22. Oktober 1983: 1,3 Mio. Friedensdemonstranten bundesweit – nicht der Erinnerung wert? Meine Rückblicke von 1983 + 2013

Vergessen, verdrängt, verraten?

Es war die wohl breiteste soziale Bewegung in der Geschichte der Bundesrepublik: 22. Oktober 1983: 1,3 Mio. Friedensdemonstranten bundesweit – Nicht der Erinnerung wert? Rückblicke I (1983)+ II (2013), III folgt, Winfried Nachtwei[1], MdB a.D. (21.10.2023)

Rückblick I (1983): „Widerstand durch Niedersetzen“

(veröffentlicht in: W.N., Im Schatten von Lamberti: „Solidarisieren, mitmarschieren!“ Eindrücke aus der Münsteraner Demonstrationsgeschichte seit 1967 aus der Feder eines Zeitzeugen, im Stadtbuch Münster 1993)

„Die Aktivitäten der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing II und cruise missiles erreichten in der Aktionswoche im Oktober ihren Höhepunkt: Stadtteilaktionen, öffentliche Verweigerung, 5-vor-12-Aktionen in Schulen und Betrieben, Menschenteppiche (»die-in«), Gottesdienste.

Höhepunkte in Münster sind die Blockade des I. Korps am 17./18. Oktober (nur von Teilen der Friedensbewegung getragen) und die anschließende Menschenkette zum »US-Group Headquarter« in Handorf (zuständig für das Atomwaffenlager Schirlheide). Die Bezugsgruppen (BG) mit Namen wie Freakadellen, Westfälischer Frieden, Tigerenten, Sport-Spiel-Spannung, Staatstreu & lebenslang, Pax Christi I+II u.a. bereiteten sich sorgfältig mit Trainings auf die gewaltfreie Aktion vor. Etwas härtere Bewegungsteile (Hausbesetzer, Startbahn West, Anti-AKW) fühlen sich mehr zur Großblockade in Nordenham hingezogen.

»Sechsmal treffen sich zwischen 80 und 100 Vertreter von Bezugsgruppen und teilnehmenden Organisationen. Diskussionen und Entscheidungsfindung laufen schwerfällig und wenig ermutigend. Der Polizei werden unsere Absichten und Motive brieflich in verbindlicher Form mitgeteilt. Ein Vorabgespräch soll nicht stattfinden. Der Auftakt am Montag um 6.30 Uhr ruhig und organisiert. Funktionen wie Polizeisprecher (pro Tor) und Melder werden eingeteilt. Jede Torgruppe (I-V) soll nach Lage selbständig im Rahmen des Konsenses über mögliche Alternativen entscheiden.

Um 7.15 sind alle BG`en zur ersten halbstündigen Blockade an ihre Tore geströmt. Die Anlage der technischen Sperren zeigt schon das taktische Konzept der Polizei: Vermeidung von Konfrontation und Eskalation, also keine Verhinderung der Blockade von vorneherein, sondern punktuell Räumung immer dann, wenn »nötig«. Die meisten werden nur beiseitegesetzt, einzelne werden zur Personalienfeststellung rausgegriffen. Die teilweise hemmungslose Zahl an Räumungen (sogar wegen eines Zigarettenlieferanten), die hohe Zahl der vorläufigen Festnahmen macht aber deutlich, dass die Blockierer zugleich eingeschüchtert werden sollen. Heimliche Hoffnungen, Anhänger der Friedensbewegung würden nun en masse zum I. Korps strömen, Spontanblockierer würden die Schichten kräftig verstärken und die Tore »unräumbar« machen, werden enttäuscht. Die Gesamtzahl von ca. 600 ändert sich kaum. Am Dienstag ist die Blockade eingespielt, einzelne BG`en werden flexibel und wechseln mal das Tor – endlich mal ein wenig Unberechenbarkeit.

Das I. Korps reagiert offiziell recht plump: vorab mit einem strahlenden Gefreiten auf Plakat und Zeitungsbeilage, während der Aktion ganz offensiv mit Transparent und schwarz-rot-gold-umrahmten Handzetteln (»Distanzieren Sie sich, liebe Mitbürger, von den Störern«), verteilt von Soldaten in Uniform. Mit keinem Wort wird auf die Argumente der Friedensbewegung eingegangen. Allerdings stellen sich sogar Generäle – so der stellvertretende Kommandierende General Generalmajor Hans K. Nolzen – der Diskussion mit den »Störern«.

