Meine Rede bei der Kundgebung zum 32. Unabhängigkeitstag der Ukraine in Münster

Seit 18 Monaten russischer Angriffskrieg gegen eine unabhängige Ukraine. Solidaritätskundgebung vor dem Rathaus des WESTFÄLISCHEN FRIEDENS.

Rede bei der Kundgebung zum 32. Tag der Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August 2023 vor dem Historischen Rathaus in Münster, Winfried Nachtwei (25.08.2023)

Vormerkung: Am Münsteraner Aasee versammeln sich einige Hundert Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, fast alle mit dem ukrainischen Blau-Gelb geschmückt, viele mit Blumen, Fahnen, Transparenten, Bildern, Protestschildern. Zu Beginn wird kräftig die ukrainische Nationalhymne gesungen. Angefeuert von der stimmstarken Olja ist der Solidaritätsmarsch mit seinen Sprechchören unüberhörbar: „Freiheit und Frieden für die Ukraine! Hände weg von der Ukraine! Danke Deutschland für die Hilfe! Danke Deutschland für die Unterkunft! Danke Deutschland für die Zukunft! (…)“ Der Zug zieht über die Aegidiistrasse zum Prinzipalmarkt. Im Unterschied zu vielen anderen Demonstrationen bleiben Passanten interessiert stehen, gelegentlich Zeichen der Sympathie. Veranstalter ist die Ukrainische Gemeinschaft mit dem Verein „Ukrainische Sprache und Kultur in Münster“, aufgerufen haben auch „Ukraine Hilfe aus aller Welt (UAre)“, das Ukrainische Generalkonsulat in Düsseldorf und die Gesellschaft für bedrohte Völker.

Vor dem Historischen Rathaus begrüßt Mariya Sharko die Versammlung. Dann sprechen Oberbürgermeister Lewe, Ex-MdB-Kollege Ruprecht Polenz (Präsident der Gesellschaft für Osteuropakunde), Jochen Reidegeld (Bistum Münster), Winni Nachtwei und Kajo Schukalla. Dazwischen singt ein Chor, dessen Gesang mir, der ich fast unter den Sängerinnen und Sängern stehe, unter die Haut geht. Die Schweigeminute für die in der Ukraine Gefallenen und Getöteten bewegt die Anwesenden ganz persönlich. Alle, die aus der Ukraine kommen, haben jetzt Gesichter und Schicksale vor Augen. Auf der Demonstration wird eine große ukrainische Fahne, hergestellt in Charkiw, mitgetragen, darauf „Freiheit“. Eine zweite Fahne ging nach Osnabrück („Frieden“). Die beisten Fahnen werden nun zwischen Münster und Osnabrück wechseln.

Die Friedensdemonstration ist bunt, lebhaft und herzlich. Sie strahlt trotz allen Leids in den Familien und Wut über die Aggressoren Selbstbewusstsein, Zusammenhalt und starken Durchhalte- und Friedenswillen aus. Sie wirkt gewinnend.

Nach dem 25. Februar und 24. August 2022 und 24. Februar 2023 ist es meine vierte Rede bei Solidaritätskundgebungen von dem Historischen Rathaus in Münster.[1] In Klammern die Passagen, die über das gesprochene Wort hinausgehen.

Herzlich willkommen vor dem Rathaus des Westfälischen Friedens, der seit 18 Monaten durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gebrochen wird.

Nachrichten aus dem Krieg gegen die Ukraine werden in der deutschen Bevölkerung inzwischen nur weniger wahrgenommen. Wie Blitzlichter, die schnell wieder verschwinden.

Sehen wir hin:

2.100 km nach Osten die „Perle am Schwarzen Meer“. 1995 durfte ich Odessa erstmalig besuchen. Aus meinen damaligen Reisenotizen: „sehr grüne Stadt mit Alleen, einmalig viele Straßenlokale, die berühmte Treppe am Hafen“.

