die atomare Munition hätten verschießen können, und das haben wir auch geübt. Die Munition war natürlich Übungsmunition, die wurde zugeführt. Und dann haben wir die Verfahrensabläufe trainiert. Und das Ganze in der Nähe meiner Heimatstadt, in der meine Familie lebt. Und dann kamen mir natürlich auch manche Zweifel und Sorgen über die Frage, was passiert eigentlich, wenn wir hier atomare Munition verschießen. Das waren lange Diskussionen mit meiner Frau, das waren viele Kämpfe in mir selber. Ich bin letztlich doch der Überzeugung gewesen, dass wir durch die Atomwaffen über viele Jahrzehnte ein Gleichgewicht zwischen den Machtblöcken haben halten können, dass es aus meiner Sicht zumindest verhindert hat, dass ein großer Krieg ausbrach, weil jeder wusste, dass es sein eigenes Ende ist. Aber meine Zweifel an diesen Waffen habe ich auch gehabt, und ich denke auch heute sehr kritisch über diese Atomwaffen nach.

1989 Anfang vom Ende des Kalten Krieges, friedliche Revolution, 1991 Auflösung des Warschauer Pakts, Auswirkungen auf Stützpunkte des Kalten Krieges in Westdeutschland:

Oedingen; Kasernen in Oedingen und Dülmen; im ehem. Sondermunitionslager werden Feuerwerkskörper eingelagert. Das Warnamt Meinerzhagen schließt 1997. Die Grundnetz-, Schalt- und Verbindungsstellen beenden Mitte er 1990er Jahre ihre Arbeit. Bunker Erich ab 1998 teilweise zivil genutzt. Der Ausweichsitz in Nottuln dient als Lagezentrum im Kreis Coesfeld.  Schule endet 1998. Konversion des Militärflughafens Dreierwalde/Hörster bei Rheine. Hier entsteht u.a. eine forensische Klinik der LWL, ein anderer Teil ist inzwischen als Naturschutzgebiet ausgewiesen.

Insgesamt standen sich in beiden deutschen Staaten 1.100 militärische Anlagen gegenüber. Die jetzt noch erhaltenen Raketenstellungen habe Denkmalswert.

W.N.: „Atomwaffen sind nicht einfach Schnee von gestern (…) Scheuklappendenken.“ (Schlussworte)

Die Friedensbewegung der 80er Jahre,  fundamentale Umbrüche seitdem, Bemühen um Erfahrungslernen – Rückblicke III

(vgl. auch die Rückblicke I / 1983 „Widerstand durch Niedersetzen“ und II / 2013 „Kommentar eines „Veteranen“ – als Sicherheitspolitik die Menschen aufwühlte, bewegte und spaltete“, alles unter www.domainhafen.org )

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