Für viele Beteiligte enttäuschend war, wie wenig doch behindert werden konnte, wie leichtes Spiel die Polizei mit den Blockierern hatte. Wir waren voll berechenbar, dabei aber auch politisch so stark, dass für die Polizei unmöglich war, die Blockade von vornherein zu verhindern. Trotzdem: Die Blockade war ein politisches Zeichen, wie ernst es uns ist und dass wir nicht mehr alles wortreich, aber tatenlos hinnehmen, was die Rüstungsfanatiker uns vorsetzen. Das wurde deutlich. Unsere Aussagen und unser Verhalten waren glaubwürdig und wurden ernst genommen. Auch bei den Gegnern der Friedensbewegung hat sie Eindruck gemacht.«

1983 bewegte sich am meisten auf Münsters Straßen: 194 Versammlungen und Demos, an der Menschenkette nach Handorf beteiligten sich ca. 6.000 Menschen. Bei insgesamt 474 öffentlichen Veranstaltungen zwischen 1982 und 1984 kam es bei 14 zu Anzeigen: Bis 1985 liefen allein 106 Verfahren gegen Blockierer des I. Korps und 37 weitere gegen Teilnehmer einer Busblockade.“

Rückblick II (2013), Kommentar eines „Veteranen“ –  Als Sicherheitspolitik die Menschen aufwühlte, bewegte und spaltete

(Erstveröffentlichung in KOMPASS, Monatszeitschrift des katholischen Militärbischofs für die Bundeswehr, November 2013)

Massen in Bewegung

Am 22. Oktober 1983 gingen bundesweit 1,3 Millionen Menschen gegen die Stationierung neuer Atomraketen auf die Straße, allein bei der 100 km langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm 400.000 Menschen. Einige Tage vorher hatten in meiner Heimatstadt Münster 600 Demonstranten das I. Korps der Bundeswehr gewaltfrei blockiert. Ich war einer der „Rädelsführer“.

16 Jahre zuvor war ich Leutnant bei einem Bundeswehrverband, der mit der Atomrakete Pershing-I-A ausgestattet war. Mit der Formel „wenn`s losgeht, ist sowieso alles aus“ hatten wir, hatte ich den Grundwiderspruch der atomaren Abschreckung „abgehakt“ und verdrängt. Dieses „Leben mit der Bombe“ zerplatzte, als mit dem NATO-Doppelbeschluss eine neue Runde im atomaren Wettrüsten drohte, jetzt im eigenen Land. Immer mehr Menschen konnten die offizielle Abrüstungsintention des Doppelbeschlusses nicht glauben. Sie befürchteten im Gegenteil, dass mit der besonderen Zielgenauigkeit und kurzen Vorwarnzeit der neuen US-Mittelstreckenraketen die Option eines auf Europa begrenzbaren, vermeintlich gewinnbaren und deshalb führbaren Atomkriegs geschaffen werde. Die Angst wuchs, dass dies bei einer internationalen Krise zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Entsprechende Äußerungen aus der US-Administration schürten solche Ängste.

Bewusst wurden die gigantischen Kosten und der Widersinn eines atomaren Wettrüstens, wo Ost und West sich zig-mal vernichten konnten. (60 to Sprengstoff pro Einwohner in den Ländern der NATO und des Warschauer Pakts!) Enthüllt und bewußt wurde, wie vollgestopft die Bundesrepublik mit Atomwaffen war (die Rede war von 6.000 Atomsprengköpfen in der Bundesrepublik), wie sehr die Bundeswehr darauf vorbereitet war, bei einem Angriff des Warschauer Pakts Atomwaffen in Deutschland einzusetzen. „Was passiert, wenn die Abschreckung versagt?“ Die geplante „atomare Heimatverteidigung“ führte den Verteidigungsgedanken – das Verteidigungswerte erhalten – ad absurdum.

(Anmerkung 2023: Einen umfassenden Blick in die damals streng geheimen Stützpunkte im Kalten Krieg schafft der jüngste Dokumentarfilm „Achtung, ABC-Alarm! Der Kalte Krieg vor der westfälischen Haustür“, in dem viele ehemalige Soldaten, aber auch ich als Aktivist der Friedensbewegung im Münsterland zu Wort kommen. Trailer 1:30 Min., https://www.youtube.com/watch?v=JlPyWD83QjA ; der Dokumentarfilm 84 Min., https://www.youtube.com/watch?v=bvImyWkDwWk , siege Rückblick III)

Gespaltene Gesellschaft

Die westdeutsche Gesellschaft und Politik waren über den Nachrüstungsstreit zutiefst gespalten. Bei zahllosen Veranstaltungen prallten die Positionen aufeinander und schlugen die Wellen hoch. Argumente standen neben Schwarz-Weiß-Denken und Feindbildern, Dialoge kamen zwischen Gegnern und Befürwortern der Nachrüstung oft gar nicht zustande. Abertausende Gruppen setzten sich so sehr mit sicherheitspolitischen Fragen auseinander wie nie zuvor. Außen- und Sicherheitspolitik, bisher immer Domäne der Exekutive, erfuhr einen Transparenz- und Demokratisierungsschub. Gewaltfreiheit und Eskalationsvermeidung wurde nicht nur beschworen, sondern im Vorfeld von Blockaden auch breit trainiert. Die damalige Friedensbewegung war ein großes Gemeinschaftserlebnis mit zahllosen Erfolgserfahrungen („man kann was tun und erreichen“), ein zivilgesellschaftlicher Aufbruch von enormer Breite und Intensität, ein Schub für die Demokratieentwicklung in Westdeutschland und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR.