Am 23. Juli bombardierte Russland mit Raketen und Drohnen das Zentrum von Odessa, das seit Januar auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes steht. 25 Kulturdenkmäler – ukrainische wie russische – wurden schwer beschädigt oder zerstört, darunter die Verklärungskathedrale, die größte orthodoxe Kirche der Stadt. Das war der Gipfel der Perversion. 1936 war die Kathedrale schon Mal unter dem Stalinismus zerstört worden. Sie wurde in der freien Ukraine wiedererrichtet. Durch fünftägigen Beschuss wurden in Odessa insgesamt mehr als 100 Einrichtungen teilweise oder vollständig zerstört, Ferienressorts an der Küste, Wohnhäuser, Museen, Krankenhäuser.

Im Juni Sprengung des KachowkaStaudamms: 620 Quadratkilometer wurden überflutet, überschwemmt mit Öl, Giften, Minen.

Gestern kam die Meldung, dass bei einem Angriff auf den Donau-Hafen Ismajil 13.000 to Getreide vernichtet wurde, bei Angriffen auf Getreidesolos und -lager binnen eines Monats mehr als 200.000 to Getreide!

(Inzwischen ist fast ein Drittel des Landes vermint. Das entspricht der Fläche von Österreich und Ungarn zusammen. An der Frontlinie sind die Minenfelder so weitflächig und dicht wie selten in der Kriegsgeschichte. Wo ukrainische Kräfte Schneisen räumen können, werden mit Minenwerfern schnell neue Minen verlegt.)

Vor zwei Wochen war ich in Riga, der Hauptstadt Lettlands. Ich besuchte das Okkupationsmuseum, das anschaulich und eindringlich 50 Jahre Okkupation des Landes dokumentiert – erst sowjetisch, dann deutsch, dann sowjetisch.[2] (Gestern jährte sich zum 84. Mal der Hitler-Stalin-Pakt. In seinem geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten die beiden totalitären Diktaturen die Aufteilung ihrer territorialen Beute in Osteuropa. Der Pakt war ein Türöffner für Angriffe auf die europäischen Nachbarn und jahrzehntelange Okkupationen. Er wird in Moskau hoch gelobt.)

Vor dem Museum steht die Ausstellung „Hunger as a Weapon. Ukraine. 1932-1933. 2022“. Sie schlägt den Bogen vom Holodomor, die politisch verursachten Hungersnot mit vier Millionen Tote in der Ukraine, zu der Getreideblockade und -vernichtung heute.

In Riga traf ich den fast 98-jährigen Margers Vestermanis, den einzigen jüdischen Ghetto- und KZ-Überlebenden in Lettland, ehemaliger Partisan, Historiker. 1989 hatten wir ihn kennengelernt und wurden Freunde. Gestern telefonierte ich mit ihm und fragte, was ist Deine Botschaft für die Menschen heute vor dem Historischen Rathaus von Münster.

Seine Antwort:

„Wenn wir bloß nationale Interessen verteidigen, dann wird Russland weitere Aggressionen anzetteln! Es geht nicht allein um die Ukraine, das Baltikum, Moldawien. Es geht um Russlands Willen zurück zum Imperium! Wir sind alle gemeinsam Europäer gegen eine gemeinsame Bedrohung. Ganz Europa wird von Russland angegriffen!“

Das ist die Mahnung, der Weckruf eines Mannes, der von seinem 15. Lebensjahr an 50 Jahre Okkupation durchlebt und durchlitten hat, (beginnend mit der Ermordung seiner Eltern, seines Bruders und seiner Schwester 1941, wo für ihn bis 1945 die Rote Armee die einzige Hoffnung war.)

Es lebe die Ukraine! Und Deutschland muss alles dafür tun, dass die Ukraine überleben und leben kann!

[1][1] 25.02.22:  https://domainhafen.org/2022/02/25/166/

24.08.22:  https://domainhafen.org/2022/08/25/meine-rede-zum-tag-der-unabhaengigkeit-der-ukraine-bei-grosser-kundgebung-von-ukrainerinnen-in-muenster/

24.02.2023:  https://domainhafen.org/2023/02/26/rede-bei-der-solidaritaetskundgebung-fuer-die-ukraine-am-1-jahrestag-des-russischen-grossangriffs/

[2] Bericht von meinen Besuchen im Lettische Okkupationsmuseum 2022 und 2023 auf https://domainhafen.org/2023/08/23/besuch-im-lettischen-okkupationsmuseum-lektionen-fuer-die-gegenwart/

Translate »