Vielfalt und Widersprüche

Die Friedensbewegung war über ihren Minimalkonsens hinaus äußerst heterogen. Im Kern war sie eine Anti-Raketenbewegung und atompazifistisch (das nur auf die US-Raketen fokussierte DKP-Spektrum mit Umfeld nicht einmal das), nur zum Teil auf umfassendere Friedenspolitik hin orientiert und nur zum geringen Teil eine Bewegung für strikte Gewaltfreiheit. Sie war überwiegend eine reaktive Antirüstungs- und Protestbewegung und kaum eine für konstruktive Alternativen der Friedens- und Sicherheitspolitik.

Streitthemen und bei Teilen tabuisiert waren der sowjetische Krieg in Afghanistan, das Kriegsrecht in Polen, die Friedensbewegung in der DDR, die Atomrüstung der Sowjetunion. Das beeinträchtigte die Glaubwürdigkeit der Friedensbewegung.

(Eine selbstkritische Aufarbeitung ihrer Leistungen und Erfolge, aber auch ihrer Grenzen und Schattenseiten brachte die Friedensbewegung später nicht zustande. Keine Rolle spielten spätere Enthüllungen z.B. über die geplanten Internierungslager des MfS für Regimekritiker und in der unabhängigen Friedensbewegung der DDR Aktive – für 86.000 Personen in 1988!)

Wo die Friedensbewegung nicht bei den US-Raketen stehen blieb, sondern das System der atomaren Abschreckung und Aufrüstung insgesamt in Frage stellte, durchbrach sie die herrschende sicherheitspolitische und Blocklogik.

Tiefenwirkungen

Wie Recht die Friedensbewegung mit Ihrer Warnung vor einem Atomkrieg „aus Versehen“ hatte, wurde einige Jahre später bekannt: Sowohl bei einem 17-minütigen Fehlalarm am 26. September 1983 im sowjetischen Frühwarnsystem wie bei der NATO-Übung „Able Archer“ im November 1983 schrammte die Welt knapp an einer atomaren Katastrophe vorbei!

Die Friedensbewegung verhinderte nicht die Raketenstationierung. Erheblich beeinflusst wurden aber politische Grundstimmungen in Ost und West über die Jahre: Das atomare Wettrüsten verlor an Legitimation; die gesellschaftliche Entspannung von unten zwischen Ost und West erleichterte die Öffnungspolitik eines Michail Gorbatschow und beförderte Abrüstungsbereitschaft.

Manchen gilt die damalige Abschreckungspolitik angesichts heutiger Unübersichtlichkeiten und Einsatzrealitäten als plausibler und ethisch tragfähiger. Dem widerspreche ich: Wo heute Streitkräfte im Rahmen des UN-Systems tatsächlich für internationale Friedenssicherung und Kriegsverhütung eingesetzt werden, ist das sicherheitspolitisch um Welten sinnvoller und friedensethisch tragfähiger.

Trotzdem bleibt eine gute Erinnerung an eine Zeit, in der so lebhaft, kämpferisch und mit viel Sachkompetenzen um eine verantwortbare Sicherheits- und Friedenspolitik gestritten wurde wie nie mehr seitdem.

Vortragsangebote

– Friedensbewegung wie nie im Münsterland (ab 1980) – Bericht eines damaligen Aktivisten (2013 f.)

Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga. Zur Deportation jüdischer Menschen aus vielen deutschen Regionen 1941/42 in das „Reichsjudenghetto“ Riga, den Judenmord im deutsch besetzten Lettland und den Umgang mit dieser Geschichte im Nachkriegsdeutschland bis zur Arbeit des Deutschen Riga-Komitees ab 2000 (1989 ff.)

– „Nie wieder!“ Nie wieder? Verantwortung zum Schutz vor Krieg und Massengewalt (2018 ff.)

Gewalt verhüten, Frieden fördern – Werkstattbericht zur zivilen Krisenprävention (2005 ff.)

Vergessener Kosovo-Einsatz? Bloß nicht! Zu den Leistungen der Bundeswehr im KFOR-Verbund (2219)

Afghanistan – Warum endete es im Desaster? Bilanz und Ausblick eines parlamentarischen Mitauftraggebers (10/2021)

Erinnerungsarbeit – wenigstens nicht vergessen, möglichst viel lernen! (2021)

Konsequenzen des Krieges gegen die Ukraine für die Friedensbewegung (6/2022)

– Entwicklungen in der Ukraine aus friedenspolitischer Sicht (11/2022)

Seit 16 Monaten russischer Angriffskrieg und Selbstbehauptung der Ukraine, Verlauf und Konsequenzen (6/2023)

– Dimensionen gegenwärtiger Kriege – Wege zum Frieden (5/2023)

 

[1] Beirat Zivile Krisenprävention + Friedensförderung der Bundesregierung, Beirat Innere Führung des Verteidigungsministers, Enquete-Kommission des Bundestages zu Afghanistan, Präsidium Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, von „Lachen helfen“, kooptiertes Mitglied von Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden + Internationales von Bündnis 90/Die Grünen, MdB 1994-2009